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Freiwillig arbeiten: Geschlechtergeschichten
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Ana Križanac

Hilfstätigkeit als politische Einmischung

Gertrud Kurz engagiert sich während des Zweiten Weltkriegs für unzählige Flüchtlinge. Sie tritt öffentlich auf, interveniert bei den Behörden und verlässt damit den tolerierten Bereich weiblicher Wohltätigkeit, ohne mit den herrschenden Rollenbildern zu brechen.

Mit hochgesteckten Haaren, den weit geschnittenen weissen Ärmeln und einer umgebundenen Schürze entspricht Gertrud Kurz ganz dem traditionellen Bild der Schweizer Hausfrau und Mutter. Doch der Telefonhörer in ihrer Hand deutet auf eine andere Seite dieser Frau hin, die sich während des Zweiten Weltkriegs zugunsten der Flüchtlinge in die Politik einmischte und an höchster Stelle intervenierte. Und das zu einer Zeit, als die Öffentlichkeit Flüchtlingen mehrheitlich mit Misstrauen und Feindseligkeit begegnete.

Wenn man sich im Archiv für Zeitgeschichte die zahlreichen Briefe, Dokumente und Anfragen anschaut, die Flüchtlinge, Vertreter*innen von Hilfswerken oder Behörden täglich an Gertrud Kurz geschickt haben, lässt sich die enorme Arbeit erahnen, die Gertrud Kurz und ihre Mitarbeiter*innen täglich geleistet haben. So kann man sich vorstellen, wie Gertrud Kurz im Büro, das sie während des Krieges im Gästezimmer ihres Hauses an der Sandrainstrasse in Bern errichtet hat, jeden Morgen die Post entgegennimmt, liest und beantwortet.1 In ihren Schreiben bitten geflüchtete Menschen um eine Unterkunft oder Kleider, andere berichten über abgelehnte Asylanträge, von fehlenden Reisepapieren oder über die schlimmen Bedingungen in den schweizerischen Arbeitslagern für Flüchtlinge. Es gilt, Weiterreisen vorzubereiten, neue Asylländer zu finden, Anträge an die Behörden zu schreiben oder persönlich bei ihnen vorzusprechen. Dazwischen findet Kurz Zeit für Sprechstunden und Konferenzen, für die Vorbereitung von Vorträgen und das Zusammenstellen des Informationsbulletins Mitteilungsblatt der Kreuzritter, das alle drei Monate unter ihrer Leitung erscheint.2 Die Liste der Aufgaben ist lang und der Tag zu kurz, um auch nur ansatzweise die ganze Arbeit erledigen zu können. Und doch steckt hinter jedem Brief ein Mensch in Not, der dringend auf die Hilfe Freiwilliger angewiesen ist. So stehen Gertrud Kurz und ihre Mitarbeiter*innen jeden Morgen auf, um dort weiterzumachen, wo sie am Vorabend aufgehört haben.

Die geschilderte Szene erinnert an den regen Betrieb in einem Büro, wo Aussenkontakte, kommunikative Vernetzung und Geschäftigkeit gefragt sind. Das zeitgenössische Geschlechterbild der Hausfrau, welche sich hauptsächlich in der privaten Sphäre, in ihrem eigenen Heim bewegt und für dieses verantwortlich ist, passt nicht recht dazu. Laut der bürgerlichen Geschlechterideologie kommen die angeblich natürlichen Eigenschaften der Frau, wie Emotionalität, Geborgenheit und Wärme, am besten in pflegerischen und erzieherischen Aufgaben im häuslichen Bereich zur Geltung. Mütterlichkeit bezieht sich demnach nicht nur auf die leibliche Mutterschaft, sondern gilt als natürlicher Wesenszug aller Frauen.3 Diese geschlechtsspezifische Zuschreibung von Charaktereigenschaften schränkt die Handlungsmöglichkeiten der Frauen in der Öffentlichkeit ein. Wie können aber Frauen wie Gertrud Kurz, die soziale Freiwilligenarbeit leisten, in der Öffentlichkeit agieren und weiterhin der bürgerlichen Weiblichkeitsnorm entsprechen?4 Kann sich das scheinbar Unvereinbare – Mütterlichkeit und politische Tätigkeit – in der sozialen Freiwilligenarbeit auflösen und dadurch die Handlungsmöglichkeiten der Frauen steigern?

