Æ Æther

Flughafen Kloten: Anatomie eines komplizierten Ortes
1
Kaj Späth

Grenzen der Mitbestimmung

In den Zürcher Fluglärmdebatten stehen die Anflugsrouten über die »Goldküste« und das deutsche Grenzgebiet im Mittelpunkt. Dabei wird einem Faktor erstaunlich wenig Beachtung geschenkt: den Grenzwerten, die ihrerseits eng mit der Geschichte des Fluglärms verknüpft sind.

Circa neun Kilometer Luftlinie entfernt vom grössten Flughafen der Schweiz – Zürich-Kloten – liegt Dübendorf, Heimat von knapp 27 000 Menschen. Direkt daneben befindet sich der seit kurzem stillgelegte Militärflugplatz der Schweizer Armee; bis zum Beginn des Baus des Klotener »Weltflughafens« 1946 liefen dort alle Luftverkehrsadern der Region zusammen. In Zukunft soll der Flugplatz erneut zivil genutzt werden. Geht es nach dem Willen des Bundes, wird hier ein zentral gelegener Standort für die Businessfliegerei entstehen. Schon Ende 2014 bekam die private Flugplatz Dübendorf AG den Zuschlag für den zukünftigen Betrieb, dessen Konzept bis zu 28 000 Flugbewegungen pro Jahr vorsieht, darunter auch moderne, düsenbetriebene Business-Jets. Der derzeitige Ruhezustand wird also kaum von Dauer sein. Vielmehr handelt es sich um eine kurze Verschnaufpause zwischen dem vergangenen Lärm der Militärmaschinen und dem künftigen Lärm der Privatjets.

Abb. 1: »Gruss aus Dübendorf«: Seit 1914 herrschte über Düberdorf reger Flugbetrieb. Postkarte, ca. 1935.

Und mit eben dieser Zukunft haben die Dübendorfer*innen ein Problem: Wer der Geräuschkulisse eines startenden Learjets einmal ausgesetzt war, wird kaum Freude an der Aussicht haben, diesem Lärm künftig regelmässig lauschen zu müssen – zusätzlich zum Lärm der Grossflugzeuge, deren südlicher Landeanflug in Richtung Flughafen Zürich-Kloten direkt über Dübendorf führt. Die Stadt Dübendorf hat deshalb einen Alternativplan entwickelt: Statt Businessreisenden zu dienen, soll der Standort in einen historischen Flugplatz mit Werkflügen, also Testflügen der Flugzeughersteller, umgewandelt werden. Am 26. November 2017 nahmen die Stimmbürger*innen der drei Nachbargemeinden des Flugplatzes – Dübendorf mit 57.7 Prozent, Volketswil mit 70.3 Prozent und Wangen-Brüttisellen mit 74.1 Prozent – die entsprechende Vorlage »Flugplatz Dübendorf; Historischer Flugplatz mit Werkflügen« an und machten damit den Weg frei für die Gründung einer gemeinsam getragenen Aktiengesellschaft, die sie selbst betreiben wollen. Geplante Anzahl an Flugbewegungen: maximal 20 000. Laut Alternativplan müssten die Gemeinden dazu einmal zwei Millionen Franken und jährlich 1.3 Millionen Franken aufbringen.1

Was zunächst als ökonomischer Unsinn erscheint, ist tatsächlich ein letzter politischer Versuch der drei Gemeinden, die Grenzen ihres Handlungsspielraum auszureizen, um so die lärmintensive(re) Nutzung des Flugplatzes durch Businessjets zu verhindern. Oder wie es der Dübendorfer und grünliberale Nationalrat Martin Bäumle kurz vor der Abstimmung den Einwohnerinnen und Einwohnern Dübendorfs zurief: »Wir haben nun die letzte Chance, über die Zukunft des Flugplatzes Dübendorfs mitzuentscheiden.«2 Es ist auch der letzte verzweifelte Versuch, über die zukünftige Gestaltung der eigenen Umwelt und Lebensrealität zu bestimmen – wobei die Initiator*innen dafür offenbar in Kauf nehmen, selbst zu Lärmverursacher*innen zu werden. Lieber 20 000 Flugbewegungen alter Flugzeuge, darauf läuft der Alternativplan letztlich hinaus, als die 28 000 Businessjets. So zumindest das Kalkül der Dübendorfer Lokalpolitiker*innen. Der Haken an der Sache: Der Flugplatz gehört nicht den Dübendorfer*innen, sondern dem Bund. Der Bund vertritt die Position, dass der künftig zu erwartende Fluglärm – der Businessjets – keinesfalls mit der Lärmbelastung von ehedem – durch Kampfflugzeuge – zu vergleichen ist. Ohnehin würden die geltenden Grenzwerte der Lärmschutzverordnung nicht überschritten werden. Und das ist das eigentliche Problem Dübendorfs: Dass sie gemäss dieser Grenzwerte gar kein Problem haben sollten. Worüber dann aber mitbestimmen?

