Seit Jahrzehnten versammeln sich rund um Kloten Aviatikbegeisterte. Sie alle haben den Flugverkehr im Blick: im Kleinen wie im Grossen.
»Airmindedness is a term that used to be everywhere and now it’s nowhere.«1 »Es ist einfach faszinierend, wie so ein schweres Teil überhaupt abheben kann.«2
Eine Boeing 777 der Swiss bereitet sich auf den Start vor, ein Airbus A380 der Singapore Airlines dockt gerade an. Vom Hauptgebäude aus streben die Finger des Terminals den Landebahnen entgegen. An ihren Enden stehen Flugzeuge verschiedener Airlines: von Edelweiss über Air Canada bis hin zu Emirates. Manche Flugzeuge werden gerade betankt. An ein anderes fährt eine Passagiertreppe heran, es ist eben erst gelandet. Auf dem Rollfeld stehen alle Typen der Airbus-Familie. Sie wirken ungeduldig; die Warteschlange ist lang und Verspätungen sind zu erwarten. Die Piste ist trocken, nur die schwarzen Bremsspuren, die üblicherweise als Abrieb auf den Start- und Landebahnen entstehen, fehlen. Die Flugzeuge bewegen sich nicht. Alles steht still.
Im Schaufenster des BUCHairCENTERs in Glattbrugg, nur wenige Kilometer vom tatsächlichen Flughafen entfernt, steht das oben beschriebene Modell: Miniatur eines komplexen Ortes. Meine Gedanken verlieren sich in den ausgeklügelten Details. Das Schaufenster macht mich neugierig. Wer kauft solche Modellflugzeuge? Und wieso?
»Interest in and enthusiasm for the use and development of aircraft« – so definiert das Oxford English Dictionary »airmindedness«. Zu Deutsch: Luftfahrtbegeisterung. Der Begriff airmindedness wurde nach dem Ersten Weltkrieg in Grossbritannien geläufig. Er war ideologisch und militaristisch stark aufgeladen; er trug aber auch das Versprechen einer besseren Zukunft in sich, in welcher der Blick der Menschen himmelwärts gerichtet sein würde: Eine Zukunft, in der die kriegerische und zerstörerische Vergangenheit in Vergessenheit geraten sollte. Heute wird der Begriff kaum noch verwendet. Ihm haftet etwas Negatives – und Vergangenes – an. Vor allem Historiker*innen benutzen ihn, wenn sie über die Zwischenkriegszeit sprechen, als die Luftfahrtbegeisterung nicht nur in Grossbritannien und den USA, sondern auch unter deutschen und italienischen Faschisten um sich griff.3
Dessen ungeachtet begeistern sich in der Schweiz und anderswo viele Menschen weiterhin für die Luftfahrt. Ich habe mich also auf die Suche nach dieser Begeisterung begeben, auf die Suche nach airmindedness heute. Dabei hat sich mir ein Netzwerk von Enthusiast*innen offenbart (grösstenteils handelt es sich um Männer). Menschen, die nicht nur von der Aviatikgeschichte beeinflusst wurden, sondern die durch ihre Begeisterung spezifisches Wissen produzieren. Erste Spuren dieser Flugbegeisterung fand ich im BUCHairCENTER. Der Modellflughafen in dessen Schaufenster verlieh mir das Gefühl, Dinge entdecken zu können, die ich in der Realität nicht sehen kann. Diese ermächtigende Perspektive ist ein kennzeichnendes Merkmal jener airmindedness, und sie brachte mich dazu, das Geschäft zu betreten, um mehr über diese Miniaturwelt zu erfahren.
