Æ Æther

Flughafen Kloten: Anatomie eines komplizierten Ortes
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Nicole Egloff

Ausflüge auf die Zuschauerterrasse

Zuschauerterrassen sind fester Bestandteil von grossen Flughäfen. An diesen komplex genutzten Orten lässt sich mehr beobachten als nur Flugzeuge.

An irgendeinem Tag im Jahr 1967 oder 1968 stehen diese Menschen mit frisierten Haaren, Hüten, Sakkos und Schmuck auf der Zuschauerterrasse. Ihre Körper reihen sich entlang eines metallenen Geländers, das subtil auf Positionierung, Bewegung und Blicke einwirkt. Inmitten der Menge steht die junge Frau mit dem etwas ›gewagteren‹ ärmellosen Oberteil, das geblümtes Kleid oder Bluse sein könnte. Ein Schmuckstück am rechten Arm, ein Taschentuch in ihrer Hand – weshalb sie dastand, warum sie hergekommen ist, an jenem Tag, bleibt uns verborgen.

Handelt es sich beim Hochhalten ihres Taschentuchs um die Abschiedsgeste einer ›Zurückgebliebenen‹? Um ein Stück Stoff in der Luft, die Aufmerksamkeit auf sich ziehend, um allfällige Tränen einer Verabschiedung zu trocknen? Oder handelt es sich um eine Geste des Grusses, an eine Ferne, an das fliegende Objekt, das gerade aufbricht? Ist das Winken mit dem Taschentuch Teil einer kollektiven Begegnung mit dieser Technik, Symbol einer geteilten Begeisterung, die an diesem Ort ihren Platz findet?

Auch Max Frisch stellte in diesen Jahren einen seiner Protagonisten, den vermeintlich blinden Gantenbein, auf eine Zuschauerterrasse. Nicht, damit dieser seine Fortschrittseuphorie auslebe, sondern um seine Geliebte, die Schauspielerin Lila, beim Anreisen mit ihren Affären zu beobachten. Das Warten an diesem Ort möge Gantenbein durchaus, auch die Düsenflugzeuge sehe er gerne.1 Aber gerade weil Gantenbeins Geschichte keine rein visuelle sein kann, geht es dabei nicht nur ums Schauen, sondern um ein multisensorisches Erleben – mit Gerüchen und hallenden Lautsprechern, beispielsweise.

Abb. 1: Menschen auf der Zuschauerterrasse, 1967/68, aufgenommen von Christian Herdeg als Teil einer Flughafenreportage.

Zuschauerterrassen finden sich an vielen Flughäfen und stell(t)en seit den Anfängen der Luftfahrt Ausflugsorte für die lokale Bevölkerung ebenso wie für Durchreisende dar. Gängige Deutungsangebote erfassen sie als Relikte der fünfziger und sechziger Jahre, eines modernen, sogar naiven Technikoptimismus. Andere verstehen Flughäfen als »spaces of flows«, wobei in solchen Erzählungen das Lokale, einzelne Menschen und ihre Handlungen, wie man sie etwa auf den Zuschauerterrassen studieren kann, stark in den Hintergrund rücken.2 Auf meinen Feldforschungsausflügen beobachtete ich, dass die kollektiven Begegnungen mit fliegenden Maschinen eingebettet sind in eine Vielzahl sozialer Praktiken. In den Händen der Winkenden sah ich nie Taschentücher. Aber sehr viele Mobiltelefone.

Alltäglichkeit

Zuschauerterrassen, Flughäfen und die Menschen, welche diese Orte beleben, werden sehr unterschiedlich repräsentiert. An meinem Laptop sitzend, irgendwann Ende Sommer 2017, tippte ich zum ersten Mal »Zuschauerterrasse Zürich« ins Textfeld der Google-Suchmaschine und fand sie als Ausflugsziel mit bunten Bildern beworben, darauf Spielgeräte, Installationen, Menschen, viel blauer Himmel, viel grauer Beton. »Zuschauerterrassen: Die besten Tagesausflüge in der Schweiz«, signalisierten mir die aufgelisteten Anzeigen. Zuoberst zeigte mir Google die offizielle Website des Flughafens Zürich-Kloten an: »Die Zuschauerterrassen B und E sind erstklassige Ziele für Familienausflüge in der Schweiz. Spannung und Faszination für kleine und grosse Flughafen Zürich Besucher«, heisst es da. Dieses »Ausflugsziel« biete »eine Reihe von Weltneuheiten« und »spannende Einblicke in die komplexen Zusammenhänge am Flughafen Zürich«.3

