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Flughafen Kloten: Anatomie eines komplizierten Ortes
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Monique Ligtenberg

Endstation Ausschaffungsgefängnis

Am Rande der Piste 16/34 befindet sich das »Ausschaffungsgefängnis«. Seine Entstehungsgeschichte ist weitgehend in Vergessenheit geraten: Der Bau resultierte aus den Debatten über die Zürcher Drogenszene in den neunziger Jahren.

Kloten, Dezember 1996. »Ich freue mich, dass Sie unserer Einladung zur heutigen Feier gefolgt sind, und möchte Sie herzlich hier in Kloten begrüssen.« Mit diesen Worten weiht Hans Hofmann, Zürcher Baudirektor und Regierungspräsident, das Flughafengefängnis 2 in Kloten ein, besser bekannt als »Ausschaffungsgefängnis«. Hofmann betont in seiner Rede die »grosse Bedeutung« des Gefängnisses »für die Durchsetzung des Rechtsstaates und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit«. Hinter Gefängnisbauten stecke zudem ein enormer administrativer und organisatorischer Aufwand.1 Was der Baudirektor allerdings nicht explizit anspricht, ist die Problemlage, die überhaupt erst die Entscheidung zum Bau des Flughafengefängnisses 2 motivierte: die eskalierende Drogenkriminalität. Dieser soziopolitische Kontext ist heute weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. So ist die Antwort auf die Frage, weshalb am Flughafen Kloten ein Ausschaffungsgefängnis steht, nicht am Flughafen selbst zu suchen. Diese Suche führt vielmehr an einen Ort im Stadtzentrum: den Bahnhof Letten.

Abb. 1: Das Ausschaffungsgefängnis in Zürich-Kloten, 1996.

Erste Station: Bahnhof Letten

Zürich, 1994. Margrit Näpfer Rohrer blickt von der Kornhausbrücke auf den ehemaligen Bahnhof Letten herab. Angstgefühle überkommen die zweifache Mutter. »Angst«, so schreibt sie in ihren Memoiren, »um meine Tochter, Angst mich von der Brücke ins Gemenge hinunter zu begeben«.2 Seit Wochen hat Margrit Rohrer keine Kenntnis über den Aufenthaltsort und den Gesundheitszustand ihrer heroinabhängigen Tochter Miriam. Aus der Ferne erblickt sie plötzlich eine »sitzende Gestalt« und erkennt darin »mit Schrecken« ihre Tochter: »Miriam, ich will nur sehen ob Du noch am Leben bist.« Miriam verschwindet. »So schlecht«, stellt die Mutter fest, »kann es meiner Tochter nicht gehen«, »ihre Erscheinung« sei »sauber« »und solange sie schreien und rennen kann«, habe sie »noch Kräfte«. Am 5. Januar 1996 stirbt Miriam Rohrer an einer Überdosis.3

Der Todesfall Miriam Rohners war in den neunziger Jahren keine Ausnahme. Nach der rabiaten Räumung der offenen Drogenszene am Platzspitz im Februar 1992 versammelten sich täglich fünf- bis achthundert Drogenabhängige am Bahnhof Letten. Viele erlagen den direkten oder indirekten Folgen ihres Konsums.4 Es ist also wenig überraschend, dass kaum ein Tag verging, an dem sich die Schweizer Tageszeitungen nicht der Drogenthematik annahmen. Interessant an der Berichterstattung über die Lettenszene ist jedoch nicht nur, dass über die sogenannten »Lettenjunkies« berichtet wurde, sondern auch wie. So fand in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren eine »Medizinalisierung des Drogenproblems« statt.5 Aus »Süchtigen« wurden »Kranke«, die, im »Drogensumpf« gefangen, über keinerlei agency verfügten.

