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Freiwillig arbeiten: Geschlechtergeschichten
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Sarah Probst

»Ein Herzensprojekt«: Eine Mitgründerin der Gassenküche erzählt

Die Punkszene und Jugendbewegung der 1980er-Jahre waren prägend für die heutige Ausgestaltung der Gassenarbeit. Viele niederschwellige Projekte für Armuts- und Suchtbetroffene wie Gassenküchen, Notschlafstellen oder Drogenberatungen wurden von Vertreter*innen sozialer Bewegungen und des Alternativmilieus initiiert, wie dieses Interview mit einer früheren Aktivistin verdeutlicht.

Zivilgesellschaftliches Engagement für Armutsbetroffene, Drogenabhängige oder andere marginalisierte gesellschaftliche Gruppen hat eine lange Geschichte. Ausserhalb offizieller sozialer Einrichtungen entstanden in der Schweiz auf private Initiative viele Einrichtungen, die sich den sogenannt »Randständigen« widmeten. Ohne Impulse aus der 80er-Jugendbewegung und dem Alternativmilieu ist Gassenarbeit, wie wir sie heute kennen, jedoch nicht denkbar. In den 1980er- und 1990er-Jahren erhielten viele soziale Institutionen im erwähnten Bereich eine neue Ausprägung und verschmolzen teils mit dem Alternativmilieu der Besetzer*innen und mit der Punkszene. Grenzen zwischen freiwilligem Engagement und politischem Aktivismus waren ebenso fliessend wie zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit. Sozialstaatliche Lücken wurden gefüllt, gleichzeitig hatte die Arbeit durch die selbstverwaltete Organisation einen transformativen Anspruch. Das lebensgeschichtliche Interview mit Anet,1 einer der Gründer*innen der Bieler Gassenküche, gibt Einblick in eine Institution und ihre Geschichte an der Schnittstelle von Punkszene, Freiwilligenarbeit und Professionalisierung der Sozialarbeit. Die Gassenküche in Biel existiert noch heute und wird nach wie vor in Selbstverwaltung organisiert.

Sarah Probst: Anet, in den frühen 1990er-Jahren hast du die Gassenküche in Biel mitbegründet und du bewegst dich seit deiner Jugend im alternativen Milieu. Willst du kurz erzählen, wie du aufgewachsen bist?

Anet: Ich bin 1967 in Biel geboren und in dieser Stadt aufgewachsen. Mein Elternhaus war konservativ und patriarchal geprägt, meine Erziehung sehr streng. Ich hatte wenig Freiraum, den ich selbst gestalten durfte, musste viel im Haushalt helfen und körperliche Bestrafungen waren relativ normal. Materiell hat es mir an nichts gefehlt, echte Zuneigung hingegen fehlte weitgehend und Selbstverwirklichung war kaum möglich. Als ich ungefähr 14 Jahre alt war, liessen sich meine Eltern scheiden. Nach der Schule schickten sie mich in ein Haushaltslehrjahr in Fribourg, in einer Klosterschule. Dort bin ich mehrmals weggelaufen, wurde aber immer wieder zurückgebracht. Als mich die Schwestern zusammen mit einem Jungen erwischten, wurde ich endlich entlassen. Nach dem Rauswurf aus der Klosterschule und der Scheidung der Eltern musste ich zu meiner Mutter ziehen. Da ich nach meinem Ermessen nicht häufig genug raus durfte, bin ich nachts oft durch das Fenster weg. Nachdem meine Mutter mich eines morgens beim Heimkehren erwischt hat, bin ich von zuhause weggelaufen. Da war ich siebzehn Jahre alt. Nach einer abenteuerlichen Reise durch Italien, die zwei Monate dauerte, hat mich die Polizei auf dem Weg zurück in die Schweiz im Tessin aufgegriffen. Ein Jahr zuvor wurde ich wegen eines kleineren Diebstahls angezeigt und hätte vor dem Jugendgericht erscheinen müssen, was ich natürlich in Italien nicht mitgekriegt habe.