Das Problem, das die Dübendorfer*innen – je nach Perspektive – haben oder nicht haben, lässt sich besser verstehen, wenn man sich die Geschichte der zu Debatte stehenden Grenzwerte etwas genauer anschaut. Hinter den Grenzwerten verbirgt sich ein prinzipielles und vielleicht sogar unlösbares Problem, das die Schnittstelle von Wissenschaft und Recht berührt. Das gesellschaftliche Problem namens »Fluglärm« ist dabei so alt wie das Düsenjetzeitalter selbst und wird seitdem vor Gericht verhandelt.

Der Aufstieg der Experten

(K)ein Lärmproblem hatte auch – gemäss einem Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 1953 – ein gewisser Herr Merz, wohnhaft im aargauischen Reinach. Die seinerzeit neu angeschafften Maschinen des benachbarten Drahtwerks Vogt & Cie störten Merz nachhaltig in seiner Ruhe, und so entschied sich Merz, gerichtlich gegen die Lärmverursacherin vorzugehen. Ohne Erfolg, denn die herbeigezogenen »Oberexperten«, darunter Prof. Hans H. Staub, Direktor des Physikalischen Instituts der Universität Zürich, kamen damals zum Schluss, dass die wahrzunehmenden Geräusche in Merz’ Wohnzimmer sich durchaus »in angemessenen Grenzen« bewegten, würde doch sogar das Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Lastwagens die vom Drahtwerk ausgehenden Maschinengeräusche übertönen.3

Abb. 2: »Schön lysli [...] lande!«: Das Satiremagazin Nebelspalter amüsiert sich im Jahr 1964 über das Zürcher Lärmproblem.

Herr Merz musste sich auf Grundlage der hinzugezogen wissenschaftlichen Expertise vom Bundesgericht sogar den Vorwurf gefallen lassen, er sei »hypersensibel« und leide unter einer verzerrten Realitätswahrnehmung:

»Wenn der Kläger erkläre, seine Klage sei durch unvergleichlich viel stärkere Einwirkungen veranlasst worden, als sie von den Oberexperten bei maximaler Belastung der Maschinen und gleichzeitigem Hämmern festgestellt werden konnten, so bestehe ein Widerspruch zwischen subjektivem Eindruck und Realität, der sich nur damit erklären lasse, dass sich der Kläger in einen Zustand der Erregung hineingesteigert und damit auch seine Umgebung angesteckt habe. Auf solche ›bereits ans Hypersensible grenzende‹ Eindrücke dürfe bei der Entscheidung der Frage, ob Einwirkungen im Sinne von Art. 684 ZGB übermässig seien, nicht abgestellt werden, sondern es komme auf die Eindrücke an, die ›der normale Durchschnittsmensch‹ empfange.«4

War Herr Merz 1953 noch dem Gutdünken der Oberexperten ausgeliefert beziehungsweise dem gerichtlichen Verständnis darüber, was »der normale Durchschnittsmensch« eigentlich als Lärm zu empfinden habe, so änderte sich das rechtlich-wissenschaftliche Verständnis des »Lärmproblems« im Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre grundlegend. Lärm (und »Lärmbekämpfung«) wurde in der Nachkriegszeit allerorts zu einem breit diskutierten Thema: Verkehrslärm, Industrielärm, Hauslärm oder »Hellhörigkeit« und nicht zuletzt der stetig anschwellende Fluglärm machten den Zeitgenoss*innen damals zu schaffen.5 Dass die Zukunft der Fortbewegung dabei den (ungleich lauteren) Düsentriebwerken gehören würde, liess Schlimmstes befürchten. 1957 kam das Fluglärmproblem endgültig in der politischen Arena der Schweiz an: Am 23. Juni 1957 verhinderte das Zürcher Stimmvolk die geplante zweite Ausbauetappe des Flughafens Zürich-Kloten, indem es mit 54 Prozent Nein-Stimmen den dafür notwendigen Baukredit des Kantons an der Urne versenkte. Die Angst vor dem Fluglärm im eigenen Garten spielte eine grosse Rolle für die Ablehnung der Expansionspläne.6

Abb. 3: Kampf gegen das Jet-age: Anlieferung eines Schalldämpfers in Zürich-Kloten, 1968.

