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Freiwillig arbeiten: Geschlechtergeschichten
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Nicola Caduff

Freiwilligenarbeit bis in intime Details

AIDS wurde in den frühen 1980er-Jahren als Problem von Randgruppen angesehen. Besonders schwule Männer standen im Visier. Doch diese wehrten sich. Durch Aktivismus und Freiwilligenarbeit wurden schwule Subjektivität und Sexualität neu erfunden.

Anfangs der 1980er-Jahre häuften sich Berichte über eine rätselhafte Krankheit aus den USA, die vielfach tödlich verlief. Das US-amerikanische Center for Disease Control meldete im Juni 1981 mehrere Fälle einer seltenen Lungenkrankheit (pneumocystis carinii) und zwei Monate später über 100 Fälle von Männern, die am Kaposi-Sarkom (einer seltenen Krebserkrankung, die das Immunsystem erheblich schwächt) erkrankten. Noch war über diese Krankheit(en) nicht viel bekannt. Doch den betroffenen Männern war eines gemeinsam: Sie hatten Sex mit anderen Männern. Die Expert*innen gaben dem Phänomen anfangs verschiedene Namen, darunter Acquired Immunodeficiency Disease (AID) und Gay-Related Immunodeficiency (GRID).1 Die Legende einer Schwulenkrankheit war geboren.

Es dauerte nicht lange, bis auch im deutschsprachigen Raum und in der Schweiz über die Krankheit aus den USA gesprochen wurde. Im August 1982 berichtete der Tagesanzeiger von einer rätselhaften Homosexuellenkrankheit und sinnierte darüber, ob ein bestimmter schwuler Lebensstil Ursache für die Krankheit sei, zum Beispiel der Konsum der luststeigernden Droge Poppers.2 Im Artikel werden Expertenstimmen zitiert, die die neue Krankheit auf ein durch Rauschmittelkonsum geschwächtes Immunsystem zurückführen. Der Spiegel schreibt im Juni 1983 von einer Homosexuellen-Seuche und fragt im Lead des Artikels, ob auch Heterosexuelle, Frauen und Kinder gefährdet seien.3 Doch es waren nicht nur Medienartikel, die die Legende einer Schwulenkrankheit kreierten. Im Herbst 1982 gingen beim Schweizer Bundesamt für Gesundheitswesen (heute Bundesamt für Gesundheit) erste Meldungen ähnlicher Krankheitsbilder wie in den Berichten aus den USA ein. Daraufhin wurde eine Expert*innenkommission eingesetzt, die noch 1983 im BAG-Bulletin befand, dass AIDS und HIV keine Gefahr für die Mehrheitsbevölkerung darstellen.4 Es sei vorwiegend ein Problem von Männern, die Sex mit Männern haben, und von Menschen, die sich Drogen intravenös spritzen. Damit wurde das neue Virus auch von offizieller Seite als Schwulen-Seuche oder als Krankheit von »Randständigen« gebrandmarkt.

»The perfect virus came along to prove you right«

Zu Beginn wusste man kaum etwas über AIDS. Die Übertragung des damals noch HTLV-III genannten Virus geschah unter anderem durch Geschlechtsverkehr, doch über die Infizierung selbst war nichts bekannt. Ob man sich beim Küssen anstecken konnte, war noch nicht erforscht. Eventuell könnten Kondome schützen, wurde gemutmasst. Wie verunsichernd ein neues Virus sein kann und welche Ängste und Reaktionen es auslöst, haben wir unlängst beim Corona-Virus miterlebt. Doch die Ausgangslage hätte anfangs der 1980er-Jahre unterschiedlicher nicht sein können. COVID-19 wurde sehr schnell als gesamtgesellschaftliches Problem anerkannt. Entsprechend beschlossen Politik und Behörden eingreifende Massnahmen wie Lockdowns, zudem wurde viel in die Forschung investiert. HIV und AIDS hingegen galten zuerst als Probleme von »Randgruppen« (z.B. Homosexuelle, Drogennutzer*innen, Haitianer*innen, Bluter*innen). Bis heute hallt dieses Stigma nach. Insbesondere galt AIDS als eine Krankheit von Männern, die Sex mit Männern haben. Damit war die Schwulen-Community nicht nur mit einer bisher unbekannten, tödlichen Krankheit konfrontiert, sie musste sich auch gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung und Isolation wehren.