Abb. 1: Gertrud Kurz während eines Gesprächs.

Flüchtlingshilfe als Frauenarbeit

Vor dem Zweiten Weltkrieg ist die politische Stimmung in der Schweiz von der Angst vor »Überfremdung« und »Verjudung« geprägt. Die dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) angeschlossene Zentralstelle für Fremdenpolizei verfolgt seit den 1920er-Jahren eine restriktive Migrationspolitik. Diese trifft die steigende Zahl von Flüchtlingen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in aller Härte: Asylsuchende werden an den Grenzen abgewiesen und jüdische Flüchtlinge ab 1942 in den Tod geschickt. Diejenigen, die vorübergehend Asyl in der Schweiz finden, unterstehen einem strikten Erwerbsverbot und werden häufig in eigens dafür errichteten Arbeitslagern interniert.5 Auch Geldüberweisungen aus dem Ausland werden erschwert. Für Flüchtlinge sind die Kosten für Unterhalt, Visa oder Aufenthaltsbewilligungen aber massiv. Mit staatlicher Unterstützung können sie nicht rechnen. Aus diesem Grund sind sie auf die Hilfe von Hilfswerken und Privatpersonen angewiesen.6 Hilfeleistung an die Flüchtlinge geschieht oft in Form von Freiwilligenarbeit, das heisst durch Spenden von Privaten und die unbezahlte Arbeit von Hilfswerkmitarbeiter*innen.7 Es ist auffällig, dass in den Kriegsjahren weitaus mehr Frauen als Männer in der Flüchtlingshilfe tätig sind.8 Zugleich liegt der Anteil der erwerbstätigen Frauen in den Kriegsjahren nur bei etwa dreissig Prozent aller Erwerbstätigen.9 Worin liegt der Grund für diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung?

Gesellschaft und Politik sind in der Zeit des Zweiten Weltkrieges den Frauen wenig freundlich gesinnt. Im Gegensatz zu den Bürgerinnen verschiedener Nachbarländer sind die Schweizerinnen vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Auch versucht die Mehrheit der politischen Parteien, Frauen von der Politik und der öffentlichen Mitbestimmung fernzuhalten, was sie auch damit begründen, dass Frauen keinen Militärdienst leisten müssten. Die Generalmobilmachung von 1939 und der so genannte Aktivdienst während des Zweiten Weltkriegs verleihen diesem Argument in den 1940er-Jahren zusätzlich Plausibilität.10

Viele Schweizer*innen erkennen im aufkommenden Faschismus eine Bedrohung für die Demokratie. Zu deren Schutz berufen sie sich auf die eigene politische Tradition und spezifisch schweizerische Werte: Aus der »Schweiz« wird zuerst die »Eidgenossenschaft«, dann die »Volksgemeinschaft«.11 Damit einher geht die Popularisierung einer Geschlechterideologie, die Frauen als hilfsbereite, fürsorgliche und sich aufopfernde Mütter und Gattinnen dem privaten und Männer als Bürger-Soldaten dem öffentlichen Bereich zuordnet.

Abb. 2: Das Gästezimmer von Gertrud Kurz wurde zu einem Büro umfunktioniert. Das Bild zeigt Mitarbeiter*innen während der Arbeit im Jahr 1945.

Gemäss dieser Geschlechterordnung, die auf vermeintlich natürlichen Unterschieden zwischen Frau und Mann beruht, sind die Frauen für das Wohlergehen der Familien und Soldaten verantwortlich. Ihr Platz ist der häusliche Herd, die sogenannte innere Front, an der sie ihren Dienst für das Vaterland leisten sollen.12

Zudem hat die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre einen Prozess der Verdrängung weiblicher Arbeitskräfte ausgelöst. Aggressive Kampagnen gegen das »Doppelverdienertum« richten sich gegen verheiratete Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt sehen, Männern die Stelle wegzunehmen.13