Fast unweigerlich zogen die grossen Infrastrukturprojekte der Zeit – Flughäfen, Bahnstrecken, Autobahnen oder der Städtebau – gesellschaftliche Debatten nach sich, und fast unweigerlich hatten sie zur Folge, dass wissenschaftliche Experten hinzugezogen wurden, um derartige Debatten zu schlichten. Unter diesen Experten befanden sich immer öfter auch Lärmspezialisten, deren Arbeit sich nicht zuletzt dadurch erschwerte, dass Lärm zwar ein offenbar »subjektives« beziehungsweise psychoakustisches Phänomen war, sie messtechnisch – nämlich »objektiv« – aber nur auf dessen physikalische Grundlagen zugreifen konnten. Ein anderes Problem bestand darin, effektiv gegen konkrete Lärmbelastungen vorzugehen. Berührte Ersteres geradezu klassische Fragen der Psychophysik, brachte Letzteres Physiker, Ingenieure und Mediziner in Zugzwang. Die Lärmexperten dienten also nicht nur als Gutachter vor Gericht (wie Professor Staub), fast mehr noch waren sie auf Massnahmen erpicht, die sicherstellen sollten, dass es zu Klagen vor Gericht gar nicht erst kam. So begann sich beispielsweise um das Jahr 1960 auch der Gesundheitsinspektor der Stadt Zürich für die »Lärmdämmung mit Hilfe von Grünpflanzen« zu interessieren. Um diese (mögliche) Hilfestellung der Grünpflanzen zu untersuchen, liess er am Fusse des Uetlibergs, im »Lehrwald« des Instituts für Waldbau der ETH Zürich, je abwechselnd eine Vespa, einen Jeep und einen »luftgekühlte[n] Magirus-Deutz-Diesel«-Lastwagen aufstellen, um nachzuverfolgen, wie weit die Motorengeräusche sich im Wald verbreiteten beziehungsweise wie stark sie sich durch die Bepflanzung abschwächen liessen. Ein »Präzisions-Schallmessgerät Typ 1551-B mit Oktavband-Analysator Typ 1550-A« zeichnete das Ganze auf.7 (Die messtechnischen Fortschritte beflügelten die Experten damals fast ebenso wie die vielen Lärmquellen.) Der Zürcher Physiologe Étienne Grandjean indessen begann sich um die »Wirkungen des Lärms auf den Menschen« zu sorgen.8 Und auch am Flughafen war man inzwischen aktiv geworden: Dort experimentierte man nun mit neuartigen Schalldämpfern, die an den Triebwerken der Flugzeuge angebracht wurden, um den Bodenlärm zu reduzieren.

An der ETH Zürich liefen in diesen Jahren viele Fäden der Schweizer Lärmforschung zusammen. Einen »Versuchsraum für angewandte Akustik und Raum-Akustik« gab es dort seit dem Jahr 1924; in den vierziger Jahren setzte man dann verstärkt auf die neue Elektroakustik.9 Im Jahr 1956 wurde an der ETH die Schweizerische Liga gegen den Lärm gegründet. Mit von der Partie waren namhafte Forscher, allen voran der Zürcher Jurist Karl Oftinger, Willi Furrer, Direktor der Radio Schweiz AG, und Étienne Grandjean, Leiter des Instituts für Hygiene und Arbeitsphysiologie an der ETH. Alle drei waren Mitherausgeber der Zeitschrift Lärmbekämpfung, die noch im gleichen Jahr wie die Lärmliga aus der Taufe gehoben wurde, um für die »technisch-wissenschaftliche[n]« sowie »medizinische[n] und juristische[n] Fragen der Lärmbekämpfung« eine gemeinsame Plattform zu schaffen.10 Die Gründung der Lärmliga markierte den Startschuss für die nachhaltige Positionierung des Lärmthemas auch in der Politik. Der Historiker Gallati spricht von einem gezielten politischen Agenda Setting durch die Gründer der Lärmliga.11

