Æ Æther

Montan-Welten: Alpengeschichte abseits des Pfades
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Juri Vonwyl

Das Rind in der Höhe

Die Rinderhaltung auf der Alp ist in der Schweiz seit dem 18. Jahrhundert weit verbreitet. Doch das Rind war immer mehr als bloss Mittel zum Zweck: Es gestaltete die Alpen aktiv mit.

»Har Kuchi! Ho Loba!
Hie unte, hoch obe! Tryb use, Tryb yne,
de Reihe astimme, bring z’erst die Dreichel. […]
Ach Schätzeli häben frohen Mueth, am Frylig wie mer fahren,
es Zigerli und Pelznideli, das chast du esse lideli, a dir will i’s nit spare.«1

Freudig springende Kühe, gefolgt von ebenso erfreuten Menschen. Schönes Wetter, gute Luft und überaus friedvolle Stimmung im Einklang mit der Natur. Dieses Bild beschwört der Kuhreihen der Oberhasler, in dem der Gang auf die Alp (»Am Frylig wie mer fahren« - »Im Frühling wollen wir fahren«) und die Freude an einfachen Dingen, wie etwa Süssspeisen (»Zigerli und Pelznideli«), besungen werden. Der Kuhreihen zeichnet das Bild einer heilen Alpenwelt. Kuhreihen sind, so der Musikethnologe Max Baumann, als spezifische Ausprägungen des Jodels zu verstehen, die tief in der Hirten- und Agrarkultur der Alpen verankert sind. »Der Kuhreihen ertönt zum feierlichen Tag der Alpfahrt, gesungen von den vorausziehenden Sennen. Wo die Brauchtumsträger aus ihrer primären, alpinen Umgebung verpflanzt werden, erfährt die gesellige Funktion des Kuhreihens eine Ausprägung in der Richtung einer nationalen Erkennungsmarke.«2

Hinter den Zeilen steckt weit mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Der Kuhreihen dient als Symbol für die kulturelle Verankerung der Alpung. Er bildet eine idealisierte Welt ab, in der die Arbeit des Kühers (Kuhhirten) als etwas Reines, Ausgelassenes und Natürliches erscheint.3 Dies ist unter anderem auch dem Titelblatt der Kuhreihensammlung des Berner Pfarrers Johann Rudolf Wyss (1763–1845) zu entnehmen. Aus der berühmten Sammlung stammen auch die hier verwendeten Kuhreihen. Vier junge Männer und eine junge Frau vergnügen sich musizierend, tanzend und lachend, während die ihnen anvertrauten Nutztiere friedlich um sie herumstehen. Sie scheinen keine Anstalten zu machen, Reissaus zu nehmen.

Die Vorstellung einer heilen Alpenwelt beschränkte sich nicht nur auf die Kuhreihen. In zahlreichen Schriften und Bildern aus dem 18. und 19. Jahrhundert taucht dieses Motiv auf, so beispielsweise in den Werken des Schweizer Malers Alexandre Calame (1810–1864). Der in Vevey geborene Künstler spezialisierte sich auf Alpenlandschaften. 1843 erschuf er das Bild Le Mont Rose, auf dem im Hintergrund das Massiv des Mont Rose in den Walliser Alpen zu sehen ist. Im rechten Bildteil sind drei Rinder abgebildet. Von der Abendsonne bestrahlt stehen und liegen sie friedlich vor dem Alpenpanorama. Im Schatten eines Felsens sitzt ein Küher und scheint seine Rinder sich selbst zu überlassen.

Abb. 1: Der Scherenschnitt von Johann Jakob Hauswirth (1867) zeigt das traditionelle Bild des Alpaufzuges. Mit Glocken behangene Rinder folgen einem schmalen Pfad in die Höhe. Einige Menschen begleiten sie auf ihrem Weg.