Seit Dezember 2011 wird die Zuschauerterrasse in ihrer heutigen Form betrieben. Mitunter kommen neue Installationen hinzu, der eine oder andere Restaurantbetrieb wird umgebaut, ganz langsam trägt Regen Materialien ab. Als Ausstellungsraum, outdoor exhibition space konzipiert,4 ist die Terrasse als Raum für Besucher*innen vorstrukturiert, durch ein Leitziel, das die »Faszination Fliegen für alle Altersgruppen erlebbar machen« soll.

Im Nutzungskonzept findet sich die »Faszination Fliegen« aufgeteilt in eine emotionale und eine rationale Komponente. Emotional gehe es um die »Freude am Fliegen«: »Das Hochgefühl, das Gefühl, dem Alltag enthoben zu sein, die Schönheit der Anblicke der Welt von oben, das Thema Fernweh, die Freude über einen Orts- und/oder Wetterwechsel«. Rational gehe es um die technische Faszination des Flugbetriebs, in physikalischer Hinsicht und im Hinblick auf die »perfekte Choreographie der Abläufe, die ineinandergreifen«.5 Über medial vermittelte Wege reicht und reichte die Zuschauerterrasse in die alltäglichen Kontexte vieler Menschen – als Angebot, aus diesen auszufliegen.

Abb. 2: Menschen in Sonntagskleidung im August 1968. Blick auf einen Teil der zweihundert Meter langen Terrasse.

So gibt es Abbildungen der Zuschauerterrassen am alten Flugplatz Dübendorf und nach 1953 am Flughafen Zürich-Kloten. Die zweihundert Meter lange Terrasse war stets dichter besiedelt, wenn berühmte Personen anreisten oder ein Tag der offenen Tür stattfand. Anhand der unterschiedlichen Geländer lassen sich bauliche Veränderungen nachvollziehen. In den frühen Jahren waren es metallene Geländer, bis die Zuschauerterrasse in Folge eines Attentats 1969 vorübergehend gesperrt wurde. Dann Betongeländer, nachdem die Terrasse auf dem 1975 gebauten Dock (B) einen neuen Platz bekam. Nach der Stilllegung 2003 wurde die Zuschauerterrasse bis zum Rückbau 2009 als Eventanlage zwischengenutzt. Seit 2011 wird sie von metallgefasstem Glas gerahmt. All diese Geländer sicherten vor Stürzen und wirkten auf die Bewegungen, das Erleben der Menschen ein, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten an und hinter ihnen aufhielten und aufhalten.

Wie kamen diese Menschen auf die Idee, sich an diesen Ort zu bewegen? Kauften sie sich am Kiosk eine Ausgabe des Magazins Zürich und lasen darin, wie »Hunderttausende von flugbegeisterten Besuchern aus nah und fern […] von der Zuschauerterrasse aus das bunte Treiben auf dem Flugsteig«6 beobachten – oder ähnliche Texte, die den Flughafen Zürich-Kloten als »Ausflugsziel« bewarben? Menschen, die darum wussten, woher auch immer, dass es Rundfahrten und -flüge gibt, Führungen, ein »Erstklass-Restaurant«, eine Neueröffnung wie das »Air Self«, mit Angeboten, »die auch für den Familienvater ohne weiteres erschwinglich sind«.7

»Sightseeing am Flughafen« fand und findet nicht nur auf der Terrasse statt, sondern auch an anderen Orten am und um den Flughafen. In einer Ausstellung gegenüber des »Flughofes« konnten Modelle multisensorisch erlebt, auf dem Aussichtspunkt Butzenbühl Flugzeuge beobachtet werden. Rund um Zürich-Kloten gibt es viele Orte, an denen sich »Sonntagsausflügler« auf eine Sitzbank oder gemähte Wiese setzen konnten, um Flugzeuge zu sehen – oder auch nicht, wie dieses Kind auf Abbildung 3, weder Smartphone noch Tablet in der Hand, aber vielleicht ein anderes Medium.