Die zunehmende Politisierung des »Lärmproblems« manifestierte sich bereits im Jahr nach Gründung der Liga, 1957, als der Bund die eidgenössische Expertenkommission für Lärmbekämpfung einsetzte. Auftrag der Kommission war es, »das Lärmproblem vom medizinischen, technischen und rechtlichen Standpunkt aus möglichst umfassend zu untersuchen und dem Bundesrat rechtliche Massnahmen zur Lärmbekämpfung vorzuschlagen«. Knapp sechs Jahre später – inzwischen war auch an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Versuchsanstalt (Empa) eine »Abteilung Akustik und Lärmbekämpfung« ausgegründet worden (mit Standort in Dübendorf) – legte die Expertenkommission das erste Dokument ihrer Art in der Schweiz vor: »Lärmbekämpfung in der Schweiz: Bericht der Eidgenössischen Expertenkommission an den Bundesrat.«12

Abb. 4: Die erste Ausgabe der Lärmbekämpfung, 1956. Mit dabei: die Zürcher Lärmbekämpfer Étienne Grandjean und Karl Oftinger.

In dieser umfassenden Betrachtung über Lärm wurden die unterschiedlichsten Lärmquellen, angefangen beim Fluglärm, Industrielärm und Strassenlärm bis hin zum Lärm der Milchkannen und »Kehrichtkübel«, aus medizinischer, juristischer und technisch-wissenschaftlicher Perspektive untersucht. Der Bericht von 1963 konnte auch viele Vorschläge für die Lärmbekämpfung unterbreiten – was not tat, denn trotz punktueller Erfolge hinkte die Lärmbekämpfung hinter den Entwicklungen hinterher. (So war etwa der Bundesrat zum Entsetzen Oftingers der Meinung, dass selbst »14jährigen Kindern [bald] das Fahren mit Motorrädern (1 PS) ohne vorgängige Führerprüfung erlaubt sein« sollte.)13 Die Schlussbemerkungen der Kommission lässt den neuen politischen Willen ahnen, der sich anschickte, die Lärmquellen nun konsequent als Gefährdung des Volkswohls anzugehen: »Die Verwirklichung der Postulate wird viel Mühe, Zeit und Geld kosten. Aber Gesundheit und Wohlbefinden eines Volkes sind Werte, die zu erhalten kein Preis zu hoch sein darf.«14 Die besondere Dringlichkeit, die dem Fluglärm in dieser Sache zugeschrieben wurde, zeigt sich bereits an dessen Sonderbehandlung durch die Kommission: Bereits im Jahr 1961, ganze zwei Jahre bevor die Lärmexperten ihre Ergebnisse präsentierten, wurde dem Bundesrat der Teilbericht zum Fluglärm überwiesen.15

Lärmindizes

Das Versprechen der Objektivierung und Entpolitisierung, das dem Bericht der Expertenkommission vorauseilte, wurde auch in der endgültigen Formulierung der Kriterien für die »Immissionsgrenzwerte für Lärm« im Umweltschutzgesetz von 1983 aufgegriffen. Artikel 15 des Umweltschutzgesetzes formulierte diesbezügliche Vorgaben: Demnach sollten die Immissionsgrenzwerte jene Grenzen definieren, unterhalb derer »nach dem Stand der Wissenschaft oder der Erfahrung [...] die Bevölkerung in ihrem Wohlbefinden nicht erheblich« gestört wird.16 Was eine erhebliche Störung des Wohlbefinden der Bevölkerung ist, sollte nach diesem Gesetz also nicht länger nach den Wertmassstäben des Rechts, der Politik oder der Wirtschaft entschieden werden, sondern ausschliesslich durch Massgabe wissenschaftlicher Erkenntnisse. Mit diesem politischen Konsens, das Fluglärmproblem mit wissenschaftlich begründeten Grenzwerten in den Griff zu bekommen, ergab (und ergibt) sich für die Wissenschaft ihr spezifisches Fluglärmproblem: Wie sollten Wissenschaftler*innen einen Grenzwert definieren können für ein Phänomen, das so sehr von der individuellen Wahrnehmung und dem sozialen Umfeld der Menschen abhängt?

Abb. 5: Étienne Grandjean, Leiter des Instituts für Hygiene und Arbeitsphysiologie an der ETH, mit Schallpegelmesser, 1974.