Abb. 1: Plakat des Zabriskie Point (1971), ein wichtiger Treffpunkt der zweiten Schwulenbewegung.

Homosexualität und schwules Leben waren auch vor HIV und AIDS (und sind es bis heute) einer gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt. Zum Zeitpunkt als das Virus in die westliche Welt und Wahrnehmung trat, waren Lesben und Schwule in Westeuropa und Nordamerika gerade dabei, in die Öffentlichkeit zu treten und für ihre Anliegen eine breitere Resonanz zu finden. Der Wind drohte nun wieder zu drehen. Die gesellschaftliche Homophobie fand mit HIV/AIDS quasi einen materialisierten Beleg für ihre Vorurteile und Verurteilungen. Schwulenfeindlichkeit erhielt neuen Auftrieb. Die britische TV-Serie It’s a sin, die 2021 auf Channel 4 ausgestrahlt wurde, versucht die Situation und Stimmung von damals einzufangen. Die fiktive Serie gibt eine Innensicht der Londoner Schwulenszene anfangs der 1980er-Jahre und thematisiert, wie das Virus eine pulsierende Szene traf. Am Ende der Serie fasst Jill (eine Protagonistin) zusammen, was ein tödliches Virus kombiniert mit gesellschaftlicher Homophobie bei Betroffenen auslöste: »The wards are full of men dying who think they deserve it. They are dying and a little bit of them thinks ›Yes, this is right. I brought this on myself. It’s my fault because the sex that I love is killing me.‹ I mean it’s astonishing. The perfect virus came along to prove you right.«5 Vermeintlich besiegte Scham- und Schuldgefühle bedrohten das neu errungene Selbstbewusstsein und die erkämpften Freiheiten.

Schwule Sexualität und schwules Leben waren neben den gesellschaftlich-sozialen auch politischen Angriffen ausgesetzt. Forderungen nach Repression und Exklusion der Erkrankten, ja allgemein von Risikogruppen, wurden lauter. So löste eine Interpellation des Nationalrats Paul Günter im November 1984, die eine Registrierung der AIDS-Erkrankten forderte, Erinnerungen an die polizeilichen Schwulenregister aus.6 In Deutschland diskutierte die bayrische CSU noch 1987 offen über Zwangstests, der spätere Bundesminister Horst Seehofer soll laut Spiegel sogar über spezielle Heime für Infizierte nachgedacht haben.7 Die gesellschaftliche und politische Antwort auf AIDS/HIV, wie wir sie heute kennen, mit ihrem Fokus auf Prävention und Aufklärung, war damals alles andere als selbstverständlich.

Abb. 2: AIDS-Demo im Dezember 1988 in der Bahnhofstrasse Zürich.

Eine politische Community mit Kampferfahrung

Die neue Feindseligkeit und die pauschalen Verdächtigungen von Homosexuellen trafen auch in der Schweiz auf eine lebendige, sich seit den 1970er-Jahren politisch organisierende Homosexuellenbewegung. In verschiedenen Städten (Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen, Zürich) entstanden sogenannte Homosexuelle Arbeitsgruppen.8 Anfangs gehörten neben schwulen Männern auch lesbische Frauen den Gruppen an. Sie waren aber stets unterrepräsentiert, gründeten später ihre eigenen Organisationen und suchten die Nähe zur Neuen Frauenbewegung. Mitte der 1970er-Jahre vernetzten sich die lokalen Gruppen auf nationaler Ebene im Dachverband HACH (Homosexuelle Arbeitsgruppen Schweiz). Verschiedene Aktivitäten wie eine Mitgliederzeitschrift oder politische Aktionen wurden nun schweizweit koordiniert.9

Die neuen Gruppen sind im Kontext der sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre beziehungsweise der Neuen Linken zu verorten. Sie grenzten sich organisatorisch und politisch von den früheren homophilen Organisationen ab, die als ein indirektes Erbe der ersten Homophilen-Bewegung (damals wurde der Begriff «homophil» verwendet) in der Schweiz bereits länger bestanden. Programmatisch titelte die erste Ausgabe des HAZinfo (Zeitschrift der Zürcher HA-Gruppe): »Lila ist die Farbe des Regenbogens, Schwestern die Farbe der Befreiung ist rot«.10 Als Schwestern sprachen sich viele Männer in der schwulen Subkultur gegenseitig an, rot wiederum stand für die sozialistische Orientierung, die viele Aktivist*innen damals teilten.