Der »Fliegervirus«
Die hohen, weissen Regale im Inneren des BUCHairCENTERs sind randvoll gefüllt mit Flugzeugmodellen. Einen leeren Platz kann ich kaum entdecken. Es müssen tausende sein: alle möglichen Airlines und ihre jeweiligen Flugzeugtypen. Von den Modellen sind manche so gross wie ein Steinadler und manche so klein wie ein Schmetterling. Einige werden in Glasvitrinen zur Schau gestellt, andere sind tief in den langen Regalen vergraben. Die Embleme der Airlines und die Nationalflaggen auf den Heckflossen geben dem Raum eine internationale Atmosphäre, welche die Zürcher Agglomeration, in der ich mich eigentlich befinde, vergessen lässt. Durch die Modelle entsteht eine Verbindung zu allen Ländern und Flughäfen dieser Welt – wie bei einem Flugstreckennetz. Im hinteren Teil des Geschäftes befinden sich mehrere Regale mit Zeitschriften, Büchern und DVDs; auf jedem ist mindestens ein, manchmal mehrere Flugzeuge zu sehen. Airmindedness ist hier omnipräsent.
Der freundlichen Begrüssung des Besitzers Erwin Bachmann folgt die Aufforderung, die Tasche doch bitte an der Kasse zu lassen. Mir wird klar, wie wertvoll diese Modelle sind. Alle paar Zentimeter befindet sich ein Schild mit den Worten: »Please do not touch models«. Die Erlaubnis, sich eigenständig zu bedienen und die Modelle aus den Regalen zu nehmen, hat man also nicht. Dieser Ort erinnert mich an ein Naturkundemuseum, in dem jedes Artefakt eine besondere Bedeutung hat und seine eigene Geschichte erzählt.
Ich frage Bachmann, ob er ein Modell der Luxair hat. Kurzes Überlegen, dann die Aussage: »Die fliegen 737«. Er findet das passende Modell in der untersten Reihe, weit hinten im Regal. Zuerst darf ich die Schachtel begutachten: Der Hersteller des Modells heisst Herpa. Unter dem aufklappbaren Deckel befindet sich eine durchsichtige Folie, durch die ich das Modell studieren kann. Es ist gut verpackt und durch mehrere Plastikschichten geschützt. Der Massstab »1/200« steht gross auf der Verpackung. Auf der Kiste ist ausserdem zu lesen: »Detailgetreues Flugzeugmodell; Luxair; Boeing 737-800; Reg. LX-LGV«. Die geographischen Koordinaten von Luxemburg finden sich auf der Unterseite. Aufgrund der Nähe zu Paris und Brüssel sei dort kein starker internationaler Luftverkehr möglich. Die Boeing 737-800 mit der Registrierung »LX-LGV«, die ich in der Hand halte, stiess im Januar 2014 fabrikneu zur kleinen Flotte von Luxair dazu.
Behutsam nehme ich das Modell aus der Verpackung, um es mir genauer anzuschauen. Ein kleines Abbild des roten Löwen, des Wappens von Luxemburg, ist neben dem Cockpitfenster angebracht (selbst an die Scheibenwischer wurde gedacht). Auf dem ganzen Modell befinden sich kleine rote und graue Markierungen, die beim Handling der Maschine eine wichtige Rolle spielen. Auf den Flügeln sind Evakuierungszeichen und in den Turbinen die scharfen Rotorblätter zu erkennen. Am Ende des Rumpfes sind die luxemburgische und die europäische Flagge zu sehen. So genau habe ich ein Flugzeug der Airline meines Heimatlandes noch nie betrachtet.