Die Antwort lautet(e): Indem man ein Mass entwickelt, welches erlaubt, die subjektive Lärmbelastung anhand physikalischer Schallereignisse abzubilden. Das ist im Kern auch die Idee eines Fluglärmindex: eine mehr oder weniger komplex gestrickte Mess- und Berechnungsvorschrift. Mit einem solchen Index kann man also akustische Messwerte wie Schallpegel oder Schallhäufigkeit interpretieren und damit abschätzen, wie viele Menschen sich durch die jeweiligen Schallimmissionen gestört fühlen. So tritt mit dem Lärmindex ein objektivierendes Beurteilungsmass an die Stelle des individuellen, subjektiven Urteils des lärmgeplagten Flughafenanwohners beziehungsweise der Flughafenanwohnerin.

Diese Übersetzungsleistung von akustischen Messwerten in eine Schätzung über die Lärmbelastung ist aber nur möglich, wenn man weiss, wie Menschen auf Schallereignisse überhaupt reagieren beziehungsweise welche messbaren und beobachtbaren Phänomene hierfür eigentlich aussagekräftig sind. Der 1970 am Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH Zürich verfasste Bericht »Lärm« von Alfred Gilgen formulierte dieses den Indizes eigentümliche Dilemma folgendermassen: »Bei der Auswahl eines Verfahrens sollte aber nicht in erster Linie auf die messtechnische Perfektion Wert gelegt werden, sondern viel mehr auf vorhandene Beziehungen zwischen akustischen Messwerten und sozio-psychologischen Untersuchungen.«17

Es waren dann auch diese vermutlich vorhandenen Beziehungen, welche aus Gilgens Sicht den in den sechziger Jahren in England entwickelten Noise and Number Index (NNI) auch für die schweizerischen Verhältnisse am besten geeignet erscheinen liess. Als einer der damals weitverbreitetsten Indizes basierte der NNI unter anderem auf einem sogenannten »jury test«, also einer sozialwissenschaftlichen Befragung. Im Rahmen dieser Befragung sollte die aus sechzig Personen bestehende »Jury« die Belastung durch verschiedene Typen von Flugzeugen bewerten, die über sie hinwegflogen:

»In the Farnborough study executed at the request of the Wilson committee, sixty subjects of varying age and sex judged the sounds of real aircraft flying overhead on three afternoons during the 1961 Aircraft Show at Farnborough.«18

Die ersten Immissionsgrenzwerte für Fluglärm in der Schweiz basierten damit zu einem grossen Teil auf englischen Untersuchungen. Erst mit der grossangelegten »Lärmstudie 90« der ETH Zürich aus dem Jahr 1990 und dem Wechsel vom NNI zum sogenannten »Äquivalenten Dauerschallpegel« (Leq) respektive zum »Beurteilungspegel« Lr unterfütterte die Schweiz den damals neuen, international eingesetzten Lärmindex mit einer umfassenden Untersuchung der Beziehung zwischen akustischen Messwerten und den soziopsychologischen Gegebenheiten rund um die Landesflughäfen der Schweiz. Anders als noch der NNI, welcher die Anzahl Flugzeugüberflüge in der Berechnung mitberücksichtigte, liegen dem Leq nur noch die Lärm-Messwerte zugrunde, aus denen die gemittelte Schallenergie über einen bestimmten Zeitraum berechnet wird. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse bilden zusammen mit der späteren »Lärmstudie 2000« der ETH Zürich die Grundlage für die Festsetzung der heute geltenden Grenzwerte für Fluglärm.19

Abb. 6: Der »Schutzverband der Bevölkerung um den Flughafen Zürich« interveniert: Das Zürcher Flughafenproblem, 1970.

Das Fluglärmproblem beschert der Wissenschaft so ein ernsthaftes Folgeproblem: Nicht nur, dass eine »Abbildung« qua Lärmindex das Problem subjektiv/objektiv eher verschiebt als löst; die Frage knüpft sich an, wie diese Wissenschaft weiterhin als rational und politisch neutral gelten kann, wenn sie zugleich politische Entscheidungen treffen soll, die wiederum ihre wissenschaftliche Legitimität in Frage stellen.20 Für die frühen Lärmforscher*innen scheint dieses Problem noch eine geringere Rolle gespielt zu haben als heute. In dem erwähnten Lärmbericht aus dem Jahr 1970 empfiehlt Alfred Gilgen scheinbar ohne jegliche Vorbehalte den Wert von 50 NNI als Grenzwert.21 Wesentlich vorsichtiger hingegen sind die Autor*innen der Lärmstudie 2000, wenn sie (nicht zuletzt) die Grenzen der Wissenschaft in dieser Angelegenheit betonen:

»Unsere Arbeit wird keine Pauschalurteile über die Zumutbarkeit von Fluglärm, keine Grenz- und keine Richtwerte liefern können. Genauso wenig wie sich ein »Recht auf Ruhe« nicht wissenschaftlich begründen lässt, wird die Feldstudie keine Aussagen darüber machen können, wie zumutbar Fluglärm für Anwohner ist.«22

Die Autor*innen versuchen damit, der politischen Dimension von Wissenschaft zu entkommen, verkennen aber, dass die Lärmforschung aufgrund der umfassenden Politisierung des Fluglärms seit den fünfziger Jahren gar nicht mehr unpolitisch kommunizieren kann. Denn die Lärmforschung untersucht mit einem politischen Auftrag ein politisch gewordenes Phänomen und ihre Messungen werden bei aller Wissenschaftlichkeit als politische Kommunikation wahrgenommen: »Wie bereits die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragungen von 2001 und 2003 zeigten«, so mussten auch die Autor*innen der Lärmstudie 2000 eingestehen, »scheint ein gewisser Prozentsatz von Personen unabhängig von der Grösse der tatsächlichen Schalleinwirkung hohe bis sehr hohe Belästigungswerte zu reklamieren. So wurden auch in Null-Nächten im vorliegenden Versuch zuweilen Belästigungswerte von bis zu sechs Punkten angegeben. Ob die entsprechenden Reaktionen als ›politische Signale‹ aufgefasst werden müssen, durch echten (nicht-simulierten) oder durch ›falsch‹ erinnerten Fluglärm entstanden sind, kann zur Zeit noch nicht schlüssig geklärt werden.«23

Abb. 7: Der Schall verzeichnet sich selbst: Lärmmessung am Flughafen Zürich-Kloten, 1983.

Grenzwerte

Grenzwerte sind integraler Bestandteil unserer modernen Gesellschaft, welche sich durch die ständige Regulierung von natürlichen, technischen und sozialen Prozessen auszeichnet. Grenzwerte sind dem Verlangen nach Kontrolle geschuldet, nach Eindeutigkeit und dem Bedürfnis nach belastbaren Entscheidungsgrundlagen. Sie sollen Behörden entlasten und Rechtssicherheit schaffen, indem sie eindeutig festlegen, was schädlich ist und was nicht. Nicht zuletzt beeinflussen Grenzwerte die verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft, die Politik ebenso wie die Wissenschaft, die Wirtschaft ebenso wie das Recht. Oder wie es der Wissenschaftssoziologe Carsten Reinhardt formuliert:

»Die Aufstellung eines Grenzwerts ist zugleich ein wissenschaftlicher, juristischer, wirtschaftlicher und hoheitlicher Akt, der, obwohl die Grenzwertsetzung jeweils unterschiedliche Bedeutungen trägt, die Teilsysteme koppelt.«24

Rund um Kloten (und Dübendorf) bestand in den verschiedenen »Teilsystemen« schon früh Konsens darüber, dass es notwendig sei, Grenzwerte zu bestimmen. Aber bei der Frage, wer die Grenzwerte festlegt und wie sie bestimmt werden, schieden sich die Geister – und sie scheiden sich bis heute. So sprach sich etwa der Jurist Karl Oftinger, Lärmgegner der ersten Stunde, schon früh grundsätzlich gegen Lärmmessungen und Grenzwerte als vorrangiges Mittel zur Bestimmung von übermässigen Belastungen aus. Oftinger ahnte bereits in seiner rechtswissenschaftlichen Kampfschrift Lärmbekämpfung als Aufgabe des Rechts (1956), dass Grenzwerte den Handlungsspielraum des Rechts dauerhaft einschränken würden. Dem Recht müsse »seine beherrschende Funktion zurückgegeben werden«: »Es ist Sache des Rechts, der Technik die Grenzen zu bezeichnen, innert deren sie sich verwirklichen darf. Hierfür sind die dem Recht eigenen Wertmassstäbe entscheidend. Nicht aber darf sich das Recht von der Technik deren Betrachtungsweise aufdrängen lassen.«25

Abb. 8: Abflug mit Zuhörern: Lärmmessung am Flughafen Zürich-Kloten, 1983.

