Æ Æther

Materialwissen: Experimentelle Geschichte im Pharmaziemuseum
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Anny Barbey, Arina Stella Lazzarini

Paracelsus’ Wundermittel: Die Rosa solis

Die Rosa solis (lat. »Rose der Sonne«) ist eine Pflanze, über deren rätselhafte Eigenschaften Gelehrte der Frühen Neuzeit grübelten. Ein Rezept des Schweizer Arztes Paracelsus verstärkte das medizinische Interesse an der Pflanze. Wir stellen das Wundermittel vor.

Eine wundersame Blume

»It is reported by some, That the Herb called Rosa-Solis, (whereof they make Strong-waters) will at the Noon-day, when the Sun shineth hot and bright, have a great Dew upon it.«1

Eine Pflanze, die zur vollen Mittagsstunde, wenn die Sonne am höchsten steht, Tau auf den Blättern bildet, ist ein Kuriosum, das auch der englische Naturphilosoph Sir Francis Bacon (1561–1626) für erwähnenswert hielt. Weil sich üblicherweise nur am frühen Morgen Tau auf Blütenblättern bildet, so heisst es in seinem Buch mit dem seltsamen Titel Sylva Sylvarum (lat. »Wald der Wälder«), habe diese ungewöhnliche Erscheinung viele Personen zu der Annahme verleitet, diese Pflanze habe eine besondere Beziehung zur Sonne. Ohne an eine solche sympathia zu glauben, könne man wohl kaum erklären, warum die Tautropfen in der brütenden Mittagshitze nicht wegtrocknen. Bacon diskutierte das Phänomen an mehreren Stellen in seinem Werk. Unter anderem beschreibt er die Rosa solis in A first Draught for the particular History of Vegetables and Vegetation. In diesem Text berichtet er von verschiedenen Wunderpflanzen, unter anderem einem Baum, der die Fähigkeit besitze, Wasser zu destillieren. Im fünften Kapitel wird die Rosa solis als ein weiteres Beispiel von Merkwürdigkeiten behandelt, bei denen der Naturphilosoph seiner Aufgabe nicht gerecht werden könne, die Dinge der Natur zu erklären.2

Unerklärliche Eigenschaften schlicht als »übernatürlich« zu bezeichnen, befriedigte Bacon nicht. Dies widersprach seinen Grundsätzen einer empirischen Methode, die gerade überraschende und auf den ersten Blick unerklärliche Phänomene mit besonderer Sorgfalt behandeln sollte. In seiner Beschäftigung mit der Rosa solis ging es Bacon daher auch darum zu zeigen, wie man mittels Beobachtungen, Experimenten und Analysen in Analogie zu alchemischen Laboratorien Pflanzen ihre Geheimnisse entlocken und auf diesem Wege grundlegende Prozesse der Natur erklären kann.3

So beginnt er mit der Beschreibung der ungewöhnlichen Erscheinung und distanziert sich zugleich von der Bereitschaft seiner Zeitgenossen, an Wunder zu glauben: »Men favour Wonders.«4 Bacon hingegen war sich sicher, dass eine Erklärung für den »magischen« Tau gefunden werden könne. Zunächst müsse man prüfen, ob der aussergewöhnliche Tau nicht ohnehin vom Morgen stamme und aus unerklärlichen Gründen nicht weggetrocknet sei. Um diese mögliche Erklärung auszuschliessen, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Form der Pflanze. Vielleicht sei der Morgentau nur deswegen nicht weggetrocknet und auch noch mittags auf den Blättern der Pflanze zu finden, weil diese so weiche, schmiegsame und dicke Blätter habe, die nicht leicht Feuchtigkeit abgeben. Die Form der Blätter schien auf eine Art Regenspeicher hinzudeuten. Sein nächster Gedanke war, dass die Feuchtigkeit von der Pflanze selbst stammen könne. Die Pflanze schwitze diese überflüssige Körperflüssigkeit aus, wenn am Mittag die Wärme zunimmt. Schliesslich stellte er die Frage, ob es nicht weitere Beispiele ähnlicher Pflanzen gäbe, die nur noch nicht in der Literatur dokumentiert worden seien. In diesem Fall handle es sich nicht um eine Wunderpflanze, sondern um eine regelkonforme Natureigenschaft.

