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Flughafen Kloten: Anatomie eines komplizierten Ortes
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Jonathan Holst

Das Machen von Nicht-Orten

Obdachlose bewohnten den Flughafen Kloten über Jahre hinweg fast unbemerkt. In letzter Zeit wurden sie zahlreicher und sichtbarer. Der Flughafen ist für sie seither ein unwirtlicher Ort.

Vor Ort

Ein Tag im März 2006.1 In der Flughafenkapelle stehen dichtgedrängt Reinigungskräfte, Seelsorger*innen, die Musiker aus Südamerika. Octavio, der Panflötenspieler, bahnt sich seinen Weg zum Altar. Er erblickt ein Foto von Frau R., die Hut und Sonnenbrille trägt, so wie sie alle kannten. Octavio wischt sich eine Träne aus dem Gesicht und spricht ein leises Abschiedswort. Mit Frau R. hat er eine Freundin verloren, die er oft sah, wenn er mit seiner Musik Geld verdiente. Die Obdachlose hatte seit über zehn Jahren Tag und Nacht am Flughafen verbracht.

Zehn Jahre sind eine lange Zeit für einen Ort, der für den Transit gemacht ist und den Leute eigentlich nicht frequentieren, um soziale Beziehungen aufzubauen. Es ist eine weit verbreitete Vorstellung, ein Flughafen sei ein Ort der Nicht-Kommunikation, der grossen Masse, in der die eigene Individualität verloren gehe. Ein Ort, den der französische Ethnologe Marc Augé Nicht-Ort nennt.2 Flughäfen erscheinen in den Kulturwissenschaften als Sinnbild einer postmodernen Welt, deren Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen die Menschen in eine Rastlosigkeit treiben, die den Namen der Obdachlosigkeit oder des Nomadentums zu verdienen scheint.3 Wenn der Kulturwissenschaftler Ian Chambers den Flughafen als »inhibited by a community of modern nomads«4 bezeichnet, meint er folglich nicht etwa Menschen, deren Wohnungslosigkeit sie dorthin treibt, sondern »uns« alle, sofern wir diesen transitorischen – und kommunikativ verarmten – Ort betreten.

Umso eindrücklicher bringt die Zusammenkunft in der Flughafenkapelle die unbemerkte Seite des Transits zum Vorschein. Reinigungskräfte, Serviceangestellte, Seelsorger*innen – es handelt sich nicht um Passagiere, sondern um Menschen, die am Flughafen arbeiten: ganze 27 000 sind das im Jahr 2018. Für sie ist der Flughafen weniger Transitraum als ein Ort des Arbeitsalltags, wo sich Interaktionen mitunter zu sozialen Netzen verstetigen. Doch der Blick auf eine Wohnungslose wie Frau R. vermag die Rede von der Obdachlosigkeit als Metapher für das mobile Dasein am Flughafen am deutlichsten herauszufordern,5 hatte sie hier doch einen Alltag und war – so paradox das klingen mag – sesshaft. Der Flughafenpfarrer Walter Meier kannte Frau R. schon vor ihrem Tod. Hin und wieder trank er mit ihr einen Kaffee in seinem Büro und nahm einen Wiesenblumenstrauss entgegen, den Frau R. gepflückt hatte.

Frau R. war nicht die einzige Terminalbewohnerin; sie ist Teil einer grösseren Geschichte von Obdachlosigkeit am Flughafen Zürich, die ich hier erzählen möchte. Diese Geschichte legt nahe, die Rede von Flughäfen als Nicht-Orte nicht einfach pauschal zurückzuweisen, wie es in der Augé-kritischen Literatur mitunter getan wird.6 Vielmehr möchte ich das Konzept des Nicht-Orts über diesen kritischen Ansatz hinaus historiographisch produktiv einsetzen und als Zuschreibung verstehen, mit der sich Wandel erzählen lässt. Ein Flughafen ist nicht einfach ein Nicht-Ort, sondern er wird je nach Interessenlage verschiedener Akteure erst dazu gemacht. Für Obdachlose hat sich der Flughafen Zürich seit Anfang 2013 zu einem Raum entwickelt, an dem sie zunehmend unerwünscht waren und an dem sich ihre soziale Vernetzung immer schwieriger gestaltete. Im September 2017 wurden sie schliesslich systematisch vertrieben. Für die verbliebenen Obdachlosen ist der Flughafen Zürich-Kloten erst zum Nicht-Ort geworden.