S.P.: Was waren die Konsequenzen?

A.: Ich wollte nicht zu meiner Mutter zurück und das Bieler Jugendgericht platzierte mich im Foyer Viadukt, einem städtischen Pilotprojekt. Das Foyer Viadukt war ein offenes Foyer für Jugendliche, eine Art betreutes Wohnen. Bedingung war, dass die Jugendlichen eine Ausbildung absolvierten. Alle hatten eine Betreuungsperson und es gab einige wenige Regeln, aber sonst waren wir sehr frei und konnten ein und aus, wie wir wollten. Ich war im Wirtschaftsgymnasium, das mich dank einer guten Prüfung kurzfristig aufgenommen hatte.

Abb. 1: Cover des Fanzines »Panik Bourgeoise«, Nr. 0, Januar 1993.

Mein Vater hat stets meine Zukunft geplant. Er wollte, dass ich Sekretärin werde und mein zukünftiger Mann seinen Laden übernehme. Deshalb hat er mich für alle möglichen Prüfungen angemeldet. In dieser Zeit kam ich mit der Punkszene in Berührung. Wir waren in einem experimentierfreudigen Alter. Wir liessen die Ausbildungen »schleifen« und nach ungefähr einem Jahr musste das Foyer die Pilotphase abbrechen. Nach der Schliessung sollte ich nach Basel in die Beobachtungsstation, eine Institution zur Abklärung weiblicher Jugendlicher,2 aber meine damalige Klassenlehrerin hat sich für mich eingesetzt.

S.P.: Du warst also mit 17 Jahren bereits Teil der Punkszene. Was waren die Beweggründe und wie lässt sich diese Szene beschreiben?

A.: Meine Eltern haben mir in meiner Jugend kaum Mitbestimmung zugestanden oder Rechte erteilt. Punk war ideal, weil er für mich »Revolution« bedeutete. Ich glaube, in erster Linie führte ich eine »Revolution« gegen mein Elternhaus. Mitte der 1980er-Jahre hingen wir oft auf der Kirchentreppe in der Altstadt rum und haben »gemischelt«.3 In Biel existierte bereits seit den 1970er-Jahren das Autonome Jugendzentrum Chessu, am Wochenende besuchten wir dort Konzerte. Nebenan, in der Villa Fantasie, war jeweils samstags die Sonderbar. Dort haben wir für ein kleines Entgelt oft am Tresen oder Eingang ausgeholfen. Einige Jahre später, Anfang der 1990er-Jahre, begann ich selbst im Chessu Konzerte und Festivals zu organisieren, natürlich immer DIY und non-profit.4 In dieser Zeit entstand auch unsere Band Viktors Hofnarren, mit der wir getourt haben und so andere Punkbands kennenlernten. Durch die Tourneen und das Organisieren der Konzerte in Biel haben wir innerhalb der Punkszene unglaublich viele Bekanntschaften gemacht. Daraus ist eine weltweite Vernetzung entstanden.

S.P.: Wie hast du in dieser Zeit gewohnt?

A.: Ich habe jahrelang in besetzten Häusern gewohnt und später in der Schrottbar, einem Wagenplatz in Biel, wo ich bis heute lebe. Bereits nach dem Foyer Viadukt zog ich in ein besetztes Haus an der Neumarktstrasse in Biel, mein damaliger Freund wohnte bereits dort. Das war meine erste Beziehung und eine unschöne Erfahrung: Er wurde mit der Zeit gewalttätig, ich bin mehrmals geflohen, bis ich schliesslich von ihm loskam. Ich zog zu meiner Band an die Bahnhofstrasse, einem besetzten Haus im Bielerhof. Nach der Räumung der Bahnhofstrasse zog die eine Hälfte der Gruppe in Bauwagen in die Schrottbar, die andere Hälfte besetzte weiter Häuser. Als erstes haben wir die Swatch-Villa besetzt, direkt neben der Swatch-Fabrik. Wir haben beinahe einen Skandal ausgelöst, weil anscheinend der Prototyp des Swatch-Mobils, einem von Nicolas Hayek entworfenen kleinen Auto mit Hybridantrieb, in der Garage versteckt war. Am ersten Morgen kam ein riesiges Polizeiaufgebot. Sie haben uns nicht geräumt, sondern sie sind in die Garage, haben alles verhüllt, ein Lastwagen fuhr an und sie haben den Prototyp eingeladen. Wir wurden natürlich trotzdem bald geräumt und wegen Hausfriedensbruchs angezeigt.