Wenn es Ausflüge waren, die diese Menschen machten, an Tagen der »Freiheit und Entspannung hinaus aus der Straffung von Dienst und Pflicht«,8 dann hatten sie einen Alltagskontext mit entsprechenden zeitlichen Strukturierungen und Rhythmen. Gerade in der Abkehr vom Alltag und seinen Zeitmustern kann eine moderne touristische Intention ausgemacht werden.9 Das Bedürfnis nach Abwechslung erhält darin eine sinnhafte Konnotierung. Das Fortfliegen wie auch das Ausfliegen bringen Abwechslung in die gewohnten Zeitmuster, die alltäglichen Begegnungen mit verschiedenen Maschinen, die routinierte Ausführung entsprechender Alltagstechnologien. Die Vorbereitungen fanden daheim statt – dort, wo Kinder angezogen, Essen und andere Lebensmittel vorbereitet wurden. Dort, wo einige Windeln, Wechselkleidung und Taschentücher einpackten, andere nicht.

Zugang

Auch mein erster eigener Ausflug auf die Zuschauerterrasse an einem sonnigen Mittwoch Mitte Oktober 2017 beginnt in meinem Zuhause, mit Gedanken an vergangene Sicherheitskontrollen und Flughafenaufenthalte. In der Küche koche ich Essen vor, Babybrei, packe Lebensmittel, die Wasserflasche, Windeln, Wechselkleidung, den Laptop und mein Feldforschungstagebuch in meine Taschen. Schaue auf meiner SBB-App die nächste Zugverbindung nach und setze mich in Bewegung, mein fünfzehnmonatiges Kind im Buggy mit mir führend. Schwarze Leggins, schwarzes Kleid unter rosafarbenem Pullover, darüber eine dunkelblaue Stoffjacke, mein Kind in grau und blau gestreiftem Pulli, darauf ein Maulwurf mit Schaufel in der Hand, braune Cordhose, wir beide in bunten Turnschuhen.

Unser Weg führt durch Tram, Zug und vier Aufzüge, verbieten mir doch kleine rotweissschwarze Symbole am rechten unteren Anfang der Rolltreppen, diese mit Kinderwagen zu benutzen. Zwischen Terminal 2 und Dock B gehe ich an einer beidseitigen Wandinstallation mit dem Titel »Faszination Fliegen« vorbei. 270 Aluminiumlamellen bedecken diesen Zwischenraum, im Abstand von je 31 Zentimeter angeordnet, um den Besuchenden durch eine »himmlische Eingangsinszenierung« in blau und weiss schreiten zu lassen. Durch die Lamellen fällt Licht in die angegliederte Restaurantküche, wie es das Arbeitsschutzgesetz verlangt. Die »Faszination Fliegen«, hier repräsentiert durch ein Bildnis aus Himmel, Wolken und einer davonfliegenden Swiss-Maschine, begegnet mir erneut, noch bevor ich die Terrasse betrete.

Abb. 3: Zuschauer auf einer Wiese, vermutlich bei Oberglatt. Teil einer Reportage zu »Plane Spotters« aus dem Jahr 1979.

Die letzte befahrbare Steigung beschreitend, finde ich zu meiner Linken die Flughafenkapelle, zur Rechten eine Glastür, die sich öffnet, nachdem ein Sensor unsere Körper und Bewegungen erfasst hat. Ein Zwischenraum mit silbernen Stehtischen und Aschenbechern, daneben ein provisorisches Selbstservice-Restaurant: Ich sehe PET-Flaschen und Plastikbesteck auf den Tischen, Essen in weissen Plastiktellern, mit Ausnahme des »asiatischen« Gerichtes, das bei der Essensausgabestelle in braune, recyclebare Gefässe geschöpft wird.