Vor diesem Hintergrund erscheint das Wort freiwillig in Freiwilligenarbeit irreführend. Viele Frauen haben aufgrund der herrschenden Geschlechterordnung schlichtweg keine Alternativen zur unbezahlten Arbeit.14 Auch passt gemeinnützige Tätigkeit ins vorherrschende Bild der fürsorglichen Ehefrau und Mutter. Die Frauen nehmen dadurch ihre als natürlich bezeichnete Fürsorglichkeit nicht nur in der Familie und in den eigenen vier Wänden wahr, sondern in der Gesellschaft als Ganzes – dies unbezahlt und damit kaum anerkannt. Die Arbeit als Freiwillige bietet Frauen aber auch eine Möglichkeit, den privaten Bereich zu verlassen und öffentlich Einfluss zu nehmen.15 Die weibliche Freiwilligenarbeit steht so in einem prekären Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Zwang. Ist Gertrud Kurz also eine Revolutionärin, die mit den bürgerlichen Geschlechterrollen bricht, oder fügt sie sich nahtlos in das vorherrschende Bild ein? Wie lässt sich ihre Person in das angesprochene Spannungsfeld einordnen? Wie wirkt sich dies auf ihre Arbeit aus?

Vorbereitet auf ein Leben als Hausfrau und Mutter

Gertrud Kurz wird am 15. März 1890 als Tochter eines angesehenen Textilfabrikanten im Kanton Appenzell-Ausserrhoden geboren. Sie wächst in einem gut situierten Haushalt mit Dienstpersonal auf. Ihre Ausbildung entspricht ganz den bürgerlichen Weiblichkeitsnormen. Nach der obligatorischen Schule besucht sie eine einjährige Handelsschule in Neuenburg, um sich auf die Mitarbeit im elterlichen Betrieb vorzubereiten.

Nachdem sie ihren Ehemann Albert Kurz kennengelernt hat, absolviert sie eine Frauenbildungsschule in Frankfurt, die sie auf die zukünftige Rolle als Gattin und Hausfrau vorbereiten soll. Nach der Hochzeit mit Albert Kurz im Jahr 1912 zieht sie nach Bern, wo ihr Mann als Prorektor des städtischen Gymnasiums arbeitet. In den ersten Jahren ihrer Ehe widmet sie sich voll und ganz der Erziehung ihrer drei Kinder sowie der Haus- und Familienarbeit.

1931 schliesst sich die gläubige Christin Gertrud Kurz der internationalen Friedensorganisation der »Kreuzritter« an, einer vom französischen Offizier Etienne Bach 1923 gegründeten christlichen Versöhnungsbewegung. Rasch übernimmt sie administrative Aufgaben für die Bewegung und wird Redaktorin des deutschsprachigen Informationsbulletins.16

Ein Hilfswerk für alle

1938 verschärfen sich die politischen Spannungen in Europa. In NS-Deutschland eskaliert die Gewalt gegen Juden und Jüdinnen. Nach der Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 versuchen Tausende, ihre Heimat zu verlassen. Oft stehen sie mittellos an der Grenze. Am Weihnachtstag dieses düsteren Jahres lädt Gertrud Kurz spontan einige Flüchtlinge zur Weihnachtsfeier bei sich zuhause ein. Diese Einladung gilt als Geburtsmoment ihres Hilfswerks »Kreuzritter«-Flüchtlingshilfe, welches bis heute unter dem Namen Christlicher Friedensdienst (cfd) aktiv ist. Gastgeberin und Gäste können sich zu diesem Zeitpunkt wohl kaum vorstellen, dass weitere sechs gemeinsame Weihnachtsfeiern vergehen würden, bis die Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Verfolgung ein Ende nehmen.

Um den Flüchtlingen rasch materielle Hilfe bieten zu können, errichtet Gertrud Kurz daraufhin ein Büro, eine Kleider- und eine Vorratskammer in ihrem Berner Heim. Das Hilfswerk finanziert sie mit privaten Spenden und Kollekten von den Vorträgen, die sie im ganzen Land hält, um auf die Leiden und die Not der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Zudem veröffentlicht sie alle drei Monate ein eigenes Informationsbulletin, das die Mitglieder des Hilfswerks über Spendenkampagnen, aktuelle Hilfswerkstätigkeit und Flüchtlingsschicksale informiert.

Abb. 3: Gertrud Kurz mit Ehemann Albert Kurz und Kindern in den 1930er-Jahren.