Francis Bacon war nicht der einzige, der sich für die besonderen Eigenschaften der Rosa solis interessierte. Vor allem in jenen Schriften wurde sie ausführlich beschrieben, die die Verwendung der Pflanze in der Medizin thematisierten. Verschiedenste Quellen, von amtlichen Pharmakopöen der Apotheker bis hin zu Haushaltsratgebern, propagierten die medizinische Nutzung des Sonnentaus.5 Auch in familiären Rezeptsammlungen, wie derjenigen der englischen Familie Boyle (abgefasst zwischen 1675 und ca. 1710), sind Rezepte mit Rosa solis zu finden. So wird beispielsweise ein Gemisch aus Wein und Rosa solis gegen Unfruchtbarkeit empfohlen – das Getränk stärke die Gebärmutter unfruchtbarer Frauen.6

Abb. 1: Elixir des Paracelsus, 19. Jahrhundert.

Noch um die Wende zum 18. Jahrhundert waren Rezepte, die auf die Sympathie der Rosa solis mit der Sonne verwiesen und sie als »heisses« Mittel gegen alle möglichen Beschwerden einsetzten, ganz selbstverständlich in Rezeptbüchern zu finden. Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), Leibarzt der preussischen Königsfamilie und ein anerkannter Arzt in Berlin, erwähnt in seinem bekannten Buch Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern von 1796 die Geschichte eines Barons aus Tirol, der 104 Jahre alt geworden sei, weil er sich meist von Eiern und Tee aus Rosa solis und »Zuckerkand« ernährt habe.7

Spiritus rector Paracelsus

Wann und wo auch immer die Begeisterung für diese Pflanze ihren Anfang genommen hat, ein Name taucht in den Quellen häufig auf: Paracelsus soll die Rosa solis als Wundermittel propagiert haben. Von ihm soll auch die These stammen, dass die regelmässige Einnahme eines Elixier der Rosa solis das Leben verlängern könne. Die Heilwirkung beschränkte sich fortan nicht nur auf die Linderung von Krankheiten, auch zur Verjüngung und als Fruchtbarkeitsmittel kam die Pflanze zum Einsatz. Paracelsus, der 1493 als Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim in Einsiedeln zur Welt gekommen war und sich erst später den (Bei-)Namen Paracelsus gab (eine lateinische Übersetzung von Hohenheim), hat zeitlebens die zu seiner Zeit praktizierten, meist aus der Antike stammenden medizinischen Lehren hinterfragt und eigene Arzneien entwickelt.8 Einen breiteren Einfluss auf die medizinische Praxis nahmen seine Ideen und Ratschläge aber erst nach seinem Tod im Jahre 1541. Es waren vor allem Anhänger und Schüler, die angeblich von Paracelsus entwickelte Rezepturen veröffentlichten.

In dem Buch mit dem Titel A hundred and foureteene Experiments and Cures of the famous Physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; Translated out of the Germane tongue into the Latin9 sammelte John Hester Rezepte, die von Paracelus stammen sollen. Darunter findet sich auch ein Rezept zur Herstellung eines Wundermittels, bei dem die »Rose der Sonne« eine zentrale Rolle spielt. Hester war aber kein Arzt, sondern ein Destillateur und Apotheker, der als begeisterter Anhänger der chemischen Medizin verschiedene Werke von Paracelsisten ins Englische übertrug.10

Wie die meisten paracelsischen Rezepte, so existiert also auch das Rezept des Wundermittels aus der Rosa solis nicht direkt aus der Feder von Paracelsus. Im englischsprachigen Raum fand der Paracelsismus in John Hester einen wichtigen Sprecher. Er übersetzte und edierte zunächst nur Texte von französischen und italienischen Paracelsisten, in den 1590er Jahren schliesslich kamen Schriften hinzu, die von Paracelsus selber stammen sollten.11