Die politische Ausrichtung war innerhalb der Gruppen nicht unumstritten. Es bestand jedoch Einigkeit, dass gesellschaftliche Normen für die diskriminierende Lage verantwortlich sind. Die Aktivist*innen sprachen von Zwangsheterosexualität – heute würden wir wohl eher den Begriff Heteronormativität verwenden. Der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt des deutschen Regisseurs Rosa von Praunheim hatte in der Schwulenszene Kultstatus und brachte das neue aktivistische Selbstbewusstsein programmatisch zum Ausdruck.

Abb. 3: Transparent an der AIDS-Demo im Dezember 1988 in Zürich.

In verschiedenen Schweizer Städten entstanden neue politische Treffpunkte und Lokale. Das bekannteste war der Zabriskie Point in Zürich, der aus studentischen Kreisen anfangs der 1970er-Jahre noch vor den Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich (HAZ) hervorging. Das Adjektiv »politisch« war weit gefasst. Es diente vor allem der Abgrenzung zu anderen, kommerziell ausgerichteten Schwulenlokalen, die von jungen Aktivist*innen oftmals als »Ghetto« betitelt wurden. Deren Ziel war es hingegen, aus dem Ghetto auszubrechen. Dazu musste die gesellschaftlich dominierende Sexualitätsmoral verändert werden: Homosexualität sollte befreit und Zwangsheterosexualität überwunden werden.11 Neue Lebensentwürfe jenseits der monogamen Mann-Frau-Beziehung wurden diskutiert und gelebt. Der neue homosexuelle Aktivismus war lustvoll und politisch zugleich. Es herrschte Aufbruchsstimmung, auch wenn nach wie vor viele Alltagskämpfe für eine Daseinsberechtigung und gegen Diskriminierungen in der Familie, im Arbeitsleben oder bei der Wohnungssuche geführt werden mussten.

Ende der 1970er-Jahre war die Schwulen- und Lesbenbewegung in der Schweizer Öffentlichkeit unübersehbar. 1978 wurde das Thema Homosexualität in der populären Sendung Telearena des Schweizer Fernsehens diskutiert und so auch jenseits urbaner Subkulturen bekannt. Im selben Jahr fand der erste Christopher Street Day der Schweiz statt. Homosexuelle gingen erstmals auf die Strasse und demonstrierten für ihre Rechte. Auch politisch geriet einiges in Bewegung. 1979 wurde in Zürich etwa das Homosexuellenregister abgeschafft.12

Diese Aufbruchsstimmung wurde wenig später mit dem Aufkommen von HIV und AIDS abrupt unterbrochen. Der lustvolle Aktivismus machte einer besorgten Ungewissheit Platz. Partner*innen und Freund*innen erkrankten und starben, während die Öffentlichkeit ein urteilendes Auge auf die Schwulenszene richtete. Viele Schwule müssen die voreingenommene Medienberichterstattung und die Repressionsforderungen nach Testpflicht, Register oder Internierungen wie ein Rückfall in eine überwunden geglaubte Zeit vorgekommen sein. Die erkämpften Fortschritte der letzten Jahrzehnte schienen sich in Luft aufzulösen. Im Oktober 1983 erschien eine Sonderausgabe der HACH-Zeitschrift anderschume zum Thema AIDS.13 Im Editorial halten die Redakteur*innen fest, dass die Medien noch nie so oft über Schwule berichtet hatten wie im Sommer 1983. Es sei keine freundliche Aufmerksamkeit, die die Schwulen erhielten, noch sei es ein wirkliches Interesse an ihren Lebensumständen. Vielmehr würde ihr Leben und ihre Sexualität mit der neuen Krankheit assoziiert: »Nachdem nicht mehr behauptet werden kann, dass Schwulsein eine Krankheit ist, muss der Welt mitgeteilt werden, dass Schwulsein krank macht.«14