Gleichzeitig ereignete sich eine Verschiebung in der medialen Berichterstattung: Immer mehr wurde über Dealer*innen und Drogenkartelle und immer weniger über Drogenkonsument*innen berichtet.6 Kennzeichnend dafür waren insbesondere die Debatten über die Gewalteskalation am Letten im Sommer 1994. Am 12. August 1994 fand die Zürcher Stadtpolizei zum vierten Mal innerhalb eines Monats einen libanesischen Dealer tot auf. Die Beamt*innen nahmen einen Verdächtigen fest. Die arabische »Drogenmafia« reagierte zunächst mit einer Bombendrohung. Kurz darauf rief das arabische Kartell, das zu diesem Zeitpunkt den Markt am Letten beherrschte, zum »Dealerstreik« auf, der zwei Tage anhielt. Auf der Suche nach Stoff verstreuten sich die Süchtigen in der ganzen Stadt. Auf die Frage, was der Verkaufsstreik bezwecken soll, antwortete ein junger Libanese, angeblich auf schlafende Drogensüchtige zeigend: »Wenn wir nichts verkaufen, sterben die.«7

In den Medien wurde den Dealer*innen, im Gegensatz zu den Süchtigen, mehr agency zugesprochen. Ohne Rücksicht auf Leidtragende würden sie den »Drogensumpf« produzieren. Handlungsunfähigen Drogensüchtigen und einer verängstigten Bevölkerung stand so eine böswillig agierende »Drogenmafia« gegenüber. Mit den Geschehnissen um den 12. August 1994 wurde das »Drogenproblem« zudem zum »Ausländerproblem« umgedeutet. Hieran hatte die Zürcher Fraktion der Schweizerischen Volkspartei (SVP) massgeblichen Anteil. Diese vermochte ihren politischen Handlungsspielraum in den neunziger Jahren mittels grosser finanzieller Ressourcen sowie innerparteilichen Umstrukturierungen massiv auszuweiten.8 Die SVP rückte dabei eine spezifische Kategorie von »Ausländern« in den Fokus: Asylsuchende. Der Letten fügte sich gut in die »asylpolitische Wende« der Partei ein.9

»Drogendealer verstecken sich hinter dem Asylrecht und richten unsere Jugendlichen zugrunde«, postulierte die SVP in einem Inserat, das 1994 – ein Jahr vor den Nationalratswahlen – in beinahe jeder grossen Schweizer Tageszeitung abgedruckt wurde.10 Schuld an den Zuständen am Letten seien »die Linken und die Netten«, die sich »mehr für die Täter als für die Sicherheit des Bürgers eingesetzt«, »den Staatsschutz abgeschafft und die Gefängnisbauten verhindert« hätten. Darum kämen, so die SVP, »so viele Kriminaltouristen nach Zürich […]«.11 Die Wortwahl impliziert, dass die Drogenproblematik am Letten eine globale Dimension annahm: Aus Asylsuchenden wurden Kriminaltouristen. Die SVP stellte sich als einzige fähige politische Instanz dar, die diesem Feindbild gegenüber zu treten vermochte. Der Letten avancierte dadurch zum Konfliktfeld der »inneren Sicherheit«.12 Ein Problem, das die »innere Sicherheit« betrifft, bedürfe demnach polizeilicher und ordnungsbehördlicher Massnahmen, darunter ein strengeres »Asylrecht« sowie die im Inserat erwähnten »Gefängnisbauten«.

Abb. 2: SVP-Inserat im Tages-Anzeiger vom 14. Januar 1994.

Die Drogenproblematik nahm eine globale Dimension an: Aus Asylsuchenden wurden Kriminaltouristen.

Während die »Lettenjunkies« im »Drogensumpf« zu versinken drohten, sollte den Drogendealer*innen ausländischer Herkunft also künftig ein – ehemaliges – Moor bevorstehen: Das Ausschaffungsgefängnis am Zürcher Flughafen. Die Argumentation folgt einem Muster, das spätestens seit der Ablehnung Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1992 ein Paradoxon in der transnational stark vernetzten Schweiz darstellt: der Aufstieg eines Neuen Konservativismus, der nationale Isolation als Reaktion auf zunehmende Globalisierungstendenzen fordert.13

Zweite Station: Die Vier Säulen der Drogenpolitik

Auf den ersten Blick scheinen die öffentlichen Debatten um den Bau des Auschaffungsgefängnisses darauf hinzudeuten, dass sich die SVP mit ihrer aggressiven Politisierung der Drogen- und Asylpolitik durchgesetzt hätte. Und tatsächlich setzte die SVP in ihrem »Drogenkonzept« auf zwei Elemente: die gesellschaftliche »Ächtung der Drogen« und »Repression«. Letztere sei »konsequent anzuwenden«, insbesondere gegen »straffällige Ausländer, […] seien dies nun Asylbewerber, Asylanten oder Kriminaltouristen«. Konkret forderte die Partei folgende Massnahmen: »Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht« und für »Ausländer« vorgesehene »Gefängnisbauten«.14