S.P.: Was waren politische Themen, die im alternativen Milieu Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre präsent waren?

A.: Wir waren durchaus politisch, aber ich würde mein Umfeld in dieser Zeit eher als alltagspolitisch bezeichnen. Ich wollte im täglichen Leben kämpfen. Tierrechte und Ernährung waren zentrale Themen. Anfang der 1990er-Jahre wurde unsere ganze Gruppe, mit der ich Häuser besetzte, vegan. Das war in dieser Zeit sehr abgefahren, wir galten als Spinner*innen, auch in unserem eigenen Umfeld. Mit meinem zweiten Partner Stef zusammen habe ich weiter einen kleinen Vertrieb mit Fanzines, Kassetten, LPs und EPs gegründet. An Konzerten waren wir mit zwei Koffern präsent und verkauften unser Material zum Einkaufspreis.

Abb. 2: Ausschnitt aus dem Fanzine »Panik Bourgeoise«, Nr. 0, Januar 1993.

Wir haben selbst ein Fanzine herausgegeben, es hiess Panik Bourgeoise und war zweisprachig. Die erste Nummer erschien 1993, das Leitthema war Vegetarismus und wir riefen unter anderem zum Boykott von McDonalds auf. Auch das Pogrom von Mannheim kam zur Sprache. Rechtsextreme haben 1992 über Tage eine Asylunterkunft attackiert. Wir haben davon gehört, als wir in Hamburg waren, und uns in einem lokalen Infoladen erkundigt. Neben politischen Themen haben wir in Panik Bourgeoise Bands interviewt und porträtiert, Flyer mit Konzerthinweisen abgedruckt und so weiter.

S.P.: Die Gründung der Gassenküche in Biel fällt auch in diese Zeit. Wie kam es dazu?

A.: Vor der Gassenküche habe ich gejobbt, auf dem Bau, als Hilfsmalerin, da und dort. Ein Bekannter von mir arbeitete in der Arbeitsintegration Work-In des Vereins Drop-In, der in der Stadt Biel für die Drogenarbeit zuständig war. Er hat mich angefragt, ob ich im Work-In mitarbeiten wollte. Neben der handwerklichen Arbeit sorgte ich dafür, dass die Klient*innen arbeiteten und nicht nur konsumierten. Das war meine erste Erfahrung im sozialen Bereich. Der Verein Drop-In führte auch einen Mittagstisch, der infolge städtischer Sparmassnahmen geschlossen wurde. Zwei Freundinnen, die dort arbeiteten, fanden, in Biel brauche es eine Gassenküche.5 Sie haben mich gefragt, ob ich mithelfe, einen Verein zu gründen. So entstand der Verein Gassenküche, das war im Jahr 1990. Anschliessend haben wir ein Haus gesucht und wurden neben dem Feldschlösschen-Areal fündig. Der Besitzer hat uns das Haus kostenlos zur Verfügung gestellt mit der Auflage, dass wir gehen müssten, sobald er es verkauft. Wenig später entstand am selben Ort der Wagenplatz Schrottbar.

S.P.: Wie war die Arbeit in der Gassenküche anfänglich organisiert?