Flugzeugmodelle, wie man sie im BUCHairCENTER kaufen kann, gibt es prinzipiell so lange wie deren »Vorbilder« selbst. Sie wurden zunächst von Ingenieur*innen für Aerodynamiktests in Windtunnels genutzt, ehe sie nach dem Ersten Weltkrieg in grösseren Mengen produziert wurden – auch, aber nicht nur als Spielzeug. So wurden Flugzeugmodelle überall in Europa dazu verwendet, um die Jugend an die Luftfahrt heranzuführen und um das Erkennen von »feindlichen« Flugzeuge am Himmel zu lernen. Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten die Modelle häufig der Repräsentation von Fluggesellschaften. Wurde eine neue Destination angeflogen, übergab die Airline meist dem dortigen Empfangskomitee das Modell eines ihrer Flugzeuge. (Diese Praxis existiert bis heute.) Deshalb fand man die Modelle häufig bei Pressekonferenzen oder in den Büros von Angestellten der Airlines oder von Politiker*innen. Aber auch aus Reisebüros war (und ist) das Flugzeugmodell kaum wegzudenken: Es liess fremde Länder zum Greifen nahe erscheinen.
In den dreissiger Jahren entstanden die ersten Firmen, die Modelle und Miniaturflugzeuge aus Kunststoffen produzierten. Heute ist die deutsche Firma Herpa, die ursprünglich Modelleisenbahnen herstellte, einer der Marktführer. Seit 1987 gibt es Herpa Wings, die speziell den Sammlermarkt bedient. Vier Jahre später eröffnete das BUCHairCENTER.
»Jeder, der das BUCHairCENTER betritt, hat den Virus.« Schnell ist klar, wovon der Besitzer des Aviatikgeschäfts redet: dem Fliegervirus. So bezeichnet Bachmann die Motivation, die seine Kund*innen dazu bewegt, in den Shop zu kommen. Nach zwei Geschäften in Amsterdam und Tokyo ist das BUCHairCENTER der drittgrösste Aviatik-Laden weltweit. Über dreitausend verschiedene Flugzeuge im Miniaturformat werden hier verkauft. Laut Bachmann lässt sich jedes Passagierflugzeug, das je geflogen wurde, in diesem Raum finden. Die Ausstellung der Modelle hat System: Sie sind nach Flugzeugtypen auf den Regalen geordnet. Die beliebten Airbusse A380 haben einen besonderen Schauplatz erhalten. Die Doppeldecker-Flugzeuge sind im grossen Schaufenster stationiert und sollen Spontankäufer*innen anziehen. Als einzige Airlines haben Swiss und Swissair einen eigenen Standort. Auf den »Schweizer-Raum«, in dem die Kund*innen auch Marketingartikel wie Kaffeetassen und Badetücher kaufen können, ist Bachmann besonders stolz, denn er ist der einzige Privatverkäufer, der die Fan-Artikel der Schweizer Airlines verkaufen darf. Die Kundschaft des Ladens beschränkt sich aber nicht nur auf die Schweiz. Aus der ganzen Welt finden Flugzeugenthusiast*innen ihren Weg nach Glattbrugg.
Als ich das Modell der Luxair in der Hand halte, kommen Erinnerungen an meine Heimat in mir hoch. Diese emotionale Komponente ist nicht ungewöhnlich. Bachmann erzählt mir, dass am Tag zuvor ein Paar zu ihm ins Geschäft kam und unbedingt einen A380 der Emirates kaufen wollte. Mit genau diesem Flugzeug seien sie in ihre Flitterwochen gereist. Für das Paar symbolisiert der A380 nicht »Technik«, sondern ein einmaliges, persönliches Erlebnis. Zwar kann der Kauf eines Modells so teuer werden wie ein Flug mit der richtigen Maschine, doch das nehmen viele Liebhaber*innen in Kauf. »Es sind Sammlerstücke, die man sein ganzes Leben lang behalten kann«, so Bachmann. Ein Grossteil seiner Kund*innen hat sich ohnehin das Sammeln von Flugzeugmodellen zum Hobby gemacht. Sie sind vom Fliegervirus befallen.