Beinahe diametral dazu verhielten sich die wirtschaftswissenschaftlichen Impulse, die in den neunziger Jahren für eine Liberalisierung im Umgang mit harten Drogen wie Heroin sprachen. Insbesondere im damals aufstrebenden Feld der Verhaltensökonomie wurden die Vorteile der staatlich kontrollierten Abgabe von Drogen breit diskutiert. Der verhaltensökonomische Ansatz brach dabei durch seine Akzeptanz irrationaler Marktakteure mit älteren ökonomischen Handlungstheorien, wie sie tendenziell von der SVP vertreten wurden, und die von rational handelnden homines oeconomici ausgingen. Ein Beispiel hierfür ist der Aufsatz Drugs, Economics and Policy des Schweizer Ökonomen Bruno Frey, der in den neunziger Jahren an der Universität Zürich unter anderem zur Drogenpolitik forschte. Frey postuliert darin, dass staatlich kontrollierte Heroinabgabestellen Süchtige vom Schwarzmarkt lockten, da die Kosten des illegalen Konsums (Verhaftung, Gesundheitsschädigung durch unsaubere Spritzen, etc.) den Nutzen – bei einer gleichwertigen legalen Alternative – übersteigen würden. Heroin- und Methadonabgabestellen würden nicht nur die gesundheitlichen Schäden Süchtiger vermindern, sondern auf einen Schlag auch die Drogenmafia eliminieren.15 Repressive polizeiliche Massnahmen hält Frey für wirkungslos, da Drogensucht in seiner Konzeption keiner rationalen Entscheidungsgrundlage unterliegt.16

Diese Argumentation aus medizinischen und wirtschaftswissenschaftlichen Wissenskulturen blieb nicht dem akademischen Diskurs vorbehalten. »Durch eine konsequent kontrollierte Drogenabgabe«, schrieb beispielsweise ein Tages-Anzeiger-Leser in einem Leserbrief, »können angemessene Preise garantiert und die Qualität des Stoffes überwacht werden; die Mafia hätte kein Interesse mehr am Geschäft, wenn sie gerade ihre eigenen Kosten mit dem Drogenverkauf decken könnte, Drogenbeschaffungskriminalität und Prostitution gehen als Folge zurück.«17

Auch wenn das alles als krasser Gegensatz wirkt: Im politischen Diskurs waren die Grenzen zwischen liberalen und konservativen Lösungsvorschlägen nicht so klar gesteckt. So darf nicht vergessen werden, dass auch die drogenpolitische Koalition von SP, FDP und CVP – wie die SVP – Repression als Abschreckungsmassnahme gegen Drogenhändler befürwortete und eine kurz- bis mittelfristige polizeiliche Räumung des Lettens forderte.18 Auch die »Ausländerfrage« blieb von den Mitte- und Linksparteien nicht unkommentiert. »[O]hne genügend Polizeikräfte«, betonte auch SP-Stadtpräsident Josef Estermann, »ohne genügend Gefängnisplätze und ohne ein Gesetz, das es erlaubt, einen offensichtlichen Drogenhändler ohne Aufenthaltsbewilligung festzuhalten, bis er ausgewiesen werden kann«, sei der Stadtrat nicht handlungsfähig.19 »Repression« war neben »Therapie«, »Schadensverminderung« und »Prävention« ein wichtiger Bestandteil des Vier-Säulen-Modells der Drogenpolitik, das aus einem Konsens der Mitte- und Linksparteien resultierte.20 Die SVP sah den Letten keineswegs als einzige Partei als Asylproblem an, nur stellte sie die Verschärfung des Asylwesens in das Zentrum ihres medialen Agenda Settings.

Abb. 3: »Einsamer Job in kältester Zeit«: Karikatur der SP-Politikerin Emilie Liebherr, Initiantin der heroingestützten Therapie Schwerstsüchtiger, 1994.