Abb. 1: Ort oder Nicht-Ort? Begegnungsstätte oder Transitraum? Die Geschichte der Obdachlosen entspinnt sich zwischen diesen beiden Polen.

Der Raum des Transits erscheint als Hülle, in der sich Obdachlose samt ihrer sozialen Netze einnisten konnten und unsichtbar blieben.

Ein Netz im Verborgenen

Am 11. April 2013 fand schweizweit ein Gedenktag für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen statt. Er war symptomatisch für eine neue und anhaltende Sichtbarkeit gesellschaftlicher Randgruppen.7 Erfasst hatte das öffentliche Interesse auch die Gruppe obdachloser Menschen am Flughafen Kloten. Dass immer wieder Obdachlose am Flughafen übernachteten, hatte in den Jahren zuvor nur wenig Aufmerksamkeit erregt. Doch ab 2012 begannen Journalist*innen, Menschen ohne Obdach vor Ort zu entdecken. Was sie bezeugen: Es gab eine Zeit, in der Obdachlose nicht vom Flughafen vertrieben wurden und dort vorfanden, was sie zum Leben brauchten. Folgt man der Journalistin Carole Koch, dann meldete zum Beispiel Kris, eine Obdachlose am Flughafen, den Polizist*innen regelmässig Pöbler und Randalierer. Sie wurde damit nicht nur mit Toleranz, sondern auch mit Gebäck oder Leckereien für ihren Hund belohnt. Auch mit den Cafébetreiber*innen ging sie komplizenhafte Verhältnisse ein, legte morgens Gratiszeitungen aus und bekam im Gegenzug Kaffee und Croissant. »Der Flughafen ist auch mein Arbeitsplatz«,8 interpretierte Kris diesen Interaktionsraum.

Einige Obdachlose besuchten regelmässig die Seelsorger*innen um Pfarrer Meier, die sie oft mit einem offenen Ohr, Kaffee und einer Spende empfingen.9 Sozialer Treffpunkt waren zudem die Bänke am Busbahnhof des Airports: Hier tranken einige Obdachlose zusammen Bier, ehe sie auf die Suche nach Schlafmöglichkeiten gingen.10 Davon hielt das Airport Center viele bereit – die Sofas der Cafés, kalte Aluminiumbänke, die dem Körper besondere Haltungen abverlangten, Nischen, die kaum ein Passagier je zu Gesicht bekam. Ab zehn Uhr abends, berichtet Carole Koch, habe das Anstehen begonnen für die besten gepolsterten Plätze in der Bye Bye Bar, bei Starbucks oder Sprüngli. Die Mitarbeiter*innen kannten die nächtlichen Besucher*innen und tolerierten sie. Doch die nie endende repetitive Musik und morgendliche Weckdienste durch Mitarbeitende oder die Polizei störten Manchen den Schlaf.

Gespräch mit Stefano am 7. November 2017 nach einem Mittagessen im Chrischtehüsli.

Abb. 2: Bänke am Flughafen verbindet man gewöhnlich mit dem bevorstehenden Transit. Sie lassen aber auch als Teil lokaler sozialer Netzwerke begreifen.