Das Hilfswerk der »Kreuzritter« ist politisch und konfessionell neutral. Das unterscheidet die Organisation von anderen Hilfswerken, welche sich nur um die Angehörigen ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft oder politischen Partei kümmern. Im Gegensatz zu diesen nimmt sich die »Kreuzritter«-Flüchtlingshilfe ausnahmslos aller Flüchtlingen an, unabhängig von ihrer Religion und ihren politischen Überzeugungen. Das macht die Organisation von Gertrud Kurz für viele zur letzten Anlaufstelle, beispielsweise für getaufte Juden und Jüdinnen oder für Verfolgte, die aus ihrer Glaubensgemeinschaft ausgetreten sind.17

»Mutter Kurz« und ihre »Flüchtlingsfamilie«

Egal, wie gross die Arbeitsbelastung ist oder ob ausreichend finanzielle Mittel vorhanden sind, organisiert Gertrud Kurz nun Jahr für Jahr ein Weihnachtsfest mit Flüchtlingen. Das gemeinsame Feiern ist für sie in der düsteren Zeit des Zweiten Weltkriegs stets ein Lichtblick, über den sie jeweils in einer Sonderausgabe des Mitteilungsblatts berichtet.18 Die Weihnachtsfeier versinnbildlicht für Gertrud Kurz das Ideal der christlichen Nächstenliebe, das ihre Hilfstätigkeit animiert. Gleichzeitig erscheinen die Flüchtlinge und die Mitglieder des Hilfswerks an dieser Feier als eine grosse Familie. So schreibt Gertrud Kurz in ihrem Bericht vom Dezember 1940: »Im Mittelpunkt der letzten Wochen stand unser Weihnachtsfest, an dem über hundert Flüchtlinge und die Mitglieder der Flüchtlingshilfswerke teilnahmen. Zum drittenmal [sic] durften wir mit unserer grossen Familie Weihnachten feiern und, dass unser Beisammensein wiederum gesegnet war, das kam in manchen Briefen zum Ausdruck.«19

Da das Hilfswerk Angehörige aller Religionen unterstützt, erscheint es auf den ersten Blick widersprüchlich, dass das christliche Weihnachtsfest einen so grossen Stellenwert als gemeinschaftsstiftendes Ereignis einnimmt. Wenn Gertrud Kurz Flüchtlinge als Mitglieder der eigenen Familie imaginiert, zeigt sie aber auch, wie sie ihre Hilfstätigkeit einordnet. Sie sieht die Flüchtlinge nicht als »Fälle« oder Klient*innen, sondern gleichsam als Teil ihrer erweiterten Familie und die eigene Hilfstätigkeit damit als eine Verlängerung der Haus- und Familienarbeit innerhalb des weiblich konnotierten Handlungsraums. Das entspricht durchaus den Realitäten, befindet sich das Hilfswerk mit Büro und Materialdepots doch in ihrem privaten Haus in Bern. Die Grenzen zwischen der weiblichen Haus- und Familienarbeit und der Freiwilligenarbeit sind räumlich und in der alltäglichen Praxis verwischt. Dazu passt, dass Zeitgenoss*innen immer wieder von der »Flüchtlingsmutter« oder »Mutter Kurz« sprechen und Flüchtlinge gerne die mütterliche Fürsorge, Güte und Aufopferungsbereitschaft von Gertrud Kurz betonen.20

Dass sich eine Frau in dieser Weise auch öffentlich betätigt und sich dazu noch für Personen einsetzt, die bei den Behörden und grossen Teilen der Schweizer Bevölkerung unerwünscht sind, ist alles andere als selbstverständlich. Gertrud Kurz versteht es aber, ihr Engagement im Einklang mit der bürgerlichen Geschlechterordnung zu praktizieren. Während sie die Flüchtlingshilfe zu einem Teil ihrer familiären Aufgaben erklärt, bleibt sie stets auch liebevolle Mutter und Grossmutter und treue, pflichtbewusste Gattin.21 Diese Übereinstimmung mit den herrschenden Geschlechternormen legitimiert ihre Hilfstätigkeit zugunsten der Flüchtlinge und erweitert zugleich ihren öffentlichen Handlungsspielraum als Frau. Genau diese Rollenkonformität nämlich verschafft Gertrud Kurz die Autorität, um selbstbewusst bei den Behörden zu intervenieren, sich dezidiert für die Flüchtlinge auszusprechen und gegen die Unmenschlichkeit staatlicher Massnahmen zu protestieren.22

Abb. 4: Gertrud Kurz um 1967 im Gespräch mit einer Geflüchteten.