Die Debatten um den »richtigen« Weg aus der »Drogenhölle« waren somit immer auch Grundsatzdiskussionen über die beiden dominierenden Gouvernementalitätsmodelle der neunziger Jahre – das der neuen Konservativen einerseits, und des erstarkten Neoliberalismus anderseits. In den öffentlichen Debatten lassen sich die beiden Lager nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Auch politische Akteure des liberalen Lagers meinten die Existenz eines »Ausländerproblems« zu erkennen und forderten Repression im Sinne der konservativ-isolationistischen Tradition.21 Andererseits weist auch die Ideologie der SVP Elemente des neoliberalen Paradigmas auf.22 Kurzum: Das Ausschaffungsgefängnis beruhte auf einem breiten Konsens.

Endstation: Ausschaffungsgefängnis

Kloten, 1994. Bauarbeiter errichten die letzten Meter eines Zauns, der die Flughafengefängnisse 1 und 2 von der daran angrenzenden Rohrholzstrasse trennt. Am Mast neben ihnen befindet sich eine Überwachungskamera: Das Flughafengefängnis 2 untersteht höchsten Sicherheitsmassnahmen.

»Als ich zum ersten Mal das Ausschaffungsgefängnis in Kloten besuchte, dachte ich nur ›Wahnsinn! Man muss wahnsinnig sein, wenn man hier arbeitet, oder man wird es‹«, kommentiert Rico Vincenz, heutiger Leiter der Ausschaffungshaft im Flughafengefängnis Zürich, seinen ersten Eindruck 2016 gegenüber dem Radiosender SRF2. Beeindruckt zeigt sich der ehemalige Baumaschinenführer vom »trotzige[n] Gebäude mit dem hohen Zaun« sowie dessen Nähe zum Flughafen und dem damit einhergehenden Lärm. Bei der Architektur des Gebäudes habe man sich »an den baulichen Strukturen der Untersuchungshaft orientiert«, begründet Vincenz seinen Eindruck. Denn es sei gebaut worden, »als noch keiner wusste, was Ausschaffungshaft konkret bedeutet.«23

Vincenz schätzte die Situation durchaus richtig ein. So stand im Hintergrund des Gefängnisbaus eine fundamentale Veränderung: die »Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht«, die am 4. Dezember 1994 vom Volk mit beinahe 73 Prozent Zustimmung angenommen worden waren.24 Der Vorstoss schuf mit der erweiterten Ausschaffungshaft sowie der Durchsetzungshaft die gesetzlichen Grundlagen des »modernen« Schweizer Ausschaffungswesens.25 Der Bau des Ausschaffungsgefängnisses wurde bereits am 17. Januar 1994 beschlossen: Die Mehrzahl der Kantonsrät*innen Zürichs stimmten dem Kredit für die Errichtung der beiden Flughafengefängnisse auf dem Flughafenareal zu. 108 »Ausländer« sollten im ersten Ausschaffungsgefängnis dieser Art Platz finden.26

Abb. 4: Bauarbeiter arbeiten 1994 am Zaun des Ausschaffungsgefängnisses.

Das Ausschaffungsgefängnis war nicht der einzige Gefängnisbau, der Mitte der neunziger Jahre zur Diskussion stand. Mit dem neu errichteten Polizeiprovisorium auf dem Kasernenareal, dem Ausbau des Gefängnisses Dielsdorf und dem am Ausschaffungsgefängnis angrenzenden Flughafengefängnis 1 wurden in einem Zeitraum von etwa drei Jahren im Kanton Zürich Hunderte neue Gefängnisplätze geschaffen.27 Der »Gefängnisnotstand« erhielt in der Tagespresse und im politischen Diskurs viel Aufmerksamkeit. So spielte der enge Zusammenhang zwischen der Überbelegung der Gefängnisse, dem »Kampf gegen den Drogenhandel« und der Ausschaffungshaft in den Kantonsratsdebatten im Vorfeld des Gefängnisbaus eine zentrale Rolle. SP-Mitglied Ruedi Keller betonte, dass die SP zwar »nicht zu jenen Parteien« gehöre, »die mit Begeisterung auf eine Gefängnisvorlage eintreten«. Allerdings verkenne die Partei nicht, »dass die heutige Situation zum Handeln« zwinge.28