Das Rosa solis – Rezept

»[…] this herb doth so far surmount all other herbs which spring out of the earth, as the sun does all other planets in the heaven, and hath greater force and power of influence than any other thing created of God in the firmament.«12

Im Kapitel über die Rosa solis werden zunächst die, wie es heisst, jahrhundertelang gehüteten Geheimnisse der Pflanze wiederholt. Anschliessend verspricht das Rezept zu erklären, wie man »the Quintaessence out of the hearbe called Rose Solis« herausziehen und zum Nutzen der Medizin verwenden kann.13 Aufgrund ihrer ungewöhnlichen Form und Farbe übertreffe die Pflanze alle anderen Pflanzen in ihrer Heilkraft, heisst es in der Einleitung, in der der Autor die Macht und Kraft dieser Pflanze mit pathetischen und dramatischen Worten beschreibt. Als »Pflanze der Sonne« übertreffe sie mit ihren Tugenden alle anderen Pflanzen und sei »wertvoller als Gold«. Deshalb sei das Rezept von vielen Gelehrten geheim gehalten worden. Per Eid hätten sie schwören müssen, dieses in keinem ihrer Werke zu erwähnen oder weiterzugeben. Nun aber, so verspricht der Autor dem Leser, werde das Rezept öffentlich gemacht, unter der Voraussetzung, dass die Lesenden, »[…] shalt keep this hidden knowledge secret.«14 Versprochen wird, dass das Wundermittel gegen alle möglichen Krankheiten und Beschwerden wirken soll, unter anderem bei Augenkrankheiten, Entzündungen, Vergiftungen oder Krebs. Es könne zur Einleitung von Geburten dienen und soll Frauen sogar von Hexerei befreien.15 Wie dieses Wundermittel allerdings im Körper seine Wirkung entfaltet, darüber schweigt sich der Autor aus.

Abb. 2: Drosera Rotundifolia.

Im letzten, längsten Teil des Kapitels folgt die Anweisung zur Herstellung des Wunderheilmittels. Es gehe darum, so der Autor, die Quintessenz aus der Rosa solis zu gewinnen. Quintessenz ist ein Begriff, der als Verdeutschung des Lateinischen quinta essentia so viel bedeutet wie »fünftes Seiendes«. Nebst den vier bekannten Elementen, Feuer, Wasser, Luft und Erde, existierte nach Aristoteles noch die Quintessenz, ein fünftes Element, der sogenannte Äther. Damit war jenes Element gemeint, aus dem alles entsteht und das allen Naturkörpern Leben einhaucht. In der Alchemie war dieses Element als spiritus, Stoff des Lebens, bekannt.16 Mit Hilfe der Destillation sollten in einem vielstufigen Reinigungsverfahren die Ausgangsstoffe so lange gereinigt werden, bis die Quintessenz, der Lebensgeist, des destillierten Naturkörpers übrig bleibt. Im Rezept ziehen sich die Anweisungen zur Gewinnung der Quintessenz über fünf vollgeschriebene Seiten hinweg. Das Procedere muss zum exakt richtigen Zeitpunkt mit der Ernte der Pflanze begonnen werden. Die Rosa solis müsse mit Wurzeln, Blättern und Blüten, aber ohne Erde oder andere Kräuter geerntet werden. Sie solle auf keinen Fall mit Wasser in Kontakt kommen und dürfe deshalb nur bei trockenem Wetter, wenn die Sonne am heissesten ist, gepflückt werden. Danach wird im Detail beschrieben, wie die geerntete Pflanze im Mörser zerkleinert und im Wasserbad (Bain Marie) bei leichter Hitze vorsichtig destilliert werden muss. Der dabei gewonnene Wasserdampf solle goldig schimmern – ein Phänomen, welches laut dem Rezept nur mit dieser Pflanze geschehe. Die langsame Destillation habe bis zur vollständigen Reduktion auf ein Pulver zu erfolgen. So lange müsse man immer wieder Wasser hinzufügen, das Ganze aufkochen, baden und trocknen lassen. Erst danach war die rohe Pflanze in einem Zustand, der Weiterverarbeitungen ermöglichte.