A.: Wir haben mit Nichts angefangen, mit einem Kochherd aus der Brockenstube, gesammelten Tellern und Kochtöpfen. Das Haus haben wir selbst renoviert. Anfangs haben wir vielleicht für zehn bis fünfzehn Personen gekocht, nur abends. Die Schrottbar entstand auf dem Gelände der Gassenküche und wir, die Schrottbar-Bewohner*innen, waren alle sehr in dieses Projekt involviert. Viele Leute, die in den 1990er-Jahren in der Gassenküche arbeiteten, kamen aus der Punkszene und deren Umfeld. Anfangs habe ich noch nicht in der Schrottbar gewohnt, aber dort regelmässig Konzerte organisiert, in der Gassenküche gearbeitet, war fast jeden Tag dort – mehr als zuhause, in unserem Squat. Zunächst war die ganze Arbeit unbezahlt, wir besassen keinen einzigen Rappen, konnten uns keinen Lohn bezahlen. Eine Idee war, über die Organisation von Punkkonzerten in der Schrottbar für die Gassenküche Geld einzunehmen, diese Veranstaltungen haben sich jedoch meist selbst knapp getragen. Wir hielten uns aber über Wasser. Zunächst konnten wir nur knapp Geld für das Essen aufbringen, zum Teil über Spenden von Privaten.

Abb. 3: Foto des Wagenplatzes Schrottbar in Biel, um 1999.

Mit den Jahren kam eine Spendenkartei zustande. Anfangs haben wir in Telefonbüchern nach Adressen gesucht, diese von Hand auf Couverts geschrieben und Bettelbriefe verschickt. Irgendwann, vielleicht nach einem Jahr, konnten wir die Tageseinnahmen aufteilen. 20 Franken durch zwei, das ergab zehn pro Person. Wir waren basisdemokratisch organisiert und hatten wöchentliche Sitzungen. Bis heute ist die Gassenküche in Biel selbstverwaltet.

S.P.: Existierten bereits andere soziale Projekte, die sich in Biel um Armutsbetroffene oder Drogenabhängige kümmerten? Und wie hat sich die Gassenküche weiterentwickelt?

A.: Der Sleeper, also die Notschlafstelle, existierte bereits seit 1981, entstand ebenfalls aus der alternativen Szene und wurde kollektiv geführt. Daneben gab es das Drop-In. Leute aus dem Sleeper-Umfeld und kirchliche Sozialarbeiter*innen planten gemeinsam eine Tagesstruktur, Obdachlose sollten im Winter im Warmen sein können. So ist der Verein VAGOS entstanden, ebenfalls in den frühen 1990er-Jahren. VAGOS war ein Obdachlosentreff, der von mittags bis abends um 20 oder 21 Uhr geöffnet war, natürlich nur im Winter. Das Projekt wurde rasch finanziell unterstützt, grösstenteils von der Kirche. In der zweiten Saison begann ich im VAGOS zu arbeiten. Der Treff war ebenfalls in einem Abrissprojekt angesiedelt, in einem verlotterten Haus. Kurz vor dem Abriss mussten wir eine neue Lokalität suchen und fanden eine alte Maschinenfabrik am Oberen Quai 52 in Biel. Auch hier gab es renovationstechnisch sehr viel zu tun und wir haben den grössten Teil der Arbeit freiwillig geleistet. In derselben Zeit kam es im Gebäude der Gassenküche zu einem Wasserrohrbruch und wir hatten nicht ausreichend Geld für die Reparatur. Der Verein VAGOS schlug vor, die neu gefundene Lokalität gemeinsam zu mieten. Das machte Sinn, da die Gassenküche das ganze Jahr geöffnet war und der Obdachlosentreff nur im Winter. Der Verein VAGOS hatte Geld und der Verein Gassenküche nicht. Wir sind also zusammengezogen, was nicht konfliktfrei verlief. Ich war in beiden Vereinen. Wenn ich für VAGOS arbeitete, war ich bezahlt. In der Gassenküche gab es hingegen kaum Lohn. Mit den Jahren versuchten wir, diese Situation zu verbessern. 2013 sind die beiden Vereine zum Verein Gassenküche VAGOS fusioniert und ab diesem Zeitpunkt erhielten alle den gleichen Lohn.