Das Wissen der Spotter
Das BUCHairCENTER wurde 1991 von Frank Bucher und Ulrich Klee eröffnete. Damals hiess das Geschäft noch BUCHair Publications, denn die ersten Waren, die im Laden verkauft wurden, waren Bücher – Bücher, die auch dort entstanden. Schon 25 Jahre zuvor, im Jahr 1966, hatten die beiden Flugzeugenthusiasten damit begonnen, ein Register mit dem Namen JP airline fleets zu führen. In dem telefonbuchdicken Verzeichnis waren alle Verkehrsflugzeuge der Welt, inklusive ihrer Seriennummer und Luftfahrzeugkennzeichen, aufgelistet. Daneben gab es detaillierte Informationen zu jeder Airline und sonstigen Flugzeugbetreibern: Adressen, Telefonnummern, später Emailadressen, Namen von führenden Fachkräften, Anzahl der Mitarbeitenden sowie viele für den Laien unverständliche Codes. Der Aufwand, der von den Autoren betrieben wurde, um all diese Daten zu erfassen, muss ausserordentlich gewesen sein. Bis 2014 erschien es jährlich und wurde weltweit bekannt: Für Spotter – die Ornitholog*innen des Flugverkehrs, wenn man so will – war das Buch lange Zeit eines der Standardwerke schlechthin. Auch bei Airlines und Aviatikexpert*innen war das Jahrbuch äusserst beliebt, bildete es den internationalen Luftverkehr doch sehr detailliert ab.
Im Jahr 2008 verkaufte Frank Bucher die Rechte an seinem Werk an einen ausländischen Verlag, der die Publikation des Registers später einstellte. Von den Spottern und Aviatik-Liebhaber*innen der ganzen Welt wird das Schweizer Bestimmungsbuch inzwischen vermisst. » […] the JP is not replaceable. The data in this book [is] made for very quick reference and I have always kept one by my side for the past 40+ years.« schreibt einer im Onlineforum airliners.net.4 »I have every copy since 1968 and frequently use them for historical information that you cannot find on-line«, heisst es an gleicher Stelle. Auch Franz Bucher hatte einst als Spotter angefangen.5 Aus diesem Hobby entstand schliesslich das JP airline fleets, das seitdem aus der Spotterszene nicht mehr wegzudenken ist: Als »Spotterbibel«6 wird es mitunter immer noch bezeichnet. In dem Buch manifestierten sich Wissen und Informationen, die über Jahrzehnte akribisch in Glattbrugg akkumuliert wurden. Die airmindedness der Herausgeber hat sich mit dem Buch weltweit ausgebreitet. JP airline fleets liegt zwar heute nicht mehr im BUCHairCENTER aus, doch der Laden zeichnet sich weiterhin durch sein grosses Angebot an Aviatikliteratur aus. Einige Bücher sind bereits mehrere Jahrzehnte alt, trotzdem werden sie nicht aus dem Sortiment genommen – auch Luftfahrtbücher sind beliebte Sammelgegenstände. Zeitschriften wie Skynews.ch, Cockpit und Jetstream sind spezifisch für den Schweizer Markt entwickelt worden. Für Jetstream schreibt auch Erwin Bachmann regelmässig.
Ein wichtiges internationales Ereignis strahlt einmal im Jahr auf das BUCHairCENTER aus: das World Economic Forum (WEF) in Davos. Der nächstgelegene internationale Flughafen an Davos ist Zürich-Kloten, auf dem während des WEF Hochbetrieb herrscht. Rund eintausend zusätzliche Flugverbindungen werden in der Januarwoche registriert, die meisten davon Regierungs-, Militär- und Businessflieger, die sonst selten zu sehen sind. Für Spotter ist das WEF der Höhepunkt des Jahres und das BUCHairCENTER organisiert während dieser Tage mehrmals täglich Touren über das Rollfeld des Flughafens Zürich-Kloten. Dann haben die rund 1200 Teilnehmer*innen die Möglichkeit, »seltene« Flugzeugregistrierungen zu erfassen. Bei der WEF Tour 2017 kamen die Gäste aus 32 verschiedenen Nationen. »Viele kommen nur deswegen in die Schweiz«, berichtet Bachmann.