Nicht abseitsstehen, sondern handeln

Das fehlende Stimmrecht der Frauen soll nicht dazu verleiten, den Frauen jegliches politische Handeln und jegliche Einflussmöglichkeit im öffentlichen Bereich abzusprechen.23 Mit der Philosophin Maja Wicki lässt sich politisches Handeln vielmehr als die Erkenntnis verstehen, Teil einer zeitspezifischen Konstellation zu sein und daraus die moralische Verpflichtung abzuleiten, nicht abseitszustehen, sondern zu handeln.24 Obwohl Gertrud Kurz mit den bürgerlichen Geschlechterrollen nicht bricht, verlässt sie durch ihre Freiwilligenarbeit den privaten Bereich und stellt explizit politische Forderungen. Sie bewegt sich damit eindeutig im Bereich des Politischen. Sie vermeidet aber den Konflikt mit herrschenden Rollenbildern, indem sie ihr freiwilliges Engagement auf die »natürlichen« Anlagen der Frau als Fürsorgerin bezieht und mit ihrem christlichen Glauben verknüpft. Es ist schwer abzuschätzen, wieviel Strategie hinter diesem Vorgehen steckt. Vielleicht rückt sie bewusst und gezielt als weiblich geltende Verhaltensweisen in den Vordergrund, um das Gegenüber nicht herauszufordern, und nutzt den Umstand, dass sie von Vornherein nicht als politische Akteurin wahrgenommen wird, für die Verwirklichung ihrer Ziele. Das zeigt eine folgenreiche Begegnung vom Sommer 1942.

Am 23. August 1942 fahren Gertrud Kurz und der jüdische Bankier Paul Dreyfus auf den Mont Pèlerin, um sich mit dem Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements Bundesrat Eduard von Steiger zu treffen, der seine Ferien dort verbringt. Der Bundesrat hat wenige Wochen zuvor einen folgenschweren Entscheid gefällt: Um die vorwiegend jüdischen Flüchtlinge vor einem Fluchtversuch in die Schweiz abzuschrecken, hat er die Grenzwächter angewiesen, zivile Flüchtlinge an der Grenze konsequent wegzuweisen.25 Für die jüdischen Verfolgten, denen seit dem Frühsommer 1942 die Deportation in die Vernichtungslager droht, sind die Auswirkungen dieses Entscheids fatal.

Exponenten jüdischer Organisationen kritisieren diese Weisung heftig. Der jüdische Bankier Paul Dreyfus entscheidet sich, bei den Behörden dagegen zu intervenieren. Nationalrat Albert Oeri rät ihm, sich aufgrund »der Schwere des Problems« – die Grenzschliessung für zivile Flüchtlinge – nicht an den Chef der Fremdenpolizei Heinrich Rothmund, sondern direkt an Bundesrat Eduard von Steiger zu wenden.26 Wie es aus dem von Paul Dreyfus verfassten Aide-mémoire hervorgeht, ist dies für die kleine jüdische Gemeinschaft der Schweiz ein heikler politischer Balanceakt. Dies verdeutlichen die Bedenken einiger Mitglieder des Schweizerischen israelitischen Gemeindebundes, die davor zurückschrecken, »über Dr. R[othmund] hinweg an so hoher Stelle zu intervenieren«.27 Zudem fällt es Dreyfus schwer, einen geeigneten Begleiter für diese Intervention zu finden. Nach stundenlangem Telefonieren gibt er die Hoffnung auf, in der jüdischen Gemeinschaft einen Mitstreiter zu finden. Nach weiteren Telefonaten fällt ihm Gertrud Kurz ein.

Nach kurzem Überlegen erklärt sich Gertrud Kurz bereit, zusammen mit Paul Dreyfus Bundesrat von Steiger aufzusuchen. Sie ist von der Wichtigkeit und Notwendigkeit einer solchen Intervention überzeugt und weiss in diesem Moment, dass sie handeln muss und nicht abseitsstehen darf. Sie begründet ihren Entscheid in einer Sonderausgabe des Mitteilungsblatt:

»Wir können von unsern Behörden nicht fordern, dass sie die bedrängten Menschen in unser Land hereinlassen, wenn wir nicht zugleich beweisen, dass Menschen da sind, die freiwillig und freudig Opfer bringen. Wir haben es im Vergleich zu anderen Völkern noch grenzenlos gut, dass auch unsere Dankbarkeit grenzenlos sein müsste. Rings um uns tobt der sinnlose Krieg, der von den Völkern ungeheure blutige Opfer fordert. Sind die Opfer, die von uns verlangt werden, nicht zugleich ein ungeheures Vorrecht? Dürfen wir nicht helfen und heilen, während andere verbluten müssen? Wie könnten wir ein solches Vorrecht mit Füssen treten? Und wie könnte Gott ein Land weiter schützen, dessen Bewohner seine Gebote missachten?«28

Abb. 5: Zu Gertrud Kurz’ 56. Geburtstag von Freunden und Mitarbeiter*innen des Christlichen Friedensdiensts geschenktes Fotoalbum.

Nachdem sie sich während der Zugfahrt über Vorgehen und Argumentationsweise abgesprochen haben, werden Paul Dreyfus und Gertrud Kurz von Bundesrat Eduard von Steiger empfangen. Gertrud Kurz argumentiert während des Gesprächs auf emotionaler Ebene und betont, dass die Asylsuchenden in den sicheren Tod zurückgewiesen werden. Sie berichtet über die an den Juden und Jüdinnen verübten Gräueltaten in den besetzten Gebieten. Ihre Berichte stammen aus verlässlichen Quellen und scheinen den Bundesrat zu beeindrucken. Aber Gertruds Kurz’ Argumentation beläuft sich nicht nur auf die Wiedergabe von Berichten. Sie stellt auch direkte Forderungen an den Bundesrat. So verlangt sie, dass niemand mehr ausgewiesen werden soll und dass maximal 2000 Verfolgten die Einreise trotz der Grenzschliessung zu erlauben sei.29

Sie schliesst ihre Argumentation mit dem Bekenntnis »dass, wenn solche Bestimmungen wie diese neuesten Befehle an die Grenzpolizei nun in der Schweiz toleriert würden, sie ihre ganze Arbeit einfach nicht mehr weiterführen könne, weil sie seelisch zusammenbrechen würde und weil sie dann ihres Privilegs als Schweizerin und Christin, in diesen schlechten Zeiten in der gesegneten Schweiz leben zu dürfen, nicht mehr würdig sei«.30

Das sind nicht die Worte einer Hausfrau, die in ihren eigenen vier Wänden einige Flüchtlinge verpflegt. Obwohl Gertrud Kurz auf emotionaler Ebene argumentiert, indem sie auf die Einzelschicksale und das Leid der Flüchtlinge verweist, geht aus ihrer Argumentation hervor, dass sie über die drastische Lage der jüdischen Verfolgten und die Folgen der restriktiven schweizerischen Asylpolitik bestens informiert ist. Ihre klar und deutlich formulierten Forderungen belegen auch, dass sie sich der Dringlichkeit ihres Handelns vollauf bewusst ist. Gertrud Kurz’ und Paul Dreyfus’ Worte haben die erhoffte Wirkung. Einige Tage später erfährt Gertrud Kurz, dass ihre Intervention bei Bundesrat Eduard von Steiger erfolgreich war und dass die Grenzen vorübergehend wieder geöffnet werden. Obwohl die Lockerung der Rückweisungspraxis nicht von langer Dauer ist, hat diese Intervention mit Sicherheit Menschenleben gerettet.

Und dennoch gelingt es ihr, öffentlich Einfluss zu nehmen, ohne den häuslichen Handlungsrahmen zu sprengen.

Zwischen Freiheit und Verpflichtung

Die Freiwilligenarbeit von Gertrud Kurz befindet sich stets in einem Spannungsfeld von Freiheit und Verpflichtung, ihre Flüchtlingshilfe besetzt einen Zwischenbereich an der Grenze von öffentlich und privat. Starre Geschlechternormen und die restriktive Asylpolitik während des Zweiten Weltkriegs setzen ihrem Engagement klare Grenzen. Und dennoch gelingt es ihr, öffentlich Einfluss zu nehmen, ohne den häuslichen Handlungsrahmen zu sprengen. Gerade weil sie sich mit der herrschenden Geschlechterordnung arrangiert und den Bruch mit den bürgerlichen Rollenbildern vermeidet, kann sie sich neue Handlungsräume erschliessen. Das Bewusstsein, handeln zu müssen, lässt sie, obwohl politisch rechtlos und von den Zeitgenoss*innen nicht als politische Akteurin wahrgenommen, zu einer politisch bedeutsamen Anwältin der Flüchtlinge werden. Ihr freiwilliges Engagement eröffnet Gertrud Kurz neue Handlungsmöglichkeiten und legitimiert ihr Vordringen in Felder, die dem bürgerlichen Rollenverständnis zufolge Männern vorbehalten waren.