Doch etwas Wesentliches hatte sich in den 1960er- und 1970er-Jahren verändert. Mit den neuen, politisch organisierten HA-Gruppen erhielt die Schwulenszene eine neue selbstbewusste Stimme. Diese Stimme wurde in unzähligen Stunden freiwilliger Arbeit hörbar gemacht: Treffpunkte wurden geschaffen, politische und kulturelle Anlässe organisiert, Demonstrationen und politische Aktionen durchgeführt, Zeitschriften und Broschüren geschrieben und verteilt, mit Leserbriefen und Referaten wurde öffentlich informiert und Stellung bezogen, Netzwerke wurden geknüpft und gepflegt, Gesprächsgruppen fanden statt, und Menschen, die aufgrund ihrer Homosexualität auf Probleme stiessen, wurden beraten und unterstützt. Kurzum, die aktivistischen Gruppen waren im Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung erprobt. Die neue Homophobie sah sich folglich mit einem erfahrenen und gut organisierten Gegenspieler konfrontiert.

Doch AIDS und HIV bedeuteten nicht nur Diskriminierung und Ausschluss. Denn das Virus verbreitete sich innerhalb der Schwulenszene. Angst um die eigene Gesundheit und das eigene Leben verbreitete sich in Treffpunkten, Bars und Saunen. Niemand wusste so genau, was AIDS und HIV ist oder wie es übertragen wurde. Zuverlässige Tests gab es noch keine und eine Heilung oder eine erfolgreiche Therapie war nicht in Sicht. Den Aktivist*innen wurde zunehmend bewusst, dass sie neue Wege gehen mussten. Alte Prämissen standen zur Debatte, neues Wissen musste angeeignet werden.

Abb. 4: Flugblatt zum AIDS-Informationsabend der HAZ und der SOH, 1984.

Schwule Befreiungsversprechen auf der Kippe

In der Schwulenszene herrschte anfangs der 1980er-Jahre grosse Verunsicherung und Ungewissheit. Die HAZ und die Schweizerische Organisation der Homophilen (SHO) veranstalteten am 13. Oktober 1984 einen Informationsanlass für Männer, die Sex mit Männern hatten.15 Das Interesse war gross. Über 400 Personen folgten dem Aufruf, der in der Szene verbreitet wurde. Der Anlass musste sogar kurzfristig in den Grossen Hörsaal West des Universitätsspitals Zürich verlegt werden, da der ursprünglich vorgesehene Raum zu klein war. Der Anlass selbst war vor allem eine medizinische Informationsveranstaltung. Die Ratschläge und Empfehlungen beschränkten sich auf die Losung: weniger Sex beziehungsweise weniger Promiskuität. Dem standen die Träume der Schwulenbewegung nach freier schwuler Sexualität und Intimitäten jenseits der Zweierkiste gegenüber. Die Möglichkeit einer promiskuitiven Sexualität war gewissermassen eine Freiheit schwuler Männer, die viele ihrer heterosexuellen Zeitgenossen nicht offen leben konnten. Man könnte sie auch als ein Distinktionsmerkmal betrachten und somit als Teil einer schwulen Subjektwerdung.

Doch genau diese freie Sexualität, dieser Vorteil in einer sonst feindlich gesinnten Welt, stand nun zur Debatte. Schwule Sexualität musste neu erfunden werden. Ein HAZ-Aktivist schrieb dazu: »Wenn wir bisher stolz darauf waren, diese Promiskuität im Gegensatz zu den Heteros voll auszuleben, so müsste hier nun vielleicht ein psychologisch ungünstiges Klima geschaffen werden«.16 Dieses psychologisch ungünstige Klima dürfe aber kein Rückzug in die Anonymität sein, so der Aktivist weiter. Er schlug stattdessen geschützten Sex und Beziehungsgruppen vor. Weiter machte er sich Gedanken, ob die Zweierbeziehung in der schwulen Subkultur gefördert werden sollte. Dazu könnten eine HAZ-Beziehungsbörse, eine Kontaktwand im Begegnungszentrum, Feste für Personen, die eine Zweierbeziehung suchen oder eine schwule Partnervermittlung organisiert werden. AIDS wurde also auch als eine Krise der Promiskuität wahrgenommen, sie drängte schwule Sexualität und schwules Leben in kategorisierte und gefestigtere Intimitätsbeziehungen. ›Safer Sex‹ war zur Zeit der Veranstaltung noch nicht erfunden, da die Ansteckungswege noch nicht ausreichend erforscht waren.