Die Schlange für den Einlass beginnt schon vor der nächsten Glastüre, welche die Zugangsschwellen markiert. Hunde dürfen sie nicht überschreiten – es sei denn, sie begleiten nicht oder wenig sehende Menschen. Auf dem Glas kleben in Form von Symbolen Ver- und Gebote sowie eine Karte, welche die Terrasse in reduzierter Komplexität darstellt. Schulferien, Wochentage und Witterungsverhältnisse wirken auf die Besucher*innenzahlen besonders stark ein. Durchschnittlich sind dies 1000 Personen täglich, die Hälfte davon Kinder, zwei Drittel Familien. Die erste, ökonomische Schwelle ist eingebettet in einen Eingangsbereich mit der Überschrift »Kasse/Aviatikshop«. Der Eintritt wurde seit den fünfziger Jahren erhoben und seitdem stetig erhöht. Der Shop kam Mitte der neunziger Jahre dazu, um die Attraktivität der Zuschauerterrasse zu steigern.10 Neben mir wartet eine Familie mit vier Kindern, die sich abspricht, ob sie die Terrasse trotz des hohen Preises betreten soll – jetzt, da sie extra hergefahren seien. Ich sehe mit Preisschildern versehene Modellflugzeuge, Taschen und Sonnenbrillen, während ich der Person auf der anderen Seite des weissen Tresens ein Fünffrankenstück reiche und dafür für mich und mein Kind zwei Eintrittskarten, fünf Buntstifte, ein Ausmalbuch und zwei Gutscheine für reduzierte Hotdogs erhalte.

Auf die ökonomische folgt eine weitere Schwelle, die Sicherheitskontrolle. Ich stecke mein Ticket in einen Automaten, die gläserne Türe öffnet sich, ich schiebe den Buggy hindurch und werde angewiesen, ihn zu entleeren und mitsamt Inhalt zusammengefaltet auf das Laufband zu legen. Hinter mir sagt ein Mann zu einem Jungen, dass sie sofort nach Hause gehen werden, wenn dieser sich »nicht benimmt«. Die Sicherheitskontrolle gibt es seit der Eröffnung des neugebauten »Fingerdocks« (B) Mitte der siebziger Jahre.11 Ich erhalte den Buggy wieder, versuche schnell, alles zusammen zu packen. Mein Kind läuft mir davon, durch die nächste Schiebetür auf die Terrasse.

Rundgang

Alle Schwellen überwunden, stehe ich dann da, etwas gestresst und verschwitzt, mein Kind auf dem rechten Arm. Ich lasse meinen Blick über die Zuschauerterrasse und das Dahinterliegende schweifen – viel Glas, Beton, Metall, Gebäude, Pisten, arbeitende Menschen, Flugzeuge, Wiesen, Wald, Hügel, Himmel. Dies wird jetzt mein Forschungsfeld sein, denke ich um 11.30 Uhr. Was werde ich hier wohl erkennen?

Meinem Kind folgend bewege ich mich die Treppen hinunter auf den begehbaren Vorfeldturm, wo zwei Mädchen die von der Swiss gesponserten Informationstafeln laut vorlesen. Wir gehen die Treppe wieder hoch in Richtung des Ortes, an dem sich die meisten »nicht arbeitenden« Menschen befinden: Am äussersten Ende der Terrasse, dort, wo ein Spielplatz zu finden ist, mit Betonbänken gerahmt, die ohne Lehnen verschiedene Positionierungen erlauben. Die meisten Sitzenden schauen auf die spielenden Kinder, vielleicht auch an ihnen vorbei, auf die Pistenlandschaft und noch weiter oder auf einen Bildschirm in ihrer Hand. Neben den Menschen gibt es Dinge auf den Bänken: Jacken, Taschen, Trinkflaschen, Essen. Um eine der Bänke herum sitzen drei Erwachsene und neun Kinder am Boden, sie essen, in dieser Anordnung, wie sie der Kultur von Kinderkrippen oder ähnlichen Betreuungsinstitutionen so eigen ist.

Die sozialen Praktiken rund um die Zuschauerterrasse und die sie umgebenden Orte des Erlebens, die alle auch Bildungsorte sein können, sind vielfältig.

Die Hauptaktivitäten konzentrieren sich um den Spielplatz und die spielenden Kinder. Bereits in den achtziger Jahren befand sich auf der damaligen Terrasse eine metallene »Spielplastik« von Iwan Pestalozzi mit dem Titel Wolkenhüpfer, die zugleich Kunstwerk war.12 In den neunziger Jahren kamen im Zuge einer Attraktivitätssteigerungsmassnahme neue Spielgeräte, »eine Gruppe farbenfroher Gebilde aus Holz und Stahl«,13 dazu. Seit 2011 ist der Spielplatz einem »Mini-Flugplatz« mit Tower- und Flugzeugrutschen nachempfunden.