Einige Kantonsratsmitglieder bezweifelten jedoch die Dringlichkeit dieses Handlungsbedarfs. Einer der vehementesten Kritiker der geplanten Gefängnisbauten war Daniel Vischer von den Grünen. Die wiederholten Forderungen nach mehr Gefängnisplätzen beschrieb er als »Beruhigungsargument«; dem Gesamtregierungsrat warf er Konzeptlosigkeit in der Drogenpolitik vor.29 Willy Spieler von der SP ging in seiner Kritik sogar noch weiter, wenn er das Ausschaffungsgefängnis als »Akt vorauseilenden Gehorsams gegenüber den geplanten Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht« bezeichnete. Seiner Ansicht nach schaffe der Gesetzesvorstoss »zusätzliche Internierungstatbestände«, denen »Haftgründe« zugrunde lägen, die »mit dem Strafrecht nichts zu tun« hätten. Das Gefängnis und die Zwangsmassnahmen waren für ihn Manifestationen einer »Apartheid-Justiz«, da im Ausschaffungsgefängnis Kloten »strafrechtlich [u]nschuldige« Ausländer festgehalten werden könnten.30 Trotz der Einwände, die vor allem von Seiten der Grünen gegen das Ausschaffungsgefängnis erhoben wurden, sprachen sich FDP, SVP, CVP und EVP einstimmig und die SP mehrheitlich für den Bau aus.31 Die Debatten, die zum Entscheid führten, machen klar, dass der in den Tageszeitungen propagierte Gefängnisnotstand im Zusammenhang mit der Drogenproblematik am Letten eine politische Dringlichkeit, Gefängnisse zu bauen, hervorbrachte. Dies schlug sich auch in der Architektur des Gebäudes nieder. Ohne ein spezifisches Konzept, wie ein Ausschaffungsgefängnis auszusehen habe, entstand ein unter grossem Zeitdruck erstellter Bau, der sich an regulären Strafanstalten orientierte. Nur Wenige beklagten den Umstand, Insass*innen, die nicht zwingend straffällig waren, in einem Gebäude festzuhalten, das einer disziplinierenden Anstalt nachempfunden ist.

Abb. 5: Demonstration gegen die »Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht«, 1994.

Doch weshalb genau wurde der Flughafen Kloten als Standort für diese neue Art Strafanstalt gewählt? Der offiziellen Begründung lag im Wesentlichen ein pragmatischer Ansatz zugrunde: billiges Bauland sowie – darauf wies FDP-Kantonsrat Rudolf Jeker hin – »[d]er Umstand, dass die Ausreise dieser Gefangenen [Ausschaffungshäftlinge] regelmässig mit dem Flugzeug erfolgen muss«. Die »enge Zusammenarbeit mit der Flughafenpolizei«, die durch den Standort möglich sei, erleichtere zudem »deren Arbeit bei Ausschaffungen« und biete »erhebliche Vorteile bei Sicherheitsproblemen im Betrieb.«32 Seine Logik folgt einem einfachen Prinzip: Der Standort Flughafen verkürzt die Wege des Ausschaffungsprozesses.

Ende 1996 wurde das Flughafengefängnis 2 nach rund zweijährigen Bauarbeiten eröffnet. Leicht deplatziert wirkt der Betonbau neben dem modernen Zürcher Flughafen, der zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Millionen Fluggäste jährlich beförderte – im Jahr 1995 waren es fast fünfzehn Millionen.33 Am 6./7. Januar 1994 – also rund zwei Wochen vor der Zustimmung zum Bau des Ausschaffungsgefängnisses – hatten der Kanton Zürich, die Fluggesellschaft Swissair und die Schweizerischen Bundesbahnen über einen Ausbau des Flughafens beraten, der insgesamt zwei Milliarden Schweizer Franken kosten sollte. »Der Zürcher Flughafen«, so begründete die Flughafendirektion den Entscheid, stosse »zu gewissen Zeiten an seine Kapazitätsgrenzen«. Betont wurden dabei insbesondere »die negative[n] Folgen für die Volkswirtschaft des Kantons Zürich und der Schweiz«, sollte der Ausbau nicht realisiert werden.34 Denn die Schweiz war Mitte der neunziger Jahre längst keine Insel in Europa mehr – falls sie dies überhaupt jemals war. Allein das stetige Passagierwachstum am Flughafen Kloten zeugt von den transnationalen Verflechtungen der Eidgenossenschaft, die wirtschaftliche Prosperität versprachen. Beinahe im Widerspruch dazu stand das Flughafengefängnis 2, das monumental – nur wenige Jahre nach dem historischen EWR-Nein und kurz vor dem Flughafenausbau – an Aspekte der Globalisierung erinnerte, die als weniger erfreulich wahrgenommen wurden: an den internationalen Drogenhandel, an den »Kriminaltourismus« und an die Bewegungsfreiheit von Migrant*innen und Geflüchteten. Das Ausschaffungsgefängnis symbolisiert auch heute noch den Antagonismus zwischen Globalisierung und nationaler Isolation, der die Schweiz in ihrer modernen Geschichte stets begleitet hat.35

Abb. 6: Innenhof des Ausschaffungsgefängnisses in Kloten mit Blick auf Swissair-Flugzeuge im Hintergrund, 1996. Die Fluggesellschaft führte vor ihrem Grounding regelmässig Ausschaffungsflüge durch.