»This herb has the color of the sun for his color is red dark divided with yellow lines, and his shape is like a star and his proportion like a heavenly planet and consistent of seven branches, in the utter part broth, near the ground narrow, & it is as though it were heavy, of a tender substance, outwardly hot and moist, inwardly cold and dry.«17

Abb. 3: Blatt einer Drosera Rotundifolia.

Im Rezept werden die Farben der Pflanze mit der Farbe der Sonne verglichen – dunkelrot mit gelben Linien und sternförmig. Weiterhin wurden ihr die Proportionen eines himmlischen Planeten mit sieben Zweigen zugeschrieben – im äusseren Teil breit und in der Nähe des Bodens schmal. Diese kosmischen Analogien hatten eine entscheidende Bedeutung für die medizinische Verwendung. Äusserlich sei sie heiss und feucht, innerlich hingegen kalt und trocken. Auch wird die linke Seite der Pflanze als kalt und feucht charakterisiert, während die rechte Seite heiss und trocken sei. Aufgrund dieser Eigenschaften könne man die Pflanzenteile, insbesondere die Wurzel, nicht wie bei anderen Kräutern vom Stiel trennen.

Eben wegen dieser doppelten Qualität wurde das Kraut auch als »Herz der Sonne« bezeichnet. Während andere Pflanzen und Kräuter die Sonneneinstrahlung nicht vertragen, wird der Sonnentau im Gegenteil immer feuchter und tropfreicher. Die Sonne könne ungehindert ihre Strahlen auf den Blättern ausbreiten, und je heisser sie sei, umso mehr werde das Kraut mit Tau und Feuchtigkeit gefüllt. Deshalb, so argumentiert das Rezept, sei die Pflanze wertvoller als Gold oder edle Steine. Unter den Kräutern entspreche sie dem, was die Sonne unter den Planeten bedeute.18

Ein wenig Begriffsgeschichte: Rundblättriger Sonnentau

Heute wird die Rosa solis im Deutschen Rundblättriger Sonnentau genannt. Botaniker des 19. Jahrhunderts sprachen auch von der Drosera Rotundifolia oder Himmelstau und klassifizierten eine ganze Gruppe von Sonnentaugewächsen. Den heute gültigen botanischen Namen erhielt der Sonnentau aus dem Griechischen, da drósos für »Tau« steht und Rotundifolia »rundblättrig« bedeutet und sich in beiden Sprachen von der Blattform der Pflanze ableitet.19

Unter Botanikern wurde die auf sumpfigen Böden beheimatete Pflanze nicht nur als aussergewöhnlich, sondern auch als heimtückisch beschrieben. Die wissenschaftliche Botanik fand so auch eine eigene Erklärung für die Besonderheiten des Sonnentaus. Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine fleischfressende Pflanze. An feuchten, sumpfigen Orten wachsend, an denen löslicher Stickstoff knapp ist, gleicht sie das Defizit durch ihren Tau aus, der Insekten anlockt, die dann auf dem Blatt kleben bleiben und auf den Blättern eingefangen werden.

Die Taubildung wird heute als Drüsenabsonderung erklärt. Die Blätter haben eine rundliche Spreite mit lang gestielten, klebrigen Drüsen. Da die Drüsen an der Spitze nicht nur einen zähflüssigen und glänzenden Tropfen abscheiden, sondern diese zudem noch einen Duft ausströmen, werden Insekten angelockt und bleiben an den Drüsenzotten kleben. Diese wiederum reagieren auf Eiweissstoffe und verschlingen die Insekten. Der abgesonderte Tropfen ähnelt also nur im Aussehen einem Tautropfen. Tatsächlich handelt es sich bei den Tropfen, die der Pflanze ihren Namen verliehen haben, um Drüsensekrettropfen.20

Rekonstruktion des Rezepts und Verwendung der Rosa solis heute

In der Schweiz lässt sich der Rundblättrige Sonnentau immer in Begleitung von Torfmoosen finden und ist in den Hochmooren verbreitet.21 Nachdem wir das Rezept gelesen hatten, waren wir daher zuversichtlich, die Pflanze ohne grössere Schwierigkeiten besorgen und das Rezept in unserer Küche rekonstruieren zu können. Allerdings tauchten bald Probleme auf, die wir nicht bedacht hatten.