1985, gut ein Jahr nach den oben erwähnten Reflexionen des HAZ-Aktivisten, wurde aus den Kreisen der Schwulenbewegung die AIDS-Hilfe Schweiz (AHS) gegründet. Diese nahm den Kampf gegen AIDS auch mittels öffentlicher Aufklärung auf. Ein prominenter und mutiger Beitrag war das Outing des populären Fernsehmoderators André Ratti als schwul und AIDS erkrankt an der Pressekonferenz zur Gründung der AIDS-Hilfe Schweiz.17 Dieses Outing fand auch im internationalen Vergleich sehr früh statt. Ratti outete sich noch vor dem Hollywood-Schauspieler Rock Hudson, der als erster US-amerikanischer Prominenter gilt, der öffentlich über seine AIDS-Erkrankung redete.

Abb. 5: AIDS-Infobroschüre der HAZ und der SOH, 1985.

Früh erhielt die AHS auch staatliche Unterstützung. Das Bundesamt für Gesundheit entschied sich gegen eine repressive und moralisierende AIDS-Politik und für den sogenannten New-Public-Health-Ansatz. Gesundheit, konkret der Kampf gegen HIV und AIDS, sollte zur öffentlichen Sache gemacht werden. AIDS sollte alle etwas angehen. Im Zuge dieser Responsabilisierung wurde der zivilgesellschaftlichen Aufklärung und Prävention eine neue Bedeutung zugemessen.18 Auch die Aktivist*innen der Schwulenbewegung wurden nun plötzlich zu wichtigen Ansprechpartner*innen des Staates. Über sie konnte eine wichtige Zielgruppe, schwule Männer, erreicht und angesprochen werden. Mit der 1985 lancierten Hot-Rubber-Kampagne wurde ›Safer-Sex‹ unter schwulen Männern propagiert. Das Kondom war vorher ein Mittel zur Empfängnisverhütung. Sex mit Gummi war unter schwulen Männern nicht verbreitet. Auch der ungeschützte Sex, ohne Angst vor Konsequenzen, war ein Vorteil, den schwule Männer gegenüber vielen heterosexuellen Menschen hatten. Abermals musste schwuler Sex und Intimität neu gedacht werden. Denn gewisse Sexualpraktiken konnten nun tödliche Konsequenzen haben. Plötzlich gab es, vermittelt durch Präventionskampagnen, neue Gebote und Verbote im schwulen Sex.

Im internationalen Vergleich entschied sich die offizielle Schweiz früh für einen präventiven Ansatz. In den USA und in der BRD überdauerten repressive Ansätze noch länger. Doch ohne die organisierte Schwulenbewegung wäre dieser Ansatz nicht möglich gewesen. Die Aktivist*innen sprachen die richtige Sprache, sie wussten, wo sich Männer zum Sex oder zum Austausch mit anderen Männern trafen. Sie hatten Kanäle und Mittel, um Schwule zu erreichen. Und sie erröteten nicht, wenn offen über Sexualität gesprochen wurde.

Zugriff des Staates auf Freiwilligenarbeit

Im Gegensatz zum Staat, der kurz zuvor noch Homosexuellenregister führte, und die Polizei zur Sittenwahrung an Homosexuellentreffpunkte schickte, genossen die Aktivist*innen in der Schwulen-Community mehr Vertrauen. Sie teilten deren Realitäten, Wünsche und Ängste. Dank der Freiwilligenarbeit der Schwulenbewegung hatten Aktivist*innen Wissen, Kanäle, Netzwerke und eine Sprache, mit denen sie die Risikogruppe der Männer, die Sex mit Männer hatten, erreichen konnten.

Von diesen Errungenschaften profitierte auch der Staat. Gerade das neue Wissen über Körper und Gesundheit, das mit den neuen sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre entstand, war für die staatliche Gesundheitspolitik zentral.19 Es war gewissermassen eine Bedingung für den New-Public-Health-Ansatz, der eine zivilgesellschaftliche Verantwortung für die individuelle und öffentliche Gesundheit voraussetzt.