Abb. 4: Innenansicht der Gassenküche Biel, um 2000.

S.P.: Wie wurde das Angebot der Gassenküche genutzt?

A.: Am ersten Standort an der Johann-Äberli-Strasse besuchten uns, wenn es hochkam, vielleicht 20 Personen täglich. Später wurden es mehr. Einige wollten eine Suppe und blieben den ganzen Tag, andere kamen nur zum Essen. Am Anfang haben wir ausschliesslich am Abend gekocht, der Mittag kam später dazu. Mittags hat zunächst eine Person für vielleicht 20 Besucher*innen gekocht. Am Abend waren es rund 30 Personen und wir haben zu zweit gearbeitet. Später lief oft mehr am Mittag als am Abend, und die Klientel hat sich verändert. Waren es in der Anfangszeit vor allem Obdachlose, Alkoholiker*innen und Drogenabhängige, mehrheitlich Männer, kamen am Mittag zunehmend auch working poor oder Alleinerziehende, also Menschen ohne grosses Budget.

S.P.: Wie habt ihr über das Engagement für die Gassenküche gesprochen? Und wurde das Einfordern von öffentlichen Subventionen oder die Unterstützung durch die Kirche kontrovers diskutiert?

A.: Über unser Engagement haben wir nicht gross geredet. Wir fanden, es braucht eine Gassenküche in Biel, wir gründen eine. Punkt. Es war ein Herzensprojekt, ein soziales Projekt. Wir wollten nicht, dass die Gassenküche ein politisches Projekt wird. Und betreffend Subventionen fanden wir von Anfang an, die Stadt Biel sollte uns finanziell unterstützen. Hätte die Stadt ein ähnliches Projekt auf die Beine stellen müssen, wäre der finanzielle Aufwand um einiges grösser gewesen. Unser Ziel war, billiges Essen anzubieten, da fragst du nicht zehnmal, wo das Geld herkommt. Was ich persönlich von der Institution Kirche halte, ist hier nicht gefragt. Sie verfügt über genügend Kapazitäten, um Menschen in Not zu helfen, also soll sie dies auch tun. Ende der 1990er-Jahre, als der FDP-Politiker Hubert Klopfenstein Fürsorgedirektor der Stadt Biel war, erhielt die Gassenküche endlich eine Quersubvention über den Verein VAGOS, die zumindest die Mietkosten der Gassenküche deckte. Wenn du täglich in einem Projekt involviert bist, musst du auch von etwas leben können. Auch als der Lohn anstieg, war die Lage der Angestellten der Gassenküche noch relativ prekär. Wir hatten kein Krankentaggeld und als ich drei Monate wegen einer Krankheit ausfiel, kriegte ich nichts. Ich musste auf das Sozialamt, damit ich über die Runden kam. Ich weiss also, dass die Geschichten über das Sozialamt, die viele Besucher*innen der Gassenküche erzählen, nicht erfunden sind. Du wirst teils wirklich unglaublich schlecht behandelt und gedemütigt.

S.P.: Mit den Erfahrungen, die für die Arbeit in der Gassenküche wichtig waren, warst du aus deiner eigenen Geschichte heraus vertraut?

A.: Ja, ich habe auch Zeiten erlebt mit kaum oder keinem Geld in der Tasche. Ich lernte, Sachen selbst zu bauen, zu nähen und recyceln. Zeitweise habe ich quasi auf der Strasse gelebt. In meinem Umfeld hatten viele Leute Probleme, mehrheitlich Männer – die Szene war sowieso relativ männerdominiert. Viele der Probleme waren und sind drogen- oder alkoholbedingt, primär durch Alkohol. Bereits in den frühen 1980er-Jahren, als ich die ersten Punks kennenlernte, waren viele Drogen im Umlauf, besonders Heroin. Ich hatte einige drogenabhängige Freund*innen, die sehr früh gestorben sind. Das ist sicher auch ein Grund, weshalb ich selbst mit Drogen immer vorsichtig war. In meinen jungen »Punkerjahren« war Bier unser tägliches Wasser, aber ich konnte immer problemlos einige Wochen auf Alkohol verzichten. Es gab Zeiten, da war ich gegen jegliche Arten von Drogen.