Eine Reproduktion des Wundermittels Rosa solis nach dem Rezept aus dem Jahr 1596 war für uns im Rahmen des durch das Seminar vorgegebenen Zeitrahmens aus mehreren Gründen nicht möglich. Das erste Hindernis bestand darin, die Hauptzutat, sprich die Rosa solis, zu beschaffen. Die Drosera Rotundifolia wächst nicht nur in Hochmooren, die in der Schweiz zumeist als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind, auch die Pflanze selbst steht unter besonderem Naturschutz. Zwar erfuhren wir bei unserer Suche nach der Pflanze bald, dass gezüchtete Pflanzen in Schweizer Baumärkten angeboten werden, jedoch sind auch hier Verkäufe jahreszeitenabhängig.

Abb. 4: Gefäss mit Herba Drosera, Getrockneter Sonnentau.

Laut Rezept sollte die Pflanze möglichst zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt geerntet werden, im Idealfall im Hochsommer. Unser Seminar fand aber zur unpassenden Zeit, am Frühlingsbeginn statt. Es war deshalb unmöglich, die Pflanze zu beschaffen. Doch auch mit der Rosa solis wären wir in Zeitnot geraten. Denn bei genauer Befolgung des Rezeptes hätte die für den Destillationsvorgang aufzuwendende Zeit insgesamt mindestens einen Monat betragen müssen. Mehrere der im Rezept beschriebenen Vorgänge dauern über Tage an. Beispielsweise muss die aus der Destillation zu gewinnende Essenz wiederholt für jeweils neun Tage in einem warmen Wasserbad stehen gelassen werden. Dann wieder soll man sie über mehrere Tage leicht köcheln lassen. Frühneuzeitliche Alchemie, so mussten wir feststellen, benötigt Zeit, jedenfalls sehr viel mehr, als im Zeitrahmen eines universitären Semesters zur Verfügung steht.

Eine weitere Herausforderung stellte die Sprache des Rezeptes dar. Mehrere Vorgänge werden nicht genau beschrieben und lassen viel Interpretationsspielraum offen. Beispielsweise werden Luft oder Feuer als »Zutat« im Rezept erwähnt. Was heisst das genau? Handelt es sich bei Feuer um offenes Kaminfeuer, um ein Ofenfeuer oder – nach Paracelsus’ Lehre – um einen Schwefelbrand, das heisst, die Zündung und Verbrennung von Schwefel? Spielt es vielleicht gar keine Rolle, aus welcher Quelle die Hitze stammt, wenn nur die Temperaturen stimmen? Die für uns moderne Leser*innen teils schwer verständliche, knappe und unklare Anleitung könnte möglicherweise ein Resultat der vielen Übersetzungen sein. Schliesslich wurde das Rezept nicht vom ursprünglichen Autor, sondern seinen Anhängern zunächst vom Deutschen ins Latein und von dort ins Englische (und andere Sprachen) übersetzt. Wir haben es für unsere Arbeit noch einmal aus dem Englisch des 17. Jahrhunderts ins Deutsche rückübersetzt, was ebenfalls nicht unbedingt zu mehr Klarheit geführt haben mag.

Eine letzte Schwierigkeit bestand darin, die für die beschriebenen Vorgänge nötigen, alchemistischen Destilliervorrichtungen und Werkzeuge aufzutreiben. Historische Geräte sind wahrscheinlich nur noch in Museen zu finden. Zweifelsohne hätten wir uns mit einfachen Vorrichtungen behelfen können, doch muss man sich in einem solchen Fall klar darüber sein, welchen Einfluss dies auf das Endprodukt haben wird. Hinzu kommt die Benutzung der Destillationsapparaturen: Das Rezept hat sich hierzu ausgeschwiegen, und wir verfügen über keine sonstigen Praxiserfahrungen. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Rezept uns etwas ratlos zurückliess und uns die Grenzen der Rekonstruktion historischer Rezepte vor Augen geführt hat.