Gelegentlich drehen manche der anwesenden Menschen ihren Körper nach »aussen« ab, um sich der beworbenen Choreographie des Flughafens zu widmen. Ein älteres Paar steht da, dicht beieinander, mit dem Zug aus St. Gallen angereist, kommentiert es eine startende Swiss-Maschine. Ein Mann hebt seinen Sohn hoch, damit dieser durch das Airportscope schauen kann, dadurch ein Flugzeug und eingeblendete Zusatzinformationen sehend. Daneben stehen zwei fotografierende Flugbegleiterinnen am Geländer, die Unterarme auf das Geländer gestützt, in ein Gespräch vertieft. Eine Frau kauert am Boden, ruft ein Kind, nimmt es auf den Arm und zeigt auf ein Flugzeug. Nur kurz stehen sie da, zeigend, schauend, schon dreht sie sich wieder um, lässt das Kind runter, geht ihm nach, wieder zurück, auf die Trampoline, die wie Wolken ausschauen sollen.

Auf diesem Hügel stehe ich ebenfalls, meine Füsse auf dem hellen, weichen Material, das zwei kleinere und ein grösseres Trampoline aus dickem, dunklem Gummi einfasst. Hier stehe ich neben meinem Kind, es an der Hand haltend, bei dem Versuch zu hüpfen, ohne bereits hüpfen zu können, andere Kinder dabei imitierend. Neben mir, ebenfalls auf dem kleinen Hügel stehend, höre ich eine Frau zu einem etwa achtjährigen Jungen sagen, dass gleich das »grösste Flugzeug« starten werde: »Die Singapur Airline«. Ich wende mich ihr lächelnd zu und sage »Sie kennen sich aber gut aus«, oder so ähnlich. Darauf antwortet sie abwinkend, ebenfalls lächelnd, sie habe das nur gerade bei einer anderen Mutter »aufgeschnappt«. Sie zeigt in Richtung der vielen Menschen, die sich an der vordersten Stelle der Zuschauerterrasse versammelt haben.

Abb. 4: Reflexion auf Glasfassade an der Schnittstelle von Land und Luft.

Das Flugzeug startet Punkt zwölf Uhr und zieht für kurze Zeit die kollektive Aufmerksamkeit auf sich. Nur wenige Minuten später haben sich die Menschen schon wieder wegbewegt, verstreut, auf ihren Wegen. Nun ist die ›Front‹, wie ich diese Stelle in Ermangelung eines anderen Ausdrucks nenne, wieder so durchsichtig wie zuvor. Auf den rund gegossenen Betonstühlen wird gestillt, Schulkinder bekommen ihre Trinkflaschen überreicht, um den Spielplatz sitzen Menschen mit belegten Brötchen und Salaten in Plastikschalen. Neben mir löffelt eine Frau ihrem Baby mitgebrachten Brei. Auch im Aviolino essen Menschen, einige an einem Tresen, der sich an der hohen Fensterfront entlangzieht, den Blick immer wieder nach draussen gerichtet. An den Massivbetontischen vor dem Restaurant sehe ich eine Frau mit Kind sitzen, einen Hot Dog für drei Franken fünfzig essend, immer mal wieder auf etwas zeigend.

Einige Zeit später sitze ich auf einer anderen Betonbank, »Palma de Mallorca 999 km« steht darauf. Hier schreibe ich in meinem Forschungstagebuch, während mein Kind im Buggy neben mir schläft. In meinem Blickfeld befindet sich der Eingangsbereich, in dem Tickets für die Rundfahrten erworben werden können. An dieser Stelle funktioniert die Signaletik trotz nachträglicher Korrekturversuche nicht ganz so wie ursprünglich intendiert: Ich sehe, wie Menschen von aussen an die Glasscheibe klopfen, obwohl sie ihre Fahrkarten drinnen erwerben sollen.