Ana Križanac studiert im Master Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft und Geschichte an der Universität Zürich.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Unbekannt: Gertrud Kurz mit Telefonhörer in der Hand, undatiert, in: Zürich: Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz / 906.

Abb. 2: Unbekannt: Gruppenbild: Herr Kruh, Frau Fehrmann, Frau Bernoulli, Fräulein Hess »Das Gästezimmer wird zum Büro!«, 1945, in: Zürich: Archiv für Zeitgeschichte NL Gertrud Kurz / 923.

Abb. 3: Unbekannt: Gruppenbild Familie Kurz-Hohl: Hans Rudolf / Hansruedi, Gertrud Kurz, Anna Barbara, Albert Kurz und Albert jun., ca. 1930er-Jahre, in: Zürich: Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz / 912.

Abb. 4: Unbekannt: Gertrud Kurz mit Flüchtlingsfrau, 1964, in: Zürich: Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz / 943.

Abb. 5: Unbekannt: Album Die Berner Familie, Freunde und Mitarbeiter CFD-Schweiz, 1946, in: Zürich: Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz / 924 (Album).

Literatur
  1. 1

    Katrin Hafner, Lucia Probst: »Im Dienste der Humanität: Die Schweizer ›Flüchtlingsmutter‹ Gertrud Kurz als Akteurin im Zweiten Weltkrieg und die Rezeption ihres Wirkens bis heute«, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Grisard, Christina Späti (Hg.): Geschlecht und Wissen: Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich: Chronos (2004), S. 27–45, hier S. 30.

  2. 2

    »Mitteilungsblatt deutsch«, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 35.

  3. 3

    Christoph Sachsse: Mütterlichkeit als Beruf: Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Wiesbaden: Springer Fachmedien (1994), S. 102–106.

  4. 4

    Katrin Hafner, Lucia Probst: »Im Dienste der Humanität: Die Schweizer ›Flüchtlingsmutter‹ Gertrud Kurz als Akteurin im Zweiten Weltkrieg und die Rezeption ihres Wirkens bis heute«, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Grisard, Christina Späti (Hg.): Geschlecht und Wissen: Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich: Chronos (2004), S. 27–45, hier S. 27.

  5. 5

    Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.): Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich: Chronos (2001), S. 102–106.

  6. 6

    Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht: Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914–1971, Zürich: Chronos (2007), S. 223–224.

  7. 7

    Katrin Hafner, Lucia Probst: »Im Dienste der Humanität: Die Schweizer ›Flüchtlingsmutter‹ Gertrud Kurz als Akteurin im Zweiten Weltkrieg und die Rezeption ihres Wirkens bis heute«, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Grisard, Christina Späti (Hg.): Geschlecht und Wissen: Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich: Chronos (2004), S. 27–45, hier S. 28–31.

  8. 8

    Susanne Businger: Stille Hilfe und tatkräftige Mitarbeit: Schweizer Frauen und die Unterstützung jüdischer Flüchtlinge 1938–1947, Zürich: Chronos (2015), S. 47.

  9. 9

    Regula Stämpfli: Mit der Schürze in die Landesverteidigung: Frauenemanzipation und Schweizer Militär 1914–1945, Zürich: Orell Füssli (2002), hier S. 52–55.

  10. 10

    Regula Stämpfli: Mit der Schürze in die Landesverteidigung: Frauenemanzipation und Schweizer Militär 1914–1945, Zürich: Orell Füssli (2002), S. 21, 84.

  11. 11

    Regula Stämpfli: »Die Nationalisierung der Schweizer Frauen: Frauenbewegungen und Geistige Landesverteidigung 1933–1939«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 50 (2000), S. 155–180, hier S. 166f.