Stets aber waren die meisten Obdachlosen ab halb zwölf Uhr abends, als die Nachtflugsperre die Hallen und Flure leerte, von einer einschläfernden Wärme und der Sicherheit der patrouillierenden Flughafenpolizei umgeben. Bei einem meiner Besuche im Chrischtehüsli, einer Anlaufstelle für Obdachlose, erzählte mir der obdachlose Julian, warum er sich 2013 für die Übernachtungen am Flughafen entschied: In der städtischen Notschlafstelle habe er pro Nacht fünf Schweizer Franken bezahlen müssen und im Pfuusbus der Sozialwerke Pfarrer Sieber werde geklaut, es sei eng und stickig. Auch für solche Fälle bot der Flughafen das Changieren zwischen freiem Himmel und der manchmal zu trockenen Terminalluft. Als ich abends mit dem Koch eines Flughafenrestaurants spreche, berichtet er mir von einem Spalt hinter der Tramstation, der oft als eine Art Übergangswohnung gebraucht worden sei, wenn das Wetter zu schlecht für den Wald und zu gut für das Terminal gewesen war.

Das Interaktionsnetz der Obdachlosen wurde nicht nur von einzelnen Akteuren und der Infrastruktur im Flughafen gestützt, sondern auch vom Flughafenmanagement – zumindest passiv. Aufmerksam geworden durch erste Zeitungsartikel, widmete der SRF dem Thema Obdachlosigkeit am Flughafen Zürich-Kloten Weihnachten 2012 einen kleinen Beitrag, in dem auch die Pressesprecherin des Flughafens, Sonja Zöchling, interviewt wird.11 Es gebe, so bekundet sie, mit den rund zehn Obdachlosen am Flughafen kaum Probleme. Solange sich die Besucher*innen an die Hausordnung halten, toleriere man sie. Nur in Ausnahmefällen seien Hausverbote ausgesprochen worden.

Laut Hausordnung waren und sind einige Praktiken verboten, die gemeinhin mit Obdachlosen assoziiert werden: Betteln, Durchsuchen von Abfallbehältern, Trinken von Alkohol ausserhalb der Restaurants oder das Verunreinigen des Flughafenareals.12 Doch offenbar entsprachen die Obdachlosen, die kamen, diesem Klischee nicht. Sie verhielten sich nicht wie ›typische‹ Obdachlose – und für die eigene Hygiene standen sogar gereinigte WC-Räume zur Verfügung. Mehr noch als der Hausordnung zu genügen, schienen dem Beitrag des SRF zufolge viele Obdachlose im transitorischen Treiben regelrecht zu verschwinden. Der interviewte Kostas sah gepflegt aus und trug unauffällig gute Kleidung – keine Seltenheit für Menschen ohne Obdach: In der Schweiz ist der Kleiderspendenmarkt bestens versorgt; teilweise mit nie getragener Markenkleidung.13 Zudem verschwimmt am Flughafen die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Sich hinzulegen und auszuruhen, sich im WC das Gesicht zu waschen oder im Terminal das Hemd zu wechseln, seinen Koffer zu öffnen – all das ist hier ›normal‹, weil der Flughafen eben auch ein Durchgangsort ist.14

Das zeigt: Obdachlose Lebenswirklichkeiten verhielten sich nicht ausschliesslich antipodisch zu vermeintlichen Merkmalen eines Nicht-Orts. Vielmehr erscheint der Raum des Transits zugleich als Oberfläche oder Hülle der Obdachlosen, in der sie sich samt ihrer sozialen Netze einnisten konnten und unsichtbar blieben. Und tatsächlich: Während das Flughafenmanagement auf Anfrage der NZZ angab, von nur etwa zehn Obdachlosen regelmässig frequentiert zu werden, hatten Patrouillen der Sozialwerke Pfarrer Sieber, erfahren in der aufsuchenden Gassenarbeit, dort schon im Winter 2011 über vierzig gezählt.15