Eine ältere Frau, die sich als »Flughafenfan« bezeichnet, macht mich darauf aufmerksam, dass die Sonne in den Wagen scheint. Ich drehe ihn, dankbar, über meine Unaufmerksamkeit mit jemandem ins Gespräch zu kommen, und erfahre, dass sie sehr oft herkomme, wenn ihr »zu Hause das Dach über den Kopf« falle. Die Unterhaltung streift trotz Fluglärm schlafende Kindern, ihre Mitgliedschaft in einem lokalen Flughafenverein und anderes, bis sie mir den Tipp gibt, um 15.30 Uhr nach vorne zu gehen. Ihr ausgestreckter Zeigefinger zeigt dabei auf das äusserste Ende der Terrasse, wo sich das Erlebnis vom Morgen einige Minuten später wiederholen wird: Bald entdecke ich die erneute Versammlung, weit über hundert Menschen, einige mit Schirmmützen, viele mit Rucksäcken, hin und wieder mal jemand in Anzug oder mit Spotter-Ausrüstung. Spiegelreflexkameras, handliche Digitalkameras, Tablets. Smartphones werden in die Luft gehalten, als ich mich auf eine der Betonbänke stelle mit dem Vorhaben, die Menschen bei dieser Begegnung fotografisch zu dokumentieren.

Als die Maschine von rechts ins Sichtfeld rollt und kurz darauf von der Piste abhebt, drehen sich die vielen Menschen synchron zur Maschine um. Sie zeigen, winken, halten Kinder und Kameras, manche eine Hand flach über die Augen, und folgen mit ihren Körpern der startenden Maschine von rechts nach links. Auch ich drehe meinen Körper, fotografiere anfangs noch die Menschen, wie sie sich an dem Geländer der Zuschauerterrasse kollektiv bewegen. Bis ich meinen Auslöser erneut drücke und zugleich feststelle: Was ich gerade festhalte, ist das Gleiche wie viele dieser Menschen auch: Ein Flugzeug der Emirates vor weitem, blauem Himmel. Ich habe meinen Fokus verloren.

Abb. 5: Bilder, die nach Hause getragen werden: Eine Maschine der Emirates und die Flughafenlandschaft.

Mit dem goldenen Licht der untergehenden Sonne kommen weniger Menschen. Viele sitzen auf den Bänken, einige auf den Spielgeräten. Zwei Mädchen liegen in der runden Schaukel und schauen sich gemeinsam die Fotos an. Die Airportscopes und Informationsstellen werden nur noch selten genutzt. Ich folge meinem Kind, spreche hie und da noch mit anderen Kindern, Teenagern und Erwachsenen, erfahre von den vielfältigen Beweggründen, die sie an diesen Ort geführt haben. Um einen Ausflug zu unternehmen, um die Familie zu treffen, weil der letzte Besuch schon so lange her ist, oder die Terrasse nah vom Zuhause, wegen der Aussicht, zum hangen während der Schulferien, zum Fotografieren, um ein Feierabendbier zu trinken oder wegen ihres Tinderdates. Während ich die Zuschauerterrasse verlasse, den Buggy die Rampe herunterrollend, sehe ich, dass die Lamellen mir ein anderes Bild zusammensetzen. Keinen Himmel mehr. Der Ausgang muss sich vom Zugang visuell unterscheiden – so eine andere Richtlinie, die auf die Gestaltung dieser Installation einwirkte.

Erinnerungen

Zuhause treffe ich nun immer wieder die Ausmalbücher und Stifte an, die mir für mein Kind gegeben wurden. Ich denke daran, dass der Flughafen weit in viele Haushalte der Schweiz hineinreichen muss: »Falls du nicht fertig wirst, kannst du auch zu Hause weiter machen. Schliesslich sollst du genügend Zeit haben, um die echten Flugzeuge anzuschauen«, steht in dem Ausmalbuch geschrieben. In der Didaktikabteilung der Pädagogischen Hochschule Zürich, wo ich mich auf der Suche nach dem Buch zum fünfzigjährigen Jubiläum des Flughafens wiederfinde, sehe ich, dass mehrere Lehrmittel den Titel »Faszination Fliegen« tragen. Kinderunis bieten dazu Kurse an. Sie begegnet(e) vielen Menschen früh in ihrem Leben. Im Jubiläumsbuch ist ein Essay mit demselben Titel abgedruckt. Der Schriftsteller Martin R. Dean sucht darin nach den Gründen für die Faszination, die sich so schwer in Worte fassen lässt. Er findet sie in seiner Kindheit, eingebettet in Erinnerungen an die Ausflüge zur Zuschauerterrasse in den sechziger Jahren:

»Dann, durch die Verglasung in der Abflughalle, ein erster Blick auf die an- und abfliegenden ›Riesenvögel‹. Ein Blick, der mich zurückführt in meine Kindheit in den sechziger Jahren, als ich sonntags mit meinen Grosseltern aus dem aargauischen Menziken nach Kloten fuhr, um die Flugzeuge zu sehen. Von meinen Grosseltern lernte ich das Staunen über die ›wunderbaren‹ Maschinen, durch sie, die zeitlebens kaum gereist waren, übertrug sich das Fernweh angesichts der weiten, exotischen Destinationen auf mich. Der alljährlich stattfindende Ausflug zum Flughafen war ein seltsames Ritual, das sich heute kaum mehr vorstellen lässt: wir pilgerten dahin, um, wie damals ein berühmter Werbeslogan sagte, ›den Duft der grossen weiten Welt‹ einzuatmen. Und ebenso, um alljährlich mit dem Fortschritt der Technik in Kontakt zu kommen. Kein anderes Gebiet als das der Aeronautik symbolisierte damals den Fortschrittsgeist und die Aufbruchstimmung besser. Worauf wir, nach dem Verzehr eines Schinkensandwichs im Flughafenrestaurant, wieder in die Zeitabgewandtheit eines ländlichen Wohnortes zurückkehrten.«14

Greifbares, wie das Schinkensandwich, und Zugeschriebenes, wie der Fortschrittsgeist, vermengen sich in dieser konstruierten Kindheitserinnerung, verfasst von einem Schriftsteller, der einst Germanistik, Philosophie und Ethnologie studiert hat.

Abb. 6: Frau mit Kindern, 1967/68, aufgenommen von Christian Herdeg als Teil einer Flughafenreportage.

Während ich auf einem anderen Spielplatz sitze, mein Kind an der Hand, das mittlerweile von kleinen Steinmäuerchen hüpfen kann, denke ich zurück an das Wolkentrampolin und die »Faszination Fliegen« in seinen materialisierten Formen. Zuhause angelangt, stelle ich fest, dass ich auf meinen Feldforschungsausflügen 234 Fotografien gemacht habe. Viele Menschen dokumentierten und dokumentieren ihre Aufenthalte auf der Zuschauerterrasse. Bilder können die Präsenz bestätigen, werden vielleicht an Verwandte und Freunde verschickt. Sie können Erlebtes vergegenwärtigen, auf Trägermedien gespeichert, als Abzüge in Fotoalben geklebt. Auf den Zuschauerterrassen werden nicht nur Flugzeuge fotografiert. Auch Menschen, insbesondere Kinder, sind oft im Fokus. Ich erinnere mich, wie mein Kind auf dem Spielplatz stand, ein schnell lauter werdendes Getöse hörbar wurde, es den Kopf in den Nacken legte, um den Blick nach oben zu richten, auf diese Art Geräusch und seine damalige Konzeption von fliegendem »Flugzeug« verbindend. Und daran, wie ich vor seinem Gesicht mit meinen Fingern schnipste, um seine Aufmerksamkeit zu lenken, mit meiner zeigenden Hand, auf das rollende Flugzeug, mit Boden unter den Rädern.

Abb. 7: Frau und Kind im »Top Air«, 1968.

Die sozialen Praktiken rund um die Zuschauerterrasse und die sie umgebenden Orte des Erlebens, die alle auch Bildungsorte sein können, sind vielfältig. Zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten zogen sie Menschen an, um zu ihr, mit ihr auszufliegen. Die einen in Turnschuhen, andere nicht. Um den Gutschein einzulösen und einen reduzierten Hotdog zu essen, oder am abendlichen Buffet Ananas und Kaviar. Um an einem Tisch zu sitzen, im neueröffneten »Top Air«, beispielsweise, ein Stockwerk über der Terrasse, wie die Frau auf Abbildung 7 mit Kind im Jahr 1968. Die eine Hand zeigend, die andere auf weissen Stoff gelegt, in einem vollklimatisierten und gestuften Raum, hinter schalldichten Fenstern.15 Einiges hat sich verändert. In den Händen der heutigen Winkenden sah ich nie Taschentücher. Aber bei genauer Beobachtung sind sie auf den Zuschauerterrassen noch immer zu finden – verborgen in Händen und Taschen.