Planespotter sammeln Registrationsnummern von Flugzeugen – als Freizeitbeschäftigung. Dabei notieren sie die Nummer nur, wenn sie den Flieger tatsächlich gesehen haben. Ein Beispiel für eine Registrationsnummer ist »LX-LGV« der Boeing 737 von Luxair, die ich im BUCHairCENTER in den Händen hielt. In den letzten Jahren haben die Spotter damit begonnen, Fotos von den Flugzeugen, die »gespottet« wurden, zu schiessen. Den meisten Spottern geht es dabei lediglich um den Beweis. Der 20 Minuten berichtete ein englischer Teilnehmer der WEF-Planespotter-Touren, dass er seit den frühen achtziger Jahren schon 35 000 bis 40 000 Registrationen gesammelt habe. »Something you could not get in the United Kingdom.« An wenigen Flughäfen ist es den Besucher*innen erlaubt, so nah an die Flugzeuge zu kommen wie in Zürich. »Es sind alles Freaks – aber im positiven Sinn«, erzählt einer der Tourguides. Manche Spotter sehen ein Flugzeug und können sofort berichten, dass sie dieses Flugzeug schon einmal vor Jahren am anderen Ende der Welt gesehen haben. »Es ist ein unglaubliches Wissen, das da vorhanden ist.«7 Aus airmindedness wird airknowledge.
Technische Kultur
Wer sich das Sammeln von Flugzeugmodellen zum Hobby gemacht hat, darf einen Anlass unter keinen Umständen verpassen. Jährlich, jeweils am letzten Sonntag im November, findet die Aviatikbörse in Bassersdorf, einer Nachbargemeinde von Kloten, statt. Private und kommerzielle Verkäufer*innen können hier Flugzeugartikel aller Art präsentieren. Auf ihrer Website wirbt die Aviatikbörse mit dem Slogan: »Grenzenlose Angebote, Fachsimpeln, Freunde treffen, Luftfahrt erleben!«8 Die Sporthalle, in der die Börse stattfindet, ist der passende Ort für das Ereignis: Früher wurde sie als Freizeitanlage für das Swissair-Personal benutzt.9 Die meisten Besucher sind männlich und die dominante Haarfarbe ist grau. Hin und wieder sieht man auch eine Frau in der Masse, allerdings selten ohne einen männlichen Begleiter an der Seite. Zwischen den älteren Herren, die rege diskutieren, erblicke ich gelegentlich eine Gruppe Jugendlicher. Viele der Besucher*innen scheinen sich zu kennen. Sie grüssen sich herzlich und bestaunen gemeinsam die gerade erworbenen Flugzeugmodelle. »Fachsimpeln, Freunde treffen«. Die Atmosphäre erinnert an einen Flughafen. Im Hintergrund höre ich immer wieder das Turbinengeräusch eines startenden Flugzeugs. Das scheint hier niemanden zu stören. »Luftfahrt erleben!«
Einige Besucher*innen sind mit ihren Koffern angereist, allerdings nicht um in die Ferien zu gehen, sondern um möglichst viele der teilweise kuriosen Flugzeugartikel, die es auf der Börse zu kaufen gibt, mitnehmen zu können. »Grenzenlos«, wie die Webseite verspricht, ist das Angebot allemal. Tatsächlich findet man dort so ziemlich alles, was das Sammlerherz begehrt: farbige Airline-Taschen, alte Pilotenausrüstungen und -anzüge, Flugzeuggeschirr und -besteck, antike Flugzeugsitze samt Gürtel, komplexe Maschinenbauteile, altertümlich aussehende Cockpitarmaturen und vieles mehr. Und natürlich Flugzeugmodelle.