S.P.: Gab es in der Gassenküche oder szenenintern Debatten über Selbstausbeutung?

A.: In der Gassenküche gab es kaum Wertschätzung, ausser vielleicht ab und zu ein Kompliment eines Klienten oder einer Klientin. In einem selbstverwalteten Team ohne Chef wird viel schneller Kritik geäussert, als dass die Stärken der anderen gelobt werden. Auch der Lohn entsprach nicht dem regulären Verdienst. Wir investierten viel Zeit, mussten aber selbst jeden Rappen drehen, weil wir so wenig verdienten. Einige von uns haben einen Burnout erlebt. Ich war die zweite. Eine Kollegin hatte vor mir einen Burnout, deshalb habe ich die Zeichen früh erkannt. Mein Hausarzt hat mich aus dem Verkehr gezogen. Wenn du als verantwortungsbewusste Person in einem Team arbeitest ohne Chef, lädst du dir manchmal zu viel auf, ohne es zu merken.

Abb. 5: Anet bei der Büroarbeit in der Gassenküche Biel, um 2005.

S.P.: Wie gestaltete sich der Umgang mit dieser Belastung?

A.: Ein Freund von mir absolvierte eine Ausbildung zum Coach/Supervisor. Er hat mir angeboten, mich umsonst zum Thema Abgrenzung zu coachen. Ich habe viele Tricks und Tipps gelernt, um meine Zeit besser einzuteilen, Stress abzubauen oder Aufgaben abgeben zu können und nicht immer alles selbst erledigen zu wollen. Ich habe zum Beispiel gelernt, dass das Organisieren eines Konzerts oder Festivals nicht in die Sparte »arbeitsfreier Tag« fällt. Obwohl Konzerte immer eine Leidenschaft waren, bedeutete es für mich viel Arbeit: mit den Bands korrespondieren, Flyer machen, auflegen und plakatieren, Helfer*innen organisieren, den Konzertraum einrichten, die Technik vorbereiten, Schlafplätze bereit stellen, Kochen, die Bands betreuen, am Schluss alles wieder putzen...

Und am Feierabend hatte ich wirklich Feierabend.

S.P.: Wie lange hast du in der Gassenküche gearbeitet?

A.: Nach 25 Jahren wollte ich einerseits etwas anderes machen, andererseits auch nicht immer schauen müssen, wie ich meine Rechnungen bezahlen kann. Seit 2016 bin ich im Vorstand des Vereins und nicht mehr aktiv in der Gassenküche tätig. Freund*innen von mir, die in Bern in der Anlaufstelle CONTACT im Spritzentausch arbeiteten, gaben mir den Tipp, mich dort zu bewerben. 2009, ein Jahr nach meiner Blindbewerbung, konnte ich beginnen. Plötzlich waren meine finanziellen Sorgen weg. Und am Feierabend hatte ich wirklich Feierabend. Als ich einmal halbkrank zur Arbeit ging, haben mich die Kolleg*innen nach Hause geschickt. Als ich mein schlechtes Gewissen äusserte, hiess es, einen Ersatz zu suchen, sei nicht mein Problem. Ich sah nun gewisse Vorteile eines herkömmlichen hierarchischen Betriebs. Vor drei Jahren habe ich in die Anlaufstelle CONTACT Biel gewechselt, wo ich im Tagesteam arbeite. Seit 13 Jahren bin ich nun im Suchtbereich tätig. Als letzte Tat in der Gassenküche habe ich mitgeholfen, von der Stadt Biel eine zusätzliche Subvention zur Erhöhung der Personallöhne zu erkämpfen. Für andere Menschen Gelder einzufordern, fiel mir einfacher als für mich selbst. Deshalb habe ich mich vor dem Wechsel zum Spritzentausch für bessere Löhne eingesetzt, was erfolgreich war. Bis 2016 half ich sporadisch in der Gassenküche aus und habe die Lohnbuchhaltung weitergeführt.