In dieser Aussage kündigt sich ein Problem an, das Lärmgegner*innen und Anwohner*innen seit den sechziger Jahren haben: Seit der Einführung der ersten Grenzwerte ist es kaum noch möglich, diese grundsätzlich infrage zu stellen – nicht zuletzt, weil die jeweils beteiligten Akteure (Politik, Industrie, Recht, Wissenschaft, Anwohner*innen etc.) kaum umhinkommen, diese Grenzwerte nicht zu instrumentalisieren und ohne sie zu argumentieren. Selbst die Kritik am Status quo – der Plan der Dübendorfer*innen wäre nur eines von vielen Beispielen – muss immer am momentan herrschenden Grenzwert und seiner Berechnung anknüpfen. Die Grenzwerte sind damit zu Grenzen der politischen Mitbestimmung geworden. Das heisst natürlich nicht, dass diese Werte auf breite Akzeptanz stossen. So brachte Lothar Ziörjen, Dübendorfer Stadtpräsident und Präsident des »Fluglärmforums Süd«, das grundsätzliche Dilemma der Lärmgrenzwerte recht anschaulich auf den Punkt: »Die Leute empfinden den [Fluglärmindex] Leq 16 als zynisch. Sie verstehen nicht, warum sie offiziell keinen Lärm haben sollen, wenn sie am Morgen nach dem ersten Südanflug senkrecht im Bett stehen.«26

Kaj Späth studiert im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.

Grenzwerte sind dem Verlangen nach Kontrolle geschuldet, nach Eindeutigkeit.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Unbekannt, Gruss aus Dübendorf, ca. 1935, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Ans_05035-532.

Abb. 2: Vier Lärm-Messstellen in der Umgebung des Flughafens Kloten [...], aus: Nebelspalter: das Humor- und Satire-Magazin 90 (1964), S. 31.

Abb. 3: Unbekannt, Standlauf-Schalldämpfer-Transport ab Firma Mars Pratteln in die Werft in Zürich-Kloten, 1968, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_SR03-09596-102.

Abb. 4: Lärmbekämpfung: Technisch-wissenschaftliche Zeitschrift für Bekämpfung des Verkehrs- und Betriebslärms, für Schallschutz im Bauwesen und Raumakustik. Zeitschrift für medizinische und juristische Fragen der Lärmbekämpfung 1 (Dezember 1956), Cover.

Abb. 5: Unbekannt, Prof. Etienne Grandjean bei der Vorführung einer Versuchsanlage am Institut für Arbeitsphysiologie der ETH Zürich, 1974, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Com_L23-0414-0104A.

Abb. 6: Das Zürcher Flughafenproblem. Eine Dokumentation zur Urteilsbildung des Politikers und des Bürgers, Zürich: Schutzverband der Bevölkerung um den Flughafen Zürich (1970), Cover.

Abb. 7: Unbekannt, Flughafen Zürich-Kloten, Lärmmessung, Lärmmessschreiber, 1983, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Com_LC0738-017-001-005.

Abb. 8: Unbekannt, Flughafen Zürich-Kloten, Lärmmessung, 1983, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Com_LC0738-017-001-001.

Literatur
  1. 1

    Vgl. die Medienmitteilung des Stadtrates Dübendorf und der Gemeinderäte Volketswil und Wangen-Brüttisellen: »Flugplatz Dübendorf: die Bevölkerung sagt JA zum Historischen Flugplatz mit Werkflügen«, https://www.historischer-flugplatz.ch/blog/2017/11/26/die-bevlkerung-sagt-ja (26.11.2017).

  2. 2

    Zitat aus: Andreas Schürer: »Ungleicher Kampf um die Lufthoheit über Dübendorf«, in: Neue Zürcher Zeitung, https://www.nzz.ch/zuerich/ungleicher-kampf- um-die-lufthoheit-ueber-duebendorf-ld.1326613 (10.11.2017).

  3. 3

    Entscheide des Schweizerischen Bundesgerichts 79 II (1953), S. 55.

  4. 4

    Entscheide des Schweizerischen Bundesgerichts 79 II (1953), S. 52.

  5. 5

    Vgl. etwa Karin Bijsterveld: Mechanical Sound: Technology, Culture, and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge MA: MIT Press (2008). Zur Schweiz siehe Monika Dommann: »Antiphon: Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte«, Historische Anthropologie 14 (2006), S. 133–146.