Sichtbare Unsichtbarkeit

Bald schon ergriff das Flughafenmanagement Massnahmen, die darauf abzielten, Obdachlose zu vertreiben. Ab 2014 war es nicht mehr erlaubt, in der Nacht auf den Sofas der Cafés zu schlafen. Rotes Absperrband signalisiert seitdem das Verbot. Auch die wesentlich unbequemeren Aluminiumbänke fernab der Restaurants standen nicht mehr zur freien Verfügung. Denn auf ihnen war es den Obdachlosen nur noch gestattet, im Sitzen zu schlafen. Nachts sollte die Polizei Personen wecken und das Flugbillet kontrollieren. Nur wer eines hatte, sollte auch weiter liegen dürfen.15 Ergänzt wurden diese Massnahmen, die übrigens nicht explizit in die Hausordnung aufgenommen wurden, durch eine Kooperation mit dem Zürcher Sozial- und Ordnungsdienst »Sicherheit Intervention Prävention« (sip). Ab Sommer 2015 sprachen sip-Mitarbeiter*innen auf nächtlichen Patrouillengängen vor allem an den Wochenenden Obdachlose an – mit dem Ziel, sie mit ihren Heimatgemeinden zu vernetzen und sie dazu zu bewegen, dorthin zurückzukehren. Die Aufgabe, die Hausordnung durchzusetzen oder gar Obdachlose wegzuweisen, hatte die sip – dem eigenen Selbstverständnis nach als Vermittlerin von Toleranz im öffentlichen Raum agierend – jedoch nicht.

Abb. 3: Unter den Obdachlosen begehrt und bald verwehrt: Infrastrukturen des Wartens.

Warum aber nahm das Flughafenmanagement Obdachlose plötzlich als Problem wahr? Als das SRF Anfang 2016 die Pressestelle des Flughafens abermals zu den ungeliebten Gästen interviewte, präsentierte sie eine deutlich veränderte Bilanz. Nicht nur habe sich seit Beginn des Jahres 2013 die Anzahl der Obdachlosen am Flughafen drastisch erhöht, auch sei es vermehrt zu Verstössen gegen die Hausordnung gekommen: Die Obdachlosen hätten WC-Anlagen verunreinigt und Leute angepöbelt, weshalb sich das Management für »strengere Richtlinien« entschieden habe.16

Im neuen Umgang mit Obdachlosen drückte sich indes mehr aus als die Insistenz auf bestehende Regeln, nämlich die Ablehnung der Gruppe der Obdachlosen per se. Denn statt die bestehende Ordnung zu verteidigen, indem es lediglich Verstösse noch konsequenter mit polizeilich durchgesetzten Hausverboten beantwortete, ging das Management nun dazu über, neue Verbote aufzustellen – um die für Obdachlose essentielle Praktik des Schlafens zu unterbinden. Auf diese Weise richteten sich die Massnahmen gegen die gesamte Gruppe der Obdachlosen und nicht nur gegen jene, die gegen geltende Regeln verstossen hatten. Laut Pressestelle verbarg sich dahinter nur eine strengere Auslegung und Umsetzung der unverändert geltenden Hausordnung.17 Gerade bei der Formulierung, der Flughafenbereich stehe jedem zur »normalen, bestimmungsgemässen Benützung« zur Verfügung, besteht ein grosser Auslegungsspielraum. Nachts liegend zu schlafen ohne Ticket – das war nun schlicht nicht mehr »normal«, auch wenn das nie schriftlich in der Hausordnung festgehalten wurde.

Zwei wichtige Entwicklungen können diesen Wandel erklären. Zum einen hatte die öffentliche Berichterstattung seit 2012 Obdachlosigkeit am Flughafen in der öffentlichen Wahrnehmung nachhaltig verankert. Allein die transitorische Umgebung brachte Obdachlose nämlich nicht zum Verschwinden, wie ein Blick auf die Videoaufnahmen des SRF aus dem Jahr 2012 zeigt: Zahlreiche Übernachter*innen liegen gut sichtbar auf verschiedenen Bänken. Einige haben Plastiktüten von Migros oder Denner bei sich und sehen nicht so aus, als würden sie in den nächsten Flieger steigen.18 Und auch dass in der Presse von einer sogenannten Obdachlosen-WG von bis zu vierzig Mitbewohner*innen zu lesen war, die es sich im Flughafen gemütlich gemacht hätten,19 widersprach der anfänglichen Verlautbarung des Flughafens, lediglich von einigen wenigen und noch dazu sehr unauffälligen Obdachlosen besucht zu werden. Die Verantwortlichen am Flughafen mussten deshalb einen Imageschaden seitens der Geschäftspartner befürchten, drängt sich sichtbare Armut doch geradezu auf, als Schattenseite der Überflussgesellschaft gelesen zu werden. Und tatsächlich beschwerten sich verschiedene Gastronomiepartner*innen zunehmend über die Zweckentfremdung der Polstermöbel.20 Derweil erfuhr die Kommerzialisierung am Flughafen einen weiteren Schub, was den Einfluss der Geschäftspartner*innen vergrösserte. Insbesondere forcierte das Flughafenmanagement das Projekt The Circle – ein neues (Dienstleistungs-)Zentrum, das nahe dem Terminal entstehen und den Flughafen endgültig zu einer »eigenen Destination«21 machen sollte. Die Baugenehmigung dazu war 2013 von der Stadt Kloten erteilt worden.