Dennoch haben wir uns mit diesen eher ernüchternden Erkenntnissen nicht zufrieden geben wollen. Wir fanden eine Alternative zum aufwendigen, komplizierten Vorgehen. Im Rezept wird nämlich zu Beginn noch eine Möglichkeit beschrieben, wie die Drosera-Essenz auf einfachere Art gewonnen werden kann. Man solle einen Zweig der geernteten Pflanze so »aufschlagen«, dass die Tautropfen in ein grosses Gefäss aus Glas fallen. Je sonniger die Pflanze steht und je wärmer das Wetter ist, umso schneller bilde sich der »Tau« wieder nach und desto schneller fülle sich das Gefäss. Laut Rezept kann bei dieser Art der Gewinnung von »Tau« durchaus auch ausreichend Flüssigkeit erzielt werden, ohne die aufwendigen Destillationsvorgänge mehrfach wiederholen zu müssen.

Das aufgefangene, reine Rosa solis-Wasser solle man anschliessend in einem Glas sorgsam aufbewahren. Es könne ebenfalls zur Heilung von allen möglichen Krankheiten dienen, auch wenn es sich hierbei nicht um die Quintessenz der Blume handele. Doch da uns, wie gesagt, die Pflanze nicht zur Verfügung stand, konnten wir auch diese Variante nicht weiterverfolgen.

Abb. 5: Drosera Rotundifolia.

Dass wir am Ende unseren Kommiliton*innen trotz aller Probleme doch noch ein Rosa solis-Präparat präsentieren konnten, hatte einen schlichten Grund: Heutzutage kann man nämlich auf unkomplizierte Weise Drosera-Extrakte in der Apotheke erwerben.

Die Rosa solis heute

Paracelsus’ Wundermittel hat seine Überzeugungskraft verloren, die Drosera aber ist nie vollständig aus dem Arzneischatz verschwunden. Auch heute noch wird ihr eine heilende Wirkung zugeschrieben. Die Pflanze wirke insbesondere auf den unteren Atemwegsbereich, also Kehlkopf, Bronchien und Lunge, so lässt sich aus der Medikamentenwerbung erfahren. Grund dafür seien Naphthochinonderivate, eine Reihe von chemischen Verbindungen, die aus Oxidationsvorgängen der Drosera herrühren. Empfohlen wird ein Extrakt der Pflanze vor allem gegen verschiedene Arten von Husten, wie Keuchhusten oder Reizhusten, aber auch Asthma, Bronchitis oder Kehlkopfentzündungen. In den Schweizer Apotheken erhält man Drosera-Extrakte in flüssiger Form oder als Globuli, auch Hustensäfte, die die Fliessfähigkeit von Bronchialsekreten fördern sollen, sind erhältlich.22 Zwar kann man den modernen Begriff Elixier, der für Auszüge aus der Pflanze verwendet wird, nicht ohne weiteres mit den frühneuzeitlichen Vorstellungen von Elixieren oder gar der Idee der Quintessenz vergleichen. Nur in der Logik der Arzneiforschung der Frühen Neuzeit, die ihre eigene Wissenschaftssprache pflegte, ist die besondere Eigenschaft der Tropfenbildung auf den Blättern der Rosa solis nachvollziehbar, die aus einer Sympathie mit der Wärme und Kraft der Sonne herrühren sollte. Auch wenn das analogische Denken, das einfache Pflanzen mit den grossen Elementarkräften der Natur in Beziehung setzte, nicht mehr überzeugt, nachvollziehbar ist die Faszination, die von der Pflanze ausging, aber auch für moderne Leser*innen, wenn man bereit ist, sich in historische Denkweisen hineinzuversetzen.

Anny Barbey studiert im Bachelor Hispanistik und Geschichte an der Universität Basel.

Arina Lazzarini hat 2022 ihr Bachelorstudium in Politikwissenschaften und Geschichte an der Universität Basel abgeschlossen. Sie absolviert momentan ein Praktikum im Generalsekretariat der Mitte Partei.