  6. 6

    Vgl. Sandro Fehr: »Fluglärm in der guten Stube: zu den Wechselwirkungen zwischen Luftfahrtinfrastrukturen und wohnräumlichen Strukturen in der Schweiz, 1936–1958«, in: Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 28 (2014), S. 275–293, hier S. 291.

  7. 7

    W. Hess: »Die Lärmdämmung mit Hilfe von Grünpflanzen«, in: Zeitschrift für Präventivmedizin 6 (1961), S. 303–312, hier S. 304.

  8. 8

    Vgl. Karl D. Kryter und Étienne Grandjean (Hg.): Die Wirkungen des Lärms auf den Menschen. Mensch und Umwelt Nr. 4, Basel: Geigy AG (1960).

  9. 9

    Vgl. Sabine von Fischer: Hellhörige Häuser. Akustik als Funktion der Architektur, 1920–1970, Dissertation ETH Zürich (2013).

  10. 10

    Die Zeitschrift entstand in Kooperation mit den Lärmbekämpfern der BRD. Siehe Lärmbekämpfung. Technisch-wissenschaftliche Zeitschrift für Bekämpfung des Verkehrs- und Betriebslärms, für Schallschutz im Bauwesen. Zeitschrift für medizinische und juristische Fragen der Lärmbekämpfung 1 (1956).

  11. 11

    Vgl. Mischa Gallati: Gedämpfter Lärm: Die Schweizerische Liga gegen den Lärm, 1956–1966, Zürich: Eigenverlag (2004) [Lizentiatsarbeit an der Universität Zürich].

  12. 12

    Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment (Hg.): Lärmbekämpfung in der Schweiz: Bericht der Eidgenössischen Expertenkommission an den Bundesrat, Bern: Eidgenössischen Drucksachen- und Materialzentrale (1963).

  13. 13

    »Lärmbekämpfung« (o.V.), in: Schweizerische Bauzeitung 50 (1960), S. 819.

  14. 14

    Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment (Hg.): Lärmbekämpfung in der Schweiz: Bericht der Eidgenössischen Expertenkommission an den Bundesrat, Bern: Eidgenössische Drucksachen- und Materialzentrale (1963), S. 47.

  15. 15

    Ebd., S. 18.

  16. 16

    Bundesgesetz über den Umweltschutz, Art. 15: »Immissionsgrenzwerte für Lärm und Erschütterungen«.

  17. 17

    Alfred Gilgen: Lärm: Fluglärm – Strassenverkehrslärm – Schienenverkehrslärm – Industrielärm – Baulärm – Schiesslärm, Zürich: ETH (Forschungsausschuss für Planungsfragen), S. 31.

  18. 18

    Karin Bijsterveld: Mechanical Sound: Technology, Culture, and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge MA: MIT Press (2008), S. 208.

  19. 19

    Vgl. Belastungsgrenzwerte für den Lärm der Landesflughäfen, Bern: Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) (1998).

  20. 20

    Vgl. Carsten Reinhardt: »Regulierungswissen und Regulierungskonzepte«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), S. 351–364, hier S. 356.

  21. 21

    Vgl. Alfred Gilgen: Lärm: Fluglärm – Strassenverkehrslärm – Schienenverkehrslärm – Industrielärm – Baulärm – Schiesslärm, Zürich: ETH (Forschungsausschuss für Planungsfragen), S.46. Gemeint sind hier Vorbehalte über die Rolle der Wissenschaft.

  22. 22

    Mark Brink, Regula Rometsch, Katja Wirth, Christoph Schier: Lärmstudie 2000, Zürich: ETH, https://doi.org/10.3929/ethz-a-005552514, S. 10.

  23. 23

    Mark Brink, Regula Rometsch, Katja Wirth, Christoph Schier: Lärmstudie 2000, Zürich: ETH, https://doi.org/10.3929/ethz-a-005552514, S. 156.

  24. 24

    Carsten Reinhardt: »Regulierungswissen und Regulierungskonzepte«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), S. 351–364, hier S. 353.

  25. 25

    Karl Oftinger: Lärmbekämpfung als Aufgabe des Rechts, Zürich: Schulthess (1956), S. 134.

  26. 26

    Zitat aus: Andreas Schürer: »Flughafen Zürich: Geteilte Meinungen zu geteiltem Lärm«, in: Neue Zürcher Zeitung, https://www.nzz.ch/wissenschaft/ flughafen-zuerich-geteilte-meinungen-zu-geteiltem-laerm-ld.132004 (02.12.2016).