Die Verkäufer*innen kommen von überall aus der Schweiz nach Bassersdorf. Manche Besucher*innen legen noch weitere Strecken zurück, aus Frankreich, Italien oder Deutschland. Ein Händler hat auf seinem vollbepackten Stand mindestens fünfhundert Flugzeugmodelle stehen. Er erzählt mir, dass er seine gesamte Sammlung im Massstab 1/400 verkauft. Er braucht Platz für seine 1/200-Modelle. Obwohl man bei ihm nur »gebrauchte« Flugzeugmodelle kaufen kann, sehen fast alle neu aus. Viele wurden nie aus ihren Kisten genommen. Andere Sammlungen sind deutlich skurriler. An mehreren Ständen kann man originale Flugzeug-Servierwägen bestaunen – für manche ein wichtiges Sammlerexemplar, für andere eher ein schräges Möbelstück. Ein Verkäufer aus Österreich wiederum offeriert diverse Safety-Cards. Insgesamt sind es mehrere Tausend. Ich frage ihn, wie er an die – von vielen Passagieren kaum beachteten – Sicherheitshinweise gekommen ist. Seine Antwort ist die gleiche wie die vieler anderer Verkäufer*innen: »Durchs Kaufen, Sammeln und Tauschen mit Freunden«. Auch die berühmt-berüchtigten Kotztüten, die sich im Flugzeug ebenfalls in der Vordersitztasche befinden, werden verkauft.
In der Bassersdorfer Sporthalle, umgeben von Flugzeugmodellen und Aviatikaccessoires, war ich der »Nerd«, der Aussenseiter.
Nicht nur die Auswahl an Produkten, auch ihr Ursprung ist »grenzenlos«. Zwar überwiegen die rote Farbe mit dem weissen Kreuz sowie die Schriftzüge »Swiss« und »Swissair«, doch Artikel von ausländischen Airlines kommen keineswegs zu kurz. Ob man nun ein Modell der Thai, eine Tasche der British Airways, einen Regenschirm der Air France oder einen Fächer der Cathay Pacific sucht, jeder Fan scheint hier sein Glück finden zu können. Die Ortschaft Bassersdorf geht beim Umherschlendern schnell vergessen. Genau wie im BUCHairCENTER entsteht durch die hier versammelten Dinge eine Art Verbindung – ein Netzwerk zu anderen Flughäfen der Welt. Umgekehrt haben die Sammler*innen so etwas wie eine eigene »Kultur«.
Viel wissen wir über diese Kultur nicht. Die Historikerin Kristen Haring hat eine ähnlich gelagerte Szene rekonstruiert: die Geschichte der Amateurfunker.10 In den Gemeinschaften der sogenannten »Ham Radio«-Bastler entstanden seit den 1920er Jahren, so Haring, spezifische Werte, Fertigkeiten und Gewohnheiten, eine besondere »technische Kultur«. Haring führt mehrmals das Hobby des Flugzeugmodellbaus als Beispiel derartiger technischer Kulturen an. Oft entstanden aus dem praktischen Wissen, die durch dieses Hobby erlernt wurden, Karrieren in technischen Berufen. Technische Hobbys, die sich bereits im jungen Alter entwickelten, entfachten ein lebenslanges Interesse. Dies galt für Amateurfunker wie auch für Flugzeugenthusiasten. Frank Bucher, könnte man sagen, ist dafür ein Paradebeispiel. Bereits als kleiner Junge interessierte er sich für Flugzeuge und deren Registrierungen. Aus dieser Begeisterung wuchs das weltweit drittgrösste Aviatik-Geschäft und JP airline fleets. Mit seinen vielfältigen Aktivitäten und dem Netz, das daraus entstand, hat Frank Bucher viele andere Menschen für sein Hobby begeistert und dadurch sein soziales und technisches Umfeld geprägt.