Blackbox der kollektiven Erinnerung

Zürich, 7. Mai 2016. Am Flussbad Oberer Letten finden die jährlich wiederkehrenden Feierlichkeiten zur Eröffnung der Badesaison, das »Letten Opening«, statt. Ausgelassen feiert die Menschenmenge an diesem sonnigen Samstagnachmittag zu den Bässen der Zürcher House-DJs Dejan und Reto Ardour.36 Auch wenn wohl der/die eine oder andere Partybesucher*in zu illegalen Substanzen gegriffen haben mag, um die dreitägige Feier durchzustehen: An das Elend der »Lettenjunkies« der neunziger Jahre erinnert nichts mehr. Die Feiernden haben allesamt eine gepflegte Erscheinung und Heroin wurde längst von Partydrogen wie MDMA abgelöst.37 Die Stadt Zürich hat den ehemaligen Schandfleck erfolgreich in eine Flusspromenade zum Baden, Verweilen und Feiern transformiert.

Das Ausschaffungsgefängnis hingegen steht noch in beinahe unveränderter Form. In der Öffentlichkeit präsent ist es aufgrund seiner abgelegenen Lage am Rande des Flughafens Kloten kaum. Die asylpolitischen Diskurse, die zur Entstehung der Strafanstalt führten, sind jedoch heute noch aktuell. Prominent führt etwa die Menschenrechtsgruppe Augenauf, die heute als vehemente Kritikerin des schweizerischen Ausschaffungswesens auftritt, ihre Gründung 1995 unter anderem auf den Protest gegen die »Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht« zurück.38 Auch die Zürcher SVP hat sich seither keineswegs von ihrem Kernthema Asylpolitik abgewandt. Die Annahme der SVP-Initiative »Für die Ausschaffung krimineller Ausländer« (auch bekannt als »Ausschaffungsinitiative«) zeigt, dass die Präsenz einer offenen Drogenszene am Letten keine zwingende Voraussetzung für öffentliche Forderungen nach einer restriktiveren Asyl- und Ausländerpolitik darstellt. Das Heroin hat sich nicht nur vom Letten, sondern auch vom Diskurs über »kriminelle Ausländer« entfernt.

Abb. 7: Die Badi »Oberer Letten« im Sommer 2010.

Doch auch an die »Lettenszene« erinnert man sich noch heute. Im Rahmen des zwanzigjährigen Jubiläums der Lettenräumung zeigte das Schweizer Fernsehen 2015 die Dokumentation »Zürich Junkietown«39, ein Jahr zuvor hatte Tages-Anzeiger-Journalistin Michèle Binswanger mit ihrer mehrteiligen Web-Doku »The Needle Trauma« interaktiv durch die Zürcher Drogenszene am Platzspitz und am Letten geführt.40 Doch weder im SRF-Film noch in Binswangers Bericht findet die »Ausländerfrage« der neunziger Jahre Erwähnung. Die Dokumentationen legen nahe, dass die kontrollierte Drogenliberalisierung erfolgreich das Zürcher Drogenproblem der Neunziger löste. Das Ausschaffungsgefängnis, das in seiner Entstehungszeit als zweiter, unerlässlicher Bestandteil des Kampfs gegen die Drogenhölle propagiert wurde, ist heute aus dem kollektiven Gedächtnis an die offene Drogenszene am Letten verschwunden. Vielleicht wäre es Zeit, sich wieder daran zu erinnern?

Monique Ligtenberg studiert im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.

Das Heroin hat sich nicht nur vom Letten, sondern auch vom Diskurs über »kriminelle Ausländer« entfernt.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Gertrud Vogler, Eröffnung Flughafenknast II, 10.12.1996, Sozialarchiv Zürich, Bestand Gertrud Vogler, F 5108-Na-25-101-020.