Paracelsus’ Wundermittel hat seine Überzeugungskraft verloren, die Drosera aber ist nie vollständig aus dem Arzneischatz verschwunden.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Standgefäss mit Elixir des Paracelsus (o.J.), © Pharmaziemuseum Basel, Inv. Nr. G711.

Abb. 2: Beat Bäumler, Drosera Rotundifolia (o.J.), © Conservatoire et Jardin botaniques de la Ville de Genève.

Abb. 3: Werner Arnold, Blatt einer Drosera Rotundifolia (o.J.), Online: https://www.awl.ch/heilpflanzen/drosera/sonnentau.htm.

Abb. 4: Gefäss mit Herba Drosera, Getrockneter Sonnentau (o.J.), © Pharmaziemuseum Basel, Inv. Nr. DG09.03.05.

Abb. 5: Beat Bäumler, Drosera Rotundifolia (o.J.), © Conservatoire et Jardin botaniques de la Ville de Genève.

Literatur
  1. 1

    Francis W. Bacon, William W. Rawley, William: Sylva Sylvarum, Or, A Naturall Historie: In Ten Centuries, London (1670), S. 103; vgl. auch Dana Jalobeanu: »Spirits Coming Alive: The Subtle Alchemy of Francis Bacon’s Sylva Sylvarum«, in: Early Science and Medicine 23 (2018), S. 459–486.

  2. 2

    Francis Bacon: »A First Draught for the Particular History of Vegetables and Vegetation«, in: Peter Shaw (Hg.): The Philosophical Works of Francis Bacon, Baron of Verulam, Methodized, and Made English, from the Originals, London: o.V. (1733), S. 242–298.

  3. 3

    Dana Jalobeanu: »Spirits Coming Alive: The Subtle Alchemy of Francis Bacon’s Sylva Sylvarum«, in: Early Science and Medicine 23 (2018), S. 459–486.

  4. 4

    Francis Bacon: »A First Draught for the Particular History of Vegetables and Vegetation«, in: Peter Shaw (Hg.): The Philosophical Works of Francis Bacon, Baron of Verulam, Methodized, and Made English, from the Originals, London: o.V. (1733), S. 260–261.

  5. 5

    Siehe beispielsweise William Salmon: Pharmacopoia Londinensis: or, the New London Dispensatory. In Six books. Translated into English for the Publick Good, and Fitted to the Whole Art of Healing, London: T. Bassett et al. (1682), S. 96; John Gerard, Thomas Johnson: The Herball or Generall Historie of Plantes, London: Edm. Bollifant (1636), S. 1556–1557.

  6. 6

    Meghan Donnellan: Obstructed Wombs, Swollen Cods, Saffron and Cinnamon: Infertility and Ingredients in Early Modern England, unpublished Master Thesis, Tufts University (2021), S. 29.

  7. 7

    Alfred Dieck: »Sonnentau (Drosera, Herba Rosellae) als Volksheilmittel in Europa«, in: Ekkehard Schröder: Ethnobotanik-Ethnobotany: Beiträge und Nachträge zur 5. Internationalen Fachkonferenz Etlmomedizin in Freiburg,Wiesbaden: Springer (1985), S. 35–36.

  8. 8

    Bruce T. Moran: Paracelsus: An Alchemical Life, London: Reaktion Books (2019), S. 7–18.

  9. 9

    Iohn Hester (Hg): A hundred and fouretene experiments and cures of the famous physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; translated out of the Germane tongue into the Latin. Whereunto is added certaine excellent and profitable workes by B.G. a Portu Aquitano. Also certaine secrets of Isacke Hollandus concerning the vegetall and animall worke. Also the spagericke antidotarie for gunne-shot of Iosephus Quirsitanus, London: Vallentine Sims (1596).

  10. 10

    Paul H. Kocher: »John Hester, Paracelsian (fl. 1576–1593)«, in: James G. McManaway et. al. (Hg.): Joseph Quincy Memorial Studies, Washington: The Folger Shakespeare Library (1948), S. 623.