Die Arbeit und die Position der Aktivist*innen hinterliessen ihre Spuren aber auch inhaltlich in den von ihnen initiierten parastaatlichen Organisationen. So war der Kampf gegen eine erneute Diskriminierung und gegen eine erneute Ghettoisierung schwulen Lebens von Anfang an ein wichtiges Ziel der AHS.20 Doch die Beziehung zwischen der AHS und den HACH-Aktivist*innen blieb nicht ohne Zwischentöne. 1987 entstand in der HAZ ein Positionspapier mit dem Titel »Der Mörder wird nicht ein Virus sein«.21 Darin sprachen sich Aktivist*innen für eine kritisch-solidarische Begleitung der AHS aus. Gleichzeitig war das Positionspapier aber auch eine Distanzierung von der AHS: AIDS sei kein reines Schwulenproblem und deren Bekämpfung darum auch nicht die Hauptaufgabe schwuler Aktivist*innen. Diese bestehe weiterhin im Kampf gegen die Diskriminierung Homosexueller, egal ob diese im Zusammenhang mit AIDS stehe oder nicht.

Auch wenn (schwule) Sexualität dank gross angelegter Kampagnen in breiteren Kreisen auf humorvolle und lustvolle Art diskutiert wurde, verschwand die Homophobie nicht. Was sich jedoch seit den Anfängen der homosexuellen Bewegungen verändert hat, sind die schwule Sexualität und homosexuellen Utopien. Die unverbindliche Promiskuität als Befreiungsutopie hatte in Zeiten, in denen Sex als gefährlich galt, einen schweren Stand. Staatliche Anerkennung, Gleichberechtigung mit heterosexuellen Paarbeziehungen und Diskriminierungsschutz rückten immer mehr in den Fokus schwuler Politiken. Es ist fraglich, ob die AIDS- und HIV-Krise der 1980er- und 1990er-Jahre der alleinige Auslöser dieser neuen politischen Prioritätensetzung war. Fest steht hingegen, dass das Virus zu einer Neugestaltung schwuler Intimität geführt hatte. Die neue Devise ›Safer Sex‹ veränderte die homosexuelle Lebenspraxis. Durch den New-Public-Health-Ansatz wurden homosexuelle Praktiken auch staatlich anerkannt und breiter thematisiert. Ausserdem machten die wieder erstarkte Homophobie und die Diskriminierung von HIV-Positiven den Schutz vor Diskriminierung zu einem dringenderen Anliegen.

Abb. 6: Plakat der Hot-Rubber-Kampagne der AIDS-Hilfe Schweiz aus dem Jahr 1986.

Inzwischen hat die AIDS-Forschung grosse Fortschritte gemacht. Die Ansteckungswege sind heute bekannt, Tests sind einfacher und zugänglicher geworden. Eine Infektion mit HIV kann therapiert werden und bedeutet kein sicheres Todesurteil mehr. HIV-Positive in erfolgreicher Therapie sind nicht ansteckend. Zudem verbreitete sich die Präexpositionsprophylaxe (PreP) als weitere Safer-Sex-Methode. In wohlhabenderen Staaten mit einem intakten Gesundheitssystem hat AIDS an Gefährlichkeit und Aufmerksamkeit verloren. Es wird sich zeigen, wie diese neuen Voraussetzungen schwule Sexualität und Subjektivität verändern werden.

Nicola Caduff studiert Empirische Kulturwissenschaften und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, Informationsblatt Club Zabriskie Point der HAZ (1971), Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, F 5007-Px-004.

Abb. 2: Gertrud Vogler, Aids-Demo Demonstrationszug in der Bahnhofstrasse Zürich mit Transparent «Aids- Gegen Zwangsmassnahmen für mehr Solidarität» (2.12.1988), Schweizerisches Sozialarchiv, F 5107-Na-17-172-045.

Abb. 3: Gertrud Vogler, Aids-Demo Demonstrationszug am Helvetiaplatz Zürich mit Transparent «Aids – Keine Frage der Moral» (2.12.1988), Schweizerisches Sozialarchiv, F 5107-Na-17-172-005.

Abb. 4: Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, Flugblatt AIDS Informationsabend im Universitätsspital Zürich (1984), Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, F 5007-Px-072.