Abb. 4: Zwischenräume: Der Flughafen als eigensinnig anzueignender Ort.

Zudem beobachteten die (inzwischen sensibilisierten) Verantwortlichen einen Zustrom neuer Obdachloser, der die Sichtbarkeit der Gruppe als Ganzes zusätzlich verstärkte. Günstigere Flugtickets hatten spätestens im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Flughafenklientel nachhaltig durchmischt und ein wachsendes Angebot an kostengünstigen Verpflegungsmöglichkeiten nach sich gezogen. Damit war ein Ambiente geschaffen worden, das mit einiger Verspätung auch Obdachlose anzuziehen schien. Und zwar nicht nur einheimische: Mit günstigen Flügen kamen zunehmend Wohnungslose aus dem Ausland. Allgemein aber stieg in ganz Zürich die Zahl von Menschen ohne Obdach seit Winter 2012. Glaubt man den Sozialwerken Pfarrer Sieber, dann wichen immer mehr Obdachlose von den überfüllten Notschlafstellen auf den Flughafen aus.22

In dieser Situation – so meine Deutung – wurde deutlich, dass die dort etablierten Regeln keineswegs ausreichten, um obdachlose Menschen als Störfaktoren im Reich des unbeschwerten Konsums und der grenzenlosen Mobilität zu markieren und auszuschliessen. Die neuen Massnahmen sollten abschreckende Wirkung haben, allerdings gelang die vom Flughafenmanagement intendierte Vertreibung nicht. Julian, der von 2013 bis 2015 am Flughafen lebte, blieb und machte es sich auf den Metallbänken bequem. Sobald ihn die Polizist*innen kannten, weckten sie ihn auf ihren Kontrollgängen nicht mehr – obwohl er im Liegen auf den Aluminiumbänken schlief. Und so manches Mal fand er nach dem Aufwachen einen McDonalds-Gutschein auf seiner Bank. Auch die sip hatte mässigen Erfolg. Nur wenige Obdachlose liessen sich dazu überreden, ihre Zelte abzubrechen. Die meisten wollten nichts von einer Heimreise wissen.23 Die sip konnte und wollte sie zu nichts zwingen.

Im September 2017 liess die Flughafengesellschaft im Blick schliesslich »ein strikteres Vorgehen«24 gegenüber Menschen verkünden, die sich nicht an die Hausordnung hielten oder sich nicht bestimmungsgemäss am Flughafen befanden. Diese sollten nun konsequent weggewiesen werden. Damit wurden nicht mehr nur konkrete Praktiken oder Handlungen zum Anlass für Hausverbote oder Restriktionen genommen (man denke an das liegende Schlafen ohne Ticket). Vielmehr reichte bei bestimmten Personen einzig ihr Aufenthaltszweck, um sie wegzuschicken – ungeachtet ihres konkreten Verhaltens. Bezogen auf Obdachlose schrieb mir Pressesprecherin Sonja Zöchling dazu per E-Mail: »Ja, es stimmt, am Flughafen Zürich hat es seit Jahren einzelne Obdachlose. [...] Bis anhin hatten wir diese geduldet, solange sie sich an die Hausordnung hielten. In letzter Zeit haben sich allerdings die Zwischenfälle mit verschiedenen Personengruppen, zu denen nicht nur die Obdachlosen zählen, vermehrt. Das führte dazu, dass wir Personen, welche sich nicht bestimmungsgemäss am Flughafen aufhalten, seit dem 18. September, wegweisen. Dazu haben wir die Sicherheitsfirma Securitrans angestellt.«25

Abb. 5: Kann die Vetreibung der Obdachlosen an kalte, harte Bänke delegiert werden?