  11. 11

    Er übersetzte die Werke ins Englische und machte sie so der Öffentlichkeit zugänglich. Man ist sich nicht sicher, ob Hester selber ein Paracelsist war. Auf jeden Fall aber war er von Paracelsus Person und Ideen fasziniert. Ausserdem teilte er die Ansicht, dass sich die Medizin erneuern sollte und unterstrich die Wichtigkeit der praktischen Erfahrung. In seiner Apotheke in Paul’s Wharf propagierte und verkaufte er die Schriften Paracelsus. Paul Kocher nennt ihn sogar »[…] the most potent carrier of Paracelsan doctrine at this time [1580–1590] in England […]«. Paul Kocher: »Paracelsian Medicine in England: The First Thirty Years (ca. 1570–1600)«, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 2/4 (1947), S. 451–480, hier S. 464.

  12. 12

    Iohn Hester (Hg): A hundred and fouretene experiments and cures of the famous physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; translated out of the Germane tongue into the Latin. Whereunto is added certaine excellent and profitable workes by B.G. a Portu Aquitano. Also certaine secrets of Isacke Hollandus concerning the vegetall and animall worke. Also the spagericke antidotarie for gunne-shot of Iosephus Quirsitanus, London: Vallentine Sims (1596), S. 46.

  13. 13

    Iohn Hester (Hg): A hundred and fouretene experiments and cures of the famous physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; translated out of the Germane tongue into the Latin. Whereunto is added certaine excellent and profitable workes by B.G. a Portu Aquitano. Also certaine secrets of Isacke Hollandus concerning the vegetall and animall worke. Also the spagericke antidotarie for gunne-shot of Iosephus Quirsitanus, London: Vallentine Sims (1596), S.46.

  14. 14

    Iohn Hester (Hg): A hundred and fouretene experiments and cures of the famous physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; translated out of the Germane tongue into the Latin. Whereunto is added certaine excellent and profitable workes by B.G. a Portu Aquitano. Also certaine secrets of Isacke Hollandus concerning the vegetall and animall worke. Also the spagericke antidotarie for gunne-shot of Iosephus Quirsitanus, London: Vallentine Sims (1596), S. 54.

  15. 15

    Iohn Hester (Hg): A hundred and fouretene experiments and cures of the famous physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; translated out of the Germane tongue into the Latin. Whereunto is added certaine excellent and profitable workes by B.G. a Portu Aquitano. Also certaine secrets of Isacke Hollandus concerning the vegetall and animall worke. Also the spagericke antidotarie for gunne-shot of Iosephus Quirsitanus, London: Vallentine Sims (1596), S. 46.

  16. 16

    Nadja Prodbegar: »Die Suche nach dem Urstoff«, https://www.scinexx.de/dossierartikel/die-suche-nach-dem-urstoff/ (18.02.2011).

  17. 17

    Iohn Hester (Hg): A hundred and fouretene experiments and cures of the famous physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; translated out of the Germane tongue into the Latin. Whereunto is added certaine excellent and profitable workes by B.G. a Portu Aquitano. Also certaine secrets of Isacke Hollandus concerning the vegetall and animall worke. Also the spagericke antidotarie for gunne-shot of Iosephus Quirsitanus, London: Vallentine Sims (1596), S. 46.

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    Iohn Hester (Hg): A hundred and fouretene experiments and cures of the famous physitian Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus; translated out of the Germane tongue into the Latin. Whereunto is added certaine excellent and profitable workes by B.G. a Portu Aquitano. Also certaine secrets of Isacke Hollandus concerning the vegetall and animall worke. Also the spagericke antidotarie for gunne-shot of Iosephus Quirsitanus, London: Vallentine Sims (1596), S. 46.

  19. 19

    Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. Basel, Boston: Birkhauser (2013), S. 217.

  20. 20

    Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. Basel, Boston: Birkhauser (2013), S. 217.

  21. 21

    Flora Helvetica: Drosera Rotundifolia, https://www.infoflora.ch/de/flora/drosera-rotundifolia.html.

  22. 22

    Marti Fridli, BAFU Bern (Hg): Rundblättriger Sonnentau (Drosera rotundifolia), https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/10235.pdf (29.08.2007).