Das Bild zeugt von einer romantisierten Vorstellung vom Leben in den Alpen: Die Ruhe, das einfache Leben der Hirten, die erhabene Ausstrahlung der Alpen und der Rinder verwandeln die Alpen in eine Art Schlaraffenland. Dass diese Vorstellungen nur bedingt etwas mit dem alltäglichen Leben in den Alpen zu tun hat, wurde schon vielfach angemerkt. Die Bewirtschaftung des Alpenraumes war eine Herausforderung und konnte den Menschen und Tieren viel abverlangen. Die Höhenunterschiede in den Alpen erforderten ein nicht geringes Mass an Migration. Klassisches Beispiel für eine Migration in den Alpen ist die Praxis der Alpung. Die Alpung, dieser traditionelle, alljährliche Gang der Nutztiere aus den Tälern in ihr Sommerquartier in den Bergen, hatte (und hat weiterhin) einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Landschaft, die Tiere und nicht zuletzt auf die Menschen. Damit es den Kühern überhaupt möglich war, froh singend in die Alpen zu ziehen, waren diverse Vorarbeiten notwendig. Wege mussten geschaffen, Wälder gerodet und passende Weideflächen ausgesucht werden, die den Kühern und ihren Herden zugeteilt wurden. Besonders die Zuteilung der Alpweiden, die häufig als Allmenden im Allgemeinbesitz waren, verlief nicht immer konfliktfrei und musste mitunter streng reglementiert werden. In der Bewirtschaftung der Alpen fanden verschiedene Akteure zusammen: die Menschen, die ihren Lebensunterhalt in der Agrarwirtschaft verdienten, ihre Familienangehörigen und nicht zuletzt die Tiere. Gemeinsam veränderten diese Akteure die Gestalt der montanen Welt.

Über die alpine Rinderwirtschaft ist schon Vieles geschrieben worden. Was allerdings auffällt, ist, dass die Tiere selbst in den meisten historischen Arbeiten zur Alpwirtschaft kaum auftauchen – und wenn, dann als Mittel zum Zweck und spezifisches Produkt der Agrarwirtschaft. Aufbauend auf der Arbeit diverser Alpenhistoriker*innen soll im Folgenden das Tier, genauer das Rind, im Fokus stehen.4 Dass die Praxis der Alpung nicht ausschliesslich aus der Sicht des Menschen beschrieben werden muss, zeigt das Werk Alpina, das von dem ostschweizerischen Pfarrer Johann Rudolf Steinmüller (1773–1835) in Zusammenarbeit mit dem Reiseschriftsteller, Verleger und Politiker Carl Ulysses von Salis-Marschlins (1760–1818) geschrieben wurde. Darin beschrieb Steinmüller, wie die Praktik der Alpung dem natürlichen Wesen des domestizierten Tieres entsprach: »Am Anfang des Sommers äussert das Alpenvieh ein eigentliches Heimweh nach den Alpweiden, und es sucht wirklich – aus einem innern Naturtrieb –, das Hochgebirg, daher die Viehzucht in den Gebirgen auch überall am besten betrieben wird.«5 In dieser Erzählung übernimmt nicht der Viehhirte die aktive Rolle in der Alpung; vielmehr gehen die Rinder aufgrund eines inneren Triebes voran, während der Mensch ihnen folgt.

Die nachstehenden Ausführungen folgen ebenfalls den Rindern: Vom Tal über verschiedene Pfade auf die Alpenweiden und wieder zurück. Gerahmt wird die vertikale Migration von den Kuhreihen, die man als Zeugnisse der kulturellen Produktivität in den Alpen lesen kann. Sie lassen die allsommerlichen Wanderungen und ihre animalischen Akteure als etwas Reines, Ausgelassenes und durchweg Positives erscheinen. Demgegenüber stand eine Entwicklung, die besonders im 19. Jahrhundert virulent wurde. Die Alpung stellte verschiedene staatliche Institutionen vor neue Herausforderungen. Das idealisierte Bild der Alpung, das die Kuhreihen heraufbeschwörten, war somit immer auch Teil einer von der Industrialisierung ergriffenen Alltagswelt mit all ihren Herausforderungen, Konflikten und Problemen.