Kurz zuvor war die Kooperation mit der sip beendet worden. Anders als bei der städtischen sip ist es Auftrag der Securitrans, für die Einhaltung der Hausordnung zu sorgen – und Obdachlose wegzuschicken. Die Herstellung von Sicherheit obliegt dagegen weiter der Polizei, die weitreichendere Kompetenzen hat: Will sich ein Obdachloser gegenüber der Securitrans nicht ausweisen, oder ihren Anweisungen nicht Folge leisten, so muss die Polizei dazu geholt werden. In der jüngsten Entwicklung offenbart sich eine neue prohibitive Dimension – das Verbot von Obdachlosigkeit an sich. Die Strategie, den ungebetenen Gästen immer mehr Hürden zu bereiten, sie mit immer mehr Verboten zu belegen, um sie zum Gehen zu zwingen, war nicht aufgegangen. Die Obdachlosen waren geblieben. Nun mussten sie entfernt werden – auch ohne Fehlverhalten.

Am Nicht-Ort

Wie greift das neue Regime? Und wie verändert es das Leben am Flughafen? 14. Oktober 2017, 00:40 Uhr. Die Gäste der heutigen Nacht schlafen, ob sie nun wartende Passagiere sind oder Obdachlose. Die Polizei dreht ihre Runden. Doch auch denjenigen, die nicht im Sitzen ruhen, ist eine friedliche Nacht vergönnt – selbst wenn sie, wie der Gast auf der lehnenlosen Polsterbank, offensichtlich gewohnheitsmässig nächtigen. Schon vor einigen Tagen habe ich ihn gesehen mit seinem schwarzen Rollkoffer und einer Plastiktragetasche mit Blumenmuster. Nun liegt er mit zugeschnürter Kapuze auf einer Polsterbank bei der Autovermietung gegenüber von den Bus- und Tramstationen. An anderen Abenden kontrollieren die Polizist*innen zumindest die Tickets,26 um die legitimen Übernachtenden von den illegitimen, den obdachlosen, zu unterscheiden und letztere wegzuschicken. Sogar ein Auto der Sozialwerke Pfarrer Sieber würde sie abholen und zum Pfuusbus bringen. Nur die ununterbrochene Musik erinnert an das Terminal, ehe es um 3:45 Uhr zu neuem Leben erwacht. Die Reinigungsmaschinen mit ihrem Getöse wecken die Schlafenden, von denen einige zu den Anzeigetafeln eilen, um nach ihrem Flug zu sehen, andere jedoch mit den S-Bahnen so schnell verschwinden, wie sie mit Rucksack und Coop-Tüte gekommen sind. Da ist der etwa Dreissigjährige, der, als er sich auf die Bank legte, noch ein adressatenloses »Gute Nacht« verkündete. Oder jener regelmässige Besucher auf der Polsterbank, dem, noch schlafend, eine gut gekleidete Frau gegen fünf Uhr morgens eine Papiertüte hinstellt, die er wenig später auf seine Reise nimmt.

Die Securitrans sehe ich nur einmal aus der Ferne, als sie kurz nach fünf einen Toilettenraum inspizieren. Und dennoch: Das neue Regime zeigt Wirkung. Als der regelmässige Besucher zwei Wochen später, am 26. Oktober, abends um Viertel nach zehn von Richtung der Busstationen kommt und auf seinen Stammplatz zusteuert, wartet nicht Securitrans, sondern die Polizei. Auf ihn, der nur zum Schlafen kommt und am Morgen ins Nichts verschwindet, dessen Ankunft ich den ganzen Abend erwartet hatte, um jene Minute abzupassen, in der ich mit ihm sprechen könnte. Doch es wird das letzte Mal sein, dass ich ihn sehe. Es entspinnt sich ein Streitgespräch. Eine Polizistin protokolliert, eine andere redet auf den genervten Mitbewohner ein. Er schüttelt den Kopf, seine Stimme wird schrill und die Polizist*innen bleiben unerbittlich. Schliesslich steht er auf und geht mit.