  12. 12

    Elisabeth Joris: »Die Schweizer Hausfrau: Genese eines Mythos«, in: Sebastian Brändli, David Gugerli, Rudolf Jaun u.a. (Hg.): Schweiz im Wandel: Studien zur neueren Gesellschaftsgeschichte, Basel: Helbing & Lichtenhahn (1990), S. 99–117, hier S. 110–116.

  13. 13

    Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht: Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914–1971, Zürich: Chronos (2007), S. 150–156.

  14. 14

    Gisela Notz: Frauen im sozialen Ehrenamt: Ausgewählte Handlungsfelder: Rahmenbedingungen und Optionen, Freiburg im Breisgau: Lambertus (1989), S. 14.

  15. 15

    Antonia Schmidlin: Eine andere Schweiz: Helferinnen, Kriegskinder und humanitäre Politik 1933–1942, Zürich: Chronos (1999), S. 37.

  16. 16

    Katrin Hafner, Lucia Probst: »Im Dienste der Humanität: Die Schweizer ›Flüchtlingsmutter‹ Gertrud Kurz als Akteurin im Zweiten Weltkrieg und die Rezeption ihres Wirkens bis heute«, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Grisard, Christina Späti (Hg.): Geschlecht und Wissen: Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich: Chronos (2004), S. 27–45, hier S. 28–36.

  17. 17

    Katrin Hafner, Lucia Probst: »Im Dienste der Humanität: Die Schweizer ›Flüchtlingsmutter‹ Gertrud Kurz als Akteurin im Zweiten Weltkrieg und die Rezeption ihres Wirkens bis heute«, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Grisard, Christina Späti (Hg.): Geschlecht und Wissen: Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich: Chronos (2004), S. 27–45, hier S. 28–36.

  18. 18

    »Mitteilungsblatt deutsch«, Nr. 173–175, Dez.1940–Febr.1941, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 35.

  19. 19

    »Mitteilungsblatt deutsch«, Nr. 173–175, Dez.1940–Febr.1941, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 35, S. 6.

  20. 20

    »Flüchtlinge 1939«, Brief Vitznau, 17. Dezember 1939, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 451.

  21. 21

    Katrin Hafner, Lucia Probst: »Im Dienste der Humanität: Die Schweizer ›Flüchtlingsmutter‹ Gertrud Kurz als Akteurin im Zweiten Weltkrieg und die Rezeption ihres Wirkens bis heute«, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Grisard, Christina Späti (Hg.): Geschlecht und Wissen: Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich: Chronos (2004) S. 27–45, hier S. 33.

  22. 22

    Katrin Hafner, Lucia Probst: »Im Dienste der Humanität: Die Schweizer ›Flüchtlingsmutter‹ Gertrud Kurz als Akteurin im Zweiten Weltkrieg und die Rezeption ihres Wirkens bis heute«, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Grisard, Christina Späti (Hg.): Geschlecht und Wissen: Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich: Chronos (2004), S. 27–45, hier S. 33.

  23. 23

    Antonia Schmidlin: Eine andere Schweiz: Helferinnen, Kriegskinder und humanitäre Politik 1933–1942, Zürich: Chronos (1999), S. 38.

  24. 24

    Maja Wicki: »Einmischung in die offizielle Flüchtlingspolitik (I)«, in: Rote Revue 4 (1993), S. 24–27, hier S. 24–25.

  25. 25

    Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.): Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich: Chronos (2001), S. 119.

  26. 26

    »Aide-Mémoire«, Intervention bei Bundesrat Eduard von Steiger betr. Flüchtlingspolitik, Mont-Pèlerin 23. August 1942, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 136, S. 1.

  27. 27

    »Aide-Mémoire«, Intervention bei Bundesrat Eduard von Steiger betr. Flüchtlingspolitik, Mont-Pèlerin 23. August 1942, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 136, S. 2.

  28. 28

    »Mitteilungsblatt deutsch«, Sonderblatt, August 1942, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz 35, S. 4–5.

  29. 29

    »Aide-Mémoire«, Intervention bei Bundesrat Eduard von Steiger betr. Flüchtlingspolitik, Mont-Pèlerin 23. August1942, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 136, S. 5.

  30. 30

    »Aide-Mémoire«, Intervention bei Bundesrat Eduard von Steiger betr. Flüchtlingspolitik, Mont-Pèlerin 23. August1942, Archiv für Zeitgeschichte, NL Gertrud Kurz, 136, S. 5.