Die airmindedness, mit der ich mich im BUCHairCENTER, an der Aviatikbörse oder während der WEF Tours konfrontiert sah, hat so gesehen einen ähnlichen Charakter wie die Hobbys, die Haring beschreibt. Dennoch fragte ich mich zu Beginn meiner Recherche, ob Planespotting und das Sammeln von Flugzeugmodellen überhaupt als technische Hobbys bezeichnet werden können. Das technologische und wissenschaftliche Wissen, über das ein Amateurfunker verfügen muss, schien mir hier nicht nötig zu sein. Funkgeräte zusammenzubasteln mutet deutlich komplexer an, als Modelle zu kaufen oder Flugzeuge zu fotografieren. Das JP airline fleets und die dahinterliegende Spotter-Kultur beweist jedoch das Gegenteil. Wer diesen Hobbys nachgeht, eignet sich auch ein vielfältiges technisches Wissen über Flugzeugtypen, Airlines und Flughäfen an. Dabei handelt es sich um eine Art von hands on-Wissen, das häufig übersehen wird. Diese Fachkenntnis bleibt oft hinter den Türen von Shops, Sporthallen oder Flugzeugen verborgen. Genau wie einst die Amateurfunker werden auch Flugzeugenthusiasten von Aussenstehenden mit Skepsis betrachtet. »Nerds« oder »Freaks« würde man sagen. Solche Zuschreibungen wiederum haben eine gemeinschaftsstiftende Qualität. Ich konnte beobachten, wie Menschen auf der Aviatikmesse zusammenkamen und Wissen austauschten. In der Bassersdorfer Sporthalle, umgeben von Flugzeugmodellen und Aviatikaccessoires, war ich der »Nerd«, der Aussenseiter. Menschen wie Erwin Bachmann, Frank Bucher, die Besucher*innen der Aviatikmesse oder die Spotter an den WEF Tours haben sich für ein intensives Hobby entschieden. Es zieht sich durch ihr Leben und etabliert innerhalb vergleichsweise unscheinbarer Zirkel eine profunde technische Wissenskultur, die der Aussenwelt verborgen bleibt.
Reminiszenzen
»Gab es ein Ereignis in der (Luftfahrt-)Geschichte, das den Verkauf von Flugzeugmodellen hemmte?« Als ich Erwin Bachmann diese Frage stelle, denke ich vor allem an den 11. September 2001 und den Crash der Concorde am 25. Juli 2000 am Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Herrn Bachmanns Antwort? Ein klares und deutliches »Nein«. Wer den Fliegervirus hat, so scheint es, der wird ihn nicht mehr los. Wer begeistert ist von Flugzeugen, der ist begeistert von der Fähigkeit des Flugzeuges zu fliegen – und nicht von seiner Verwendungsart. Nicht einmal das für die Schweizer Bevölkerung traumatische Grounding der Swissair hat im BUCHairCENTER für schlechtere Verkaufszahlen gesorgt. Das Gegenteil ist der Fall. Seit die echten Swissair-Maschinen im Jahr 2002 vom Himmel verschwanden, zählen ihre Miniaturversionen zu den bestverkauften Exemplaren. Bei vielen Schweizer*innen waren die Emotionen nach der Auflösung der Airline gross und die Modelle dienten als Erinnerung an die »fliegende Bank«.
Aber auch der Abschied von einzelnen Maschinen kann mitunter zu einem emotionalen Ereignis werden, an dem Dutzende, oft Hunderte Menschen teilhaben. Und so gehört auch das Abschiednehmen zur technikaffinen Szene des BUCHairCENTERs. Wie etwa beim »Jumbolino«, dem beliebten BAe 146 der Crossair (beziehungsweise später der Swiss), der nach siebzehn Jahren Einsatz am 20. August 2017 das letzte Mal am Flughafen Zürich-Kloten landete.11 Das BUCHairCENTER organisierte diesen Letztflug. Rolf Keller, der schon seit 1968 am Flughafen Kloten vom Fliegervirus infiziert wurde, berichtete von einem bewegenden Erlebnis. »Ein bisschen Wehmut fliegt mit«, so der Titel seines Berichtes im Fachmagazin Jetstream.12 Es sind vor allem Erinnerungen, nicht mehr technische Innovation, die mit dem Jumbolino verbunden und durch ein Modell festgehalten werden sollen. Erwin Bachmann liess das Modell mit der Registrierung HB-IYZ im Massstab 1/400 von Herpa herstellen. Es ist seitdem eines der bestverkauften Modelle. Schweizer airmindedness!