Abb. 6: Bei Passagieren eher unbeliebt: die lehnenlose Polsterbank.

Der Flughafen ist für Marc Augé ein Nicht-Ort, weil er geschichtslos und transitorisch sei, weil Menschen in ihm nicht mehr direkt, sondern nur noch über digitale Botschaften auf Anzeigetafeln miteinander kommunizieren. Für andere ist der Flughafen der Kristallisationspunkt eines postmodernen Nomadentums, an dem jeder Mensch in Bewegung, auf dem Sprung ist. Die Historikerin Beate Althammer hat auf die Gefahren einer solch metaphorischen Aneignung der Figuren des Nomaden oder Obdachlosen hingewiesen: Sie ebne die enormen sozialen Unterschiede ein zwischen denen, die sich wie Obdachlose fühlen, und denen, die tatsächlich keine eigene Wohnung haben.27

Die wirklichen Obdachlosen waren einst nicht immer auf dem Sprung. Sie konnten bleiben, sitzen, schlafen – und sie konnten mit anderen Menschen in Beziehung treten. Nun scheint auch ihr Leben – als Konsequenz ihrer Ablehnung – transitorisch, kommunikationslos geworden zu sein, wenn es denn überhaupt noch am Flughafen stattfindet. Die verbliebenen Gäste der Nacht müssen sich gut tarnen, um nicht aufzufallen, so schnell gehen, wie sie gekommen sind, ihre Schlafstätten variieren, um nicht aufzufallen. Ihre einzige Chance ist das Tragen einer Maske: die des Passagiers, des Transits. Er ist nicht mehr der schützende Mantel, in dessen Inneren sich das soziale Netz entfalten kann, sondern eine Zwangsjacke, die man tragen muss, um nicht verwiesen zu werden.

Doch genauso wie der Flughafen für die Obdachlosen zu einem Nicht-Ort gemacht wurde, könnte er auch wieder zu einem Ort für sie werden. Die Kontingenz dieses Machens einzusehen heisst, sich von Essentialismus und Technikdeterminismus zu verabschieden. Weder handelt es sich beim Flughafen als transitorischem Knotenpunkt per se um einen Nicht-Ort, an dem globale Prozesse der Kommerzialisierung oder Globalisierung nach unveränderlichen Gesetzen wirken. Noch können Entscheidungsträger*innen gewünschte Effekte einfach an nicht-menschliche Akteure delegieren. Versteht man mit Bruno Latour die mit rotem Band abgesperrten Sofas und unbequemen Bänke als Teile eines Netzwerkes, an das das Flughafenmanagement die Vertreibung teilweise delegiert hatte,28 so scheiterte diese Delegation im Alltag immer wieder am Eigensinn der Obdachlosen – und an dem der Polizist*innen, die gebraucht wurden, um die potentielle Wirkung unbequemer Bänke vollends zu entfalten. Es sind also letzten Endes Menschen, mit je eigenem Handlungsspielraum versehene Subjekte – nicht anonyme Prozesse oder Dinge –, die Orte machen. Das gilt für Nicht-Orte umso mehr.

Jonathan Holst studiert im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.

Ein Flughafen ist nicht einfach ein Nicht-Ort. Er wird von Menschen dazu gemacht.

Abbildungsverzeichnis

Alle Abbildungen hat der Autor am 23. Februar 2018 am Flughafen Zürich-Kloten aufgenommen.

Literatur
  1. 1

    Die folgende Beschreibung basiert auf Walter Meier: Flughafengeschichten, Zürich: Jordan-Verlag (2013), S. 13–19.

  2. 2

    Marc Augé: Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: Fischer (1994), besonders S. 110–130.