Sarah Probst ist Doktorandin im Forschungsprojekt »Freiwilligkeit und Geschlecht: Neuverhandlung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung seit den 1970er-Jahren« am Interdisziplinären Institut für Ethik und Menschenrechte der Universität Fribourg.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Panik Bourgeoise, Nr. 0 (Januar 1993), Cover, Privatarchiv Sarah Probst.

Abb. 2: Panik Bourgeoise, Nr. 0 (Januar 1993), Ausschnitt, o. S., Privatarchiv Sarah Probst.

Abb. 3: Unbekannt, Foto des Wagenplatzes Schrottbar in Biel, um 1999, Privatarchiv Sarah Probst.

Abb. 4: Unbekannt, Innenansicht der Gassenküche Biel, um 2000, Privatarchiv Gassenküche Biel.

Abb. 5: Unbekannt, Anet bei der Büroarbeit in der Gassenküche Biel, um 2005, Privatarchiv Gassenküche Biel.

Literatur
  1. 1

    Die interviewte Person will nur bei ihrem Vornamen genannt werden.

  2. 2

    In der Beobachtungsstation FoyersBasel werden heute weibliche Jugendliche zwischen dreizehn und achtzehn Jahren mit »Abklärungsbedarf ihrer persönlichen, familiären und schulischen Situation« aufgenommen. In einem stationären pädagogisch-therapeutischen Rahmen werden sie begutachtet und begleitet. Eingewiesen werden die Jugendlichen durch einen zivil- oder strafrechtlichen Beschluss oder über eine Zuweisung einer anerkannten sozialen Fachstelle. Vgl. »Beobachtungsstation FoyersBasel«, http://www.foyersbasel.ch/w18/index.php/beobachtungsstation/kurzkonzept.

  3. 3

    Umgangssprachlich für tauschen, teilen, dealen, etc.

  4. 4

    Die DIY-Bewegung, kurz für do it yourself, hat ihren Ursprung in den 1950er-Jahren. Ab den ausgehenden 1970er-Jahren bezog sich die Punkszene auf diese Bewegung, nicht zuletzt in Abgrenzung zum No-Future-Slogan. Geprägt ist die DIY-Bewegung von Konzepten wie Selbstermächtigung, Autonomie, Selbstorganisation und insbesondere auch der Ablehnung herkömmlicher Autoritäten und Medien. Vgl. dazu: Teal Triggs, »Scissors and Glue: Punk Fanzines and the Creation of a DIY Aesthetic Get access Arrow«, in: Journal of Design History 19/1 (2006), S. 69–83.

  5. 5

    Gassenküchen haben eine längere Geschichte und waren als Suppenküchen oder Volksküchen im frühen 20. Jahrhundert verbreitet. Im Zusammenhang mit der Drogenthematik erlebten sie seit den 1970er-Jahren eine Renaissance. Die Geschichte der Gassenküchen in der Schweiz ist noch kaum historisch aufgearbeitet. Ansatzpunkte finden sich hier: Peter-Paul Bänziger, Michael Herzig, Christian Koller, Jean-Félix Savary, Frank Zobel: Die Schweiz auf Drogen: Szenen, Politik und Suchthilfe 1965‒2022, Zürich: Chronos (2022). Daneben existieren vereinzelt Jubiläumsschriften einzelner Institutionen, z.B.: Gassenküche St. Gallen (Hg.): Brot und Socken: 20 Jahre Gassenküche St. Gallen, Herisau: Appenzeller Verlag (2007).