Abb. 2: SVP Zürich, Das haben wir den Linken und den »Netten« zu verdanken, aus: Tages-Anzeiger vom 14.01.1994, S. 33.

Abb. 3: Klaus Peter Cadsky (»Nico«), Eltern, helft euren Drogenkindern, aus: Tages-Anzeiger vom 04.01.1994, S. 15.

Abb. 4: Gertrud Vogler, Bezirks- + Ausschaffungsknast Kloten, vermutlich 1994, Sozialarchiv Zürich, Bestand Gertrud Vogler, F 5107-Na-25-103-001.

Abb. 5: Gertrud Vogler, Zürich: Demo gegen die Zwangsmassnahmen, 03.12.1994, Sozialarchiv Zürich, Bestand Gertrud Vogler, F 5107-Na-25-118-017.

Abb. 6: Gertrud Vogler, Ausschaffungsknast Kloten II, 10.12.1996, Sozialarchiv Zürich, Bestand Gertrud Vogler, F 5107-Na-25-100-002.

Abb. 7: Yago Veith, Badi Oberer Letten, 2010, aus: Wikimedia, CC BY-SA 3.0 DE.

Literatur
  1. 1

    »Einweihung Flughafengefängnis 2 Kloten. Begrüssung durch Regierungspräsident Hans Hofmann, Baudirektor«, Textkopie vom Dezember 1996, Staatsarchiv Zürich, StAZH Z 59.193, S. 1–2.

  2. 2

    Margrit Näpfer Rohrer: Herzstich: Eine klassische Drogenkarriere. Miriam Rohrer geb. 1965, Bericht mit Fotos und Zeitdokumenten, Zollikon (2010), S. 26.

  3. 3

    Vgl. ebd., S. 30.

  4. 4

    Vgl. Peter J. Grob: Zürcher »Needle-Park«: Ein Stück Drogengeschichte und -politik, 1968–2008, Zürich: Chronos (2009), S. 93.

  5. 5

    Vgl. ebd., S. 97.

  6. 6

    Vgl. zum internationalen Kontext Jurg Gerber, Eric L. Jensen: »The Internationalization of U.S. Policy on Illicit Drug Control«, in: Jurg Gerber, Eric L. Jensen (Hg.): Drug War, American Style: The Internationalization of Failed Policy and Its Alternatives, New York: Garland (2001), S. 1–18, hier S. 7–11.

  7. 7

    Daniel Dunkel, Barbara Burer: »Arabische Dealer demonstrieren ihre Macht«, in: Tages-Anzeiger (15.08.1994), S. 15.

  8. 8

    Vgl. Damir Skenderovic: The Radical Right in Switzerland: Continuity and Change 1945–2000, New York: Berghahn (2009), S. 132–135.

  9. 9

    Damir Skenderovic, Gianni D’Amato: Mit dem Fremden politisieren: Rechtspopulismus und Migrationspolitik in der Schweiz seit den 1960er Jahren, Zürich: Chronos (2008), S. 137.

  10. 10

    Vgl. ebd., S. 148–149.

  11. 11

    Schweizerische Volkspartei: »Das haben wir den Linken und den ›Netten‹ zu verdanken: Mehr Kriminalität«, in: Tages-Anzeiger (14.01.1994), S. 15.

  12. 12

    Vgl. Hans Hartmann, Franz Horvath: Zivilgesellschaft von rechts: Die Erfolgsstory der Zürcher SVP, Zürich: Realotopia (1995), S. 145–159.

  13. 13

    Vgl. Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: Beck (2015), S. 507–550.

  14. 14

    Schweizerische Volkspartei: Drogenkonzept der SVP Zürich, Zürich (1990), S. 4.

  15. 15

    Vgl. Bruno S. Frey: »Drugs, Economics and Policy«, in: Economic Policy 25/12 (1997), S. 387–398, hier S. 392–394.

  16. 16

    Vgl. ebd., S. 389.

  17. 17

    Markus Meier: »Drogen verbieten hilft nicht«, in: Tages-Anzeiger (11.06.1993), S. 19.

  18. 18

    Vgl. ch: »SVP bleibt bei repressiver Drogenpolitik«, in: Neue Zürcher Zeitung (31.08.1994), S. 14.