  3. 3

    Vgl. David Pascoe: Airspaces, London: Reaktion Books (2001), Kapitel 5; Peter Adey: Aerial Life: Spaces, Mobilities, Affects, Malden, MA: Wiley-Blackwell (2010).

  4. 4

    Ian Chambers: Border Dialogues: Journeys in Postmodernity, New York, London: Routledge (1990), S. 57.

  5. 5

    Zur Problematisierung des Konzepts des Nicht-Orts angesichts von Obdachlosigkeit im Terminal siehe Jörg Potthast: »Terminal«, in: Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart, Bielefeld: transcript (2012), S. 273-279.

  6. 6

    Ebd.

  7. 7

    Vgl. Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck (2015), S. 543.

  8. 8

    Zitiert nach Carole Koch »Endstation Flughafen«, in: NZZ am Sonntag (07.10.2012), S. 78.

  9. 9

    Jacqueline Lory, Andrea Thali (Seelsorge): Interview am 17.10.2017.

  10. 10

    Rebecca Wyss: »Daheim, wo niemand bleibt«, in: Beobachter (08.10.2012), https://www.beobachter.ch/burger-verwaltung/obdachlose-daheim-wo-niemand-bleibt.

  11. 11
  12. 12

    »Hausordnung des Flughafens Zürich«, https://www.flughafen-zuerich.ch/~/media/flughafenzh/dokumente/business_und_partner/flugbetrieb/hausordnung_de_20160425.pdf. Laut Mediensprecher Philipp Bircher (Telefonat am 11.01.2018) hat sich die Hausordnung hinsichtlich der Praktiken, die Obdachlose betreffen könnten, innerhalb der letzten Jahre nicht geändert. Ältere Hausordnungen als die seit 2016 gültige hat mir der Flughafen nicht zur Verfügung gestellt.

  13. 13

    Walter von Aarburg (Sozialwerke Pfarrer Sieber): Interview am 06.10.2017.

  14. 14

    Kim Hopper: Reckoning with Homelessness, Ithaca: Cornell University Press (2003), S. 123.

  15. 15

    Carole Koch »Endstation Flughafen«, in: NZZ am Sonntag (07.10.2012), S. 78.

  16. 16

    Sonja Zöchling: Interview am 23.10.2017; vgl. Carole Koch: »Mein Gratisessen gehört mir!«, in: NZZ am Sonntag (16.02.2014), S. 12.

  17. 17

    Telefonat mit Philipp Bircher am 28.02.2018.

  18. 18
  19. 19

    Carole Koch: »Endstation Flughafen«, in: NZZ am Sonntag (07.10.2012), S. 78–79, hier S. 78.

  20. 20

    Sonja Zöchling: Interview am 23.10.2017.

  21. 21

    »The Circle: Entwicklung zur eigenen Destination«, Pressemeldung des Flughafens unbekannten Datums, https://www.flughafen-zuerich.ch/unternehmen/medien/aktuelle-themen/the-circle.

  22. 22

    Sozialwerke Pfarrer Sieber: »Anzahl Beherbergungen Pfuusbus«, http://www.swsieber.ch/be-reiche/pfuusbus/pfuusbus-stellt-sich-vor; Walter von Aarburg (Sozialwerke Pfarrer Sieber): Interview am 06.10.2017.

  23. 23

    Sonja Zöchling: Interview am 23.10.2017.

  24. 24

    Ulrich Rotzinger: »Knallhart gegen Pöbler am Flughafen«, in: Blick (17.09.2017), https://www.blick.ch/news/wirtschaft/ab-heute-greift-der-airport-durch-knallhart-gegen-poebler-am-flughafen-id7329908.html.

  25. 25

    Sonja Zöchling: E-Mail vom 02.10.2017.

  26. 26

    Auras (Obdachloser): Interview am 07.11.2017.

  27. 27

    Beate Althammer: Vagabunden: Eine Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933), Essen: Klartext (2017), S. 23.

  28. 28

    Bruno Latour: »Mixing Humans and Nonhumans Together: The Sociology of a Door-Closer«, in: Social Problems 35 (1988), H. 3, S. 298–310.