Nicole Egloff studiert im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Christian Herdeg, Zuschauer auf der Zuschauerterrasse (später mit Terminal A bezeichnet) am Flughafen Zürich-Kloten, 1967–1968, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_SR05-200445-16A.

Abb. 2: wel, Besucher auf der Zuschauerterrasse in Zürich-Kloten, 08/1968, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Com_L17-0464-0235.

Abb. 3: Unbekannt, Zuschauer auf einer Wiese, vermutlich bei Oberglatt, 1979, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_SR05-079063-15A.

Abb. 4: Eigene Aufnahme, Reflexion auf gläserner Aussenfassade, Oktober 2017.

Abb. 5: Eigene Aufnahme, Emirates vor weitem Hintergrund, Oktober 2017.

Abb. 6: Christian Herdeg, Zuschauerterasse am Flughafen Zürich-Kloten, 1967–1968, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_SR05-200447-27.

Abb. 7: Jürg H. Meyer: »Hier ist die Welt zu Gast«, in: Zürich. Offizielle Zeitschrift des Interkontinentalen Flughafens Zürich-Kloten und des Verkehrsvereins Zürich 26 (1968), S. 25–27.

Literatur
  1. 1

    Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt am Main: Suhrkamp (1974), S. 125–126.

  2. 2

    Jörg Potthast: Die Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft: Eine Ethnografie von Pannen an Grossflughäfen, Bielefeld: transcript (2007), S. 7–8.

  3. 3
  4. 4

    Vgl. Peter Adey: »Architectural Geographies of the Airport: Mobility, Sensation and the Theater of Flight«, in: Geografiska Annaler 90/1 (2008), S. 29–47, hier S. 44–45.

  5. 5

    Flughafen Zürich AG: »Leitgedanke und Besucherführung«, Auszug aus dem Nutzungskonzept Neue Zuschauerterrasse B, am 24.10.2017 ausgehändigt von Rebecca Veiga.

  6. 6

    »›Sightseeing‹ im Flughafen« (o.V.), in: Zürich. Offizielle Zeitschrift des Interkontinentalen Flughafens Zürich-Kloten und des Verkehrsvereins Zürich (Juli 1963), S. 10–11.

  7. 7

    Jürg H. Meyer: »Hier ist die Welt zu Gast«, in: Zürich. Offizielle Zeitschrift des Interkontinentalen Flughafens Zürich-Kloten und des Verkehrsvereins Zürich (Winter 1968), S. 25–27.

  8. 8

    Walter Bäumlein: »Von Zürich aus … Ausflugsfahrten auf und um den See«, in: Zürich. Offizielle Zeitschrift des Interkontinentalen Flughafens Zürich-Kloten und des Verkehrsvereins Zürich (Juli 1963), S. 15–16.

  9. 9

    Kornelia Hahn, Alexander Schmidl: »Einleitung: Zum Verhältnis von Websites und Sightseeing«, in: dies. (Hg.): Websites und Sightseeing: Tourismus in Medienkulturen, Wiesbaden: Springer (2016), S. 1–12, hier S. 3.

  10. 10

    Sandra Valisa: »Auf Bienen fliegen«, in: Zurich Airport 30 (1996), S. 10–11.

  11. 11

    »Der Duft der weiten Welt« (o.V.), in: Flughafen Information 5 (1976), S. 13.

  12. 12

    »Titelbild« (o.V.), in: Zurich Airport 7 (1987), S. 2.

  13. 13

    Sandra Valisa: »Auf Bienen fliegen«, in: Zurich Airport 30 (1996), S. 10–11.

  14. 14

    Martin R. Dean: »Faszination Fliegen. Essay«, in: Flughafendirektion Zürich (Hg.): Flughafen Zürich: 1948–1998, Zürich: AS Verlag (1998), S. 165–169, hier S. 166.

  15. 15

    Jürg H. Meyer: »Hier ist die Welt zu Gast«, in: Zürich. Offizielle Zeitschrift des Interkontinentalen Flughafens Zürich-Kloten und des Verkehrsvereins Zürich (Winter 1968), S. 25–27.