  19. 19

    Daniel Dunkel: »Wenn wir noch lange warten, stirbt diese Stadt«, in: Tages-Anzeiger (16.08.1994), S. 19.

  20. 20

    Vgl. Peter J. Grob: Zürcher »Needle-Park«: Ein Stück Drogengeschichte und -politik, 1968–2008, Zürich: Chronos (2009), S. 99.

  21. 21

    Vgl. Dieter Thränhardt: »Der Nationalstaat als migrationspolitischer Akteur«, in: Dieter Thränhardt, Uwe Hunger (Hg.): Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag (2003), S. 8.

  22. 22

    Vgl. Damir Skenderovic: The Radical Right in Switzerland: Continuity and Change 1945-2000, New York: Berghahn (2009), S. 156.

  23. 23

    Kaa Linder: »Wie ein früherer Sprengmeister Ausschaffung menschlicher macht«, in: Schweizer Radio und Fernsehen, https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wie-ein-frueherer-sprengmeister-ausschaffung-menschlicher-macht (18.09.2016).

  24. 24

    Augenauf: »Sonderausgabe 10 Jahre Zwangsmassnahmen«, in: Augenauf Sonderbulletin, http://www.augenauf.ch/bs/archiv/10jzwang/sonderbulletin.pdf (02/2005), S. 2.

  25. 25

    Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD: »Die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht«, in: Handbuch Asyl und Rückkehr, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/asyl/verfahren/hb/g/hb-g5-d.pdf, S. 7–8.

  26. 26

    Ruedi Baumann: »Klares Ja zu 130 neuen Gefängnisplätzen«, in: Tages-Anzeiger (18.01.1994), S. 23.

  27. 27

    Vgl. Richard Rosenfeld, Steven F. Messner: »Crime Drop in Comparative Perspective. The Impact of the Economy and Imprisonment on American and European Burglary Rates«, in: Jan van Dijk u. a. (Hg.): The International Crime Drop. New Directions in Research, Houndmills: Palgrave Macmillan (2012), S. 200–230.

  28. 28

    »Beschluss des Kantonsrates über den Bau eines Ausschaffungsgefängnisses in Kloten«, Kantonsratsprotokoll vom 17.01.1994, Staatsarchiv Zürich, StAZH MM 24.138 KRP 1994/147/0001a, S. 6.

  29. 29

    Vgl. ebd., S. 4–5.

  30. 30

    Ebd., S. 12.

  31. 31

    Vgl. Ruedi Baumann: »Klares Ja zu 130 neuen Gefängnisplätzen«, in: Tages-Anzeiger (18.01.1994).

  32. 32

    »Beschluss des Kantonsrates über den Bau eines Ausschaffungsgefängnisses in Kloten«, Kantonsratsprotokoll vom 17.01.1994, Staatsarchiv Zürich, StAZH MM 24.138 KRP 1994/147/0001a, S. 2.

  33. 33

    Bundesamt für Statistik: »Bewegungen im Luftverkehr – Linien- und Charterverkehr«, in: Internet Archive, https://web.archive.org/web/20121115223303/http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/11/07/03/03.Document.51732.xls (15.11.2012).

  34. 34

    Vgl. Schweizerische Depeschenagentur AG: »Zwei Milliarden für Ausbau des Flughafens«, in: Tages-Anzeiger (18.01.1994), S. 23.

  35. 35

    Vgl. Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: Beck (2015), S. 507–550.

  36. 36

    Vgl. Minimalist_82: »Dejan X Reto Ardour @ Letten Opening X ZH 07.05.2016«, https://www.youtube.com/watch?v=p0rxVyX2UP0 (10.5.2016).

  37. 37

    Jü: »Das sind die beliebtesten Drogen«, in: Neue Zürcher Zeitung, https://www.nzz.ch/schweiz/das-sind-die-meistkonsumierten-drogen-der-schweiz-1.18284634 (15.04.2014).

  38. 38

    Vgl. Augenauf: »Über uns«, http://www.augenauf.ch/ueber-uns.html (02.11.2013).

  39. 39

    SRF Dok: »Zürich Junkietown«, https://www.youtube.com/watch?v=s4ruVs5ZM3I (10.07.2015).

  40. 40

    Michèle Binswanger: »The Needle Trauma«, in: Tages-Anzeiger, https://www.tagesanzeiger.ch/extern/storytelling/platzspitz/ (2014).