Sam Bodry studiert im Bachelor »Materialwissenschaft« an der ETH Zürich.
Abb. 1, 2, 3, 9: Carolyn Kerchof, Aufnahmen im BUCHairCENTER in Glattbrugg, März 2018.
Abb. 4: Unbekannt, Bilanzpressekonferenz im Verwaltungsgebäude der Swissair in Balsberg (Kloten), 15.03.1979, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_SR05-079035-10A.
Abb. 5: JP airline fleets, Edition 1977, Cover.
Abb. 6: Unbekannt, Zuschauer vermutlich bei Oberglatt, 1979, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_SR05-079063-04A.
Abb. 7: Kuno Gross, Aufnahme an der Aviatikbörse Bassersdorf, 2013/2014.
Abb. 8: Unbekannt, Letzter Flug der Boeing 747-357, N 221 GE "Genève" : Ankunft in Zürich-Kloten und Feier, 01/2000, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_SR05-200061-30A.
- 1
Jane Hu: »›Are You Airminded?‹ The Slang Of War«, in: The Awl, https://www.theawl.com/2011/06/are-you-airminded-the-slang-of-war/ (27.06.2011).
- 2
Teilnehmerin einer Planespotter-Tour am Flughafen Zürich-Kloten, Zitat aus: A. Müller, D. Galka: »Die spinnen, die Engländer«, in: 20 Minuten, http://www.20min.ch/finance/dossier/wefdavos/story/-Die-spinnen--die-Englaender--20399190 (27.01.2012).
- 3
Vgl.Jane Hu: »›Are You Airminded?‹ The Slang Of War«, in: The Awl, https://www.theawl.com/2011/06/are-you-airminded-the-slang-of-war/ (27.06.2011). Vgl. insbesondere Peter Fritzsche: A Nation of Fliers: German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge, MA: Harvard University Press (1992).
- 4
»JP Fleets Replacement«, Airliners, http://www.airliners.net/forum/viewtopic.php?t=822271 (2014).
- 5
A. Müller, D. Galka: »Die spinnen, die Engländer«, in: 20 Minuten, http://www.20min.ch/finance/dossier/wefdavos/story/-Die-spinnen--die-Englaender--20399190 (27.01.2012).
- 6
»JP-Airline Fleets 2008/09«, MUC-Forum, http://www.mucforum.de/showthread.php/20939-JP-Airline-Fleets-2008-09 (23.07.2008).
- 7
Alle Zitate in diesem Absatz aus: A. Müller, D. Galka: »Die spinnen, die Engländer«, in: 20 Minuten, http://www.20min.ch/finance/dossier/wefdavos/story/-Die-spinnen--die-Englaender--20399190 (27.01.2012).
- 8
- 9
Vgl. Manuela Moser: »Fliegerei-Liebhaber unter sich«, in: Tagesanzeiger, https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/FliegereiLiebhaber-unter-sich/story/17374042#overlay (28.11.2010).
- 10
Vgl. Kristen Haring: Ham Radio’s Technical Culture, Cambridge, MA: MIT Press (2007).
- 11
Vgl. Norbert Hobmeier: »Leise wie ein Elefant«, in: Zürich Airport 7/1990, S. 14–15; Luka Lusser: »Von Crossair zu Swissair«, in: Jetstream 9/2017, S. 10–13.
- 12
Rolf Keller: »Ein bisschen Wehmut fliegt mit«, in: Jetstream 9/2017, S. 6–9.