Abb. 5: Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, Broschüre AIDS – Angst ist das Schlimmste (1985), Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, F 5007-Px-085.

Abb. 6: Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, Plakat Hot Rubber Kampagne (1986), Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, F 5007-Px-036.

Literatur
  1. 1

    Jonathan Engel: The Epidemic: A Global History of AIDS, New York: Smithsonian Books (2006), S. 5­6.

  2. 2

    Anonym: »Luststeigernde Poppers tödlich? Rätselhafte Homosexuellen-Krankheit auch in der Schweiz«, in: Tagesanzeiger (10. August 1982), Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.11.

  3. 3

    Anonym: »Aids: Eine Epidemie, die erst beginnt«, in: Der Spiegel (6. Juni 1983), S. 144, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.11.

  4. 4

    Yves Niederhäuser, Steven Derendinger: »Vom Schwulen-Krebs zu Love Life«, in: Aids-Hilfe Schweiz und Bundesamt für Gesundheit (Hg.): Ohne Dings kein Bums: 20 Jahre Aids-Arbeit in der Schweiz, Baden: hier und jetzt (2005), S. 154.

  5. 5

    Peter Hoar, It’s a Sin, Folge 5, Grossbritannien (2021).

  6. 6
  7. 7

    Kassian Stroh: »Als die CSU in den Krieg gegen Aids zog«, in: Süddeutsche Zeitung Online, https://www.sueddeutsche.de/bayern/massnahmenkatalog-gegen-hiv-als-die-csu-in-den-krieg-gegen-aids-zog-1.1292107 (1. Januar 2023).

  8. 8

    Die Zürcher Gruppe feierte dieses Jahr ihr fünfzigjähriges Bestehen und heisst heute HAZ – Queer Zürich.

  9. 9

    Ernst Ostertag: »Gründung der HAZ: Ein Verein mit Infoblatt«, https://schwulengeschichte.ch/epochen/6-aufbruch/ha-gruppen/haz-zuerich/gruendung-der-haz/ (Juli 2006).

  10. 10

    Titelblatt, in: HAZinfo (Juni 1972).

  11. 11

    Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar 36.75.

  12. 12

    Daniel Bruttin, Ernst Ostertag: »Zeittafel 1967–1989«, https://schwulengeschichte.ch/zeittafeln/1967-1989/ (September 2021).

  13. 13

    Homosexuelle Arbeitsgruppen Schweiz: Zeitschrift der HACH, Sonderausgabe »anderschume« (Oktober 1983), Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.75.5.

  14. 14

    Homosexuelle Arbeitsgruppen Schweiz: »anderschume«, in: Zeitschrift der HACH (Oktober 1983), S. 1, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.75.5.

  15. 15

    Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, Protokoll und Bericht über den AIDS-Infoabend der HAZ und der SOH, 13. Dezember 1984, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.75.5.

  16. 16

    Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, »Protokoll und Bericht über den AIDS-Infoabend der HAZ und der SOH«, 13. Dezember 1984, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.75.5.

  17. 17

    AIDS-Hilfe Schweiz, »Pressedokumentation zur Gründung der AIDS-Hilfe Schweiz«, 2. Juni 1985, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.75.22.

  18. 18

    Brigitte Ruckstuhl, Elisabeth Ryter: Von der Seuchenpolizei zu Public Health: Öffentliche Gesundheit in der Schweiz seit 1750, Zürich: Chronos (2017), S. 233–234.

  19. 19

    Peter-Paul Bänziger: »Transformation des Gesundheitswesens seit den 1960er Jahren: Die Beispiele der Aids- und Drogenthematik«, in: Christina Rothen, Lucien Criblez, Thomas Ruoss (Hg.): Staatlichkeit in der Schweiz: Regieren und Verwalten vor der neoliberalen Wende, Zürich: Chronos (2016), S. 196–198.

  20. 20

    AIDS-Hilfe Schweiz, »Pressedokumentation zur Gründung der AIDS-Hilfe Schweiz«, 2. Juni 1985, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.75.22.

  21. 21

    Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich, »Positionspapier für eine emanzipatorische Aids-Politik«, Januar und Februar 1987, Schweizerisches Sozialarchiv, Schwulenarchiv Schweiz, Ar. 36.75.22.