Das aktive Rind in seiner Umwelt

»Tryb i ha, tryb i ha allsamme die Hinket, die Stinket, die Pläzet,
die Gschäcket, die Blasset, die Gflecket, die Schwanzeri, d’Fanzeri,
d’Glinzere, d’Blinzere, d’Lehnere, d’Fehnere, d’Haslere, d’Schmalzere, d’Mosere, s’Halböhrli, S’Mörli, s’Aengli, S-Träuf-Aeugli, die erst Gäl und die Alltschrombä und die ä de Grossbuch und die Ruch, d’Langbähnere, d’Hanglehnere, wohl zueha, da zueha, bas zueha, try iha Lo.«6

Der Kuhreihen der Appenzeller beschreibt die Vielseitigkeit der Rinder. Einige hinken (»die Hinket«) und andere stinken (»die Stinket«). Die Tiere werden im Kuhreihen mit ihren Namen oder Übernahmen angesprochen wie etwa »s’ Halböhrli« (das Halbohr) oder »s’Mörli« (die Dunkle). Dies verweist auf eine vom Kuhreihen heraufbeschworene Verbindung des Kühers mit seinen Rindern. Sie sollen ihm nicht nur als potentiell gewinnbringende Ressourcen dienen, sondern ihm als Gefährten mit individuellen Eigenschaften und Rufnamen zur Seite stehen.

Aus der vom Kuhreihen besungenen Diversität der Rinderwelt lässt sich ableiten, dass das Rind in der zeitgenössischen Wahrnehmung nicht gleich Rind war. Doch um zu eruieren, welchen Einfluss das Rind auf die Landschaft und die Gesellschaft der alten Eidgenossenschaft um 1800 hatte, muss als erstes geklärt werden, was ein Rind überhaupt war. So simpel die Frage klingen mag, so schwierig ist sie zu beantworten.

Abb. 2: Appenzeller Rugguser (Naturjodel), 1826.

Das Rind oder Hausrind (lat. Bos Taurus) wird grundsätzlich in vier Kategorien eingeteilt: Das juvenile Kalb, die weibliche Kuh, der männliche Stier und der männliche, kastrierte Ochse. Daneben existieren noch diverse weitere Kategorien, etwa in Bezug auf Leistung, Rasse oder Herkunft. Steinmüller zählte in seiner Alpina 35 Bezeichnungen für die verschiedenen Formen des Hausrindes auf.7

Auch darf das Rind des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht mit den heutigen Hochleistungsrindern gleichgesetzt werden. Der Arzt Johann Gottfried Ebel (1764–1830) rechnete in seinem Werk vor, wie viel Milch die Kühe zu seiner Zeit in dem von ihm bereisten Appenzellerland produzierten: »Viele Kühe geben täglich zwischen sieben bis neun Maass Milch, wenn sie auf den Wiesen und Alpen weiden. Im Durchschnitt rechnet man aber sechs Maass auf die Kuh.«8 Umgerechnet wären das durchschnittlich acht Liter im Tag, was ungefähr viermal weniger ist als moderne Hochleistungskühe im Stande sind zu liefern. Im Winter verringerte sich die gelieferte Milch laut Ebel auf etwa einen Drittel.9 Auch in der Grösse und Masse unterschieden sich die Rinder um 1800 deutlich von ihren Nachfahren. Laut Steinmüller war die durchschnittliche Kuh in der Eidgenossenschaft zwischen vier und sechs Zentner schwer. Umgerechnet wären das heute zweihundert bis dreihundert Kilogramm.10 Heutige Kühe können gut und gerne doppelt so schwer sein.

Waren demnach die Rinder um 1800 genau die natürlichen Geschöpfe, die in den Kuhreihen besungen wurden? Nicht ganz: Ein Hausrind hatte im Jahr 1800 eine von seinen Vorfahren – in Europa wäre dies der damals schon ausgestorbene Auerochse – ausgehende und vom Menschen eingeleitete Veränderung über tausende von Jahren durchgemacht. Auch das Rind von 1800 war ein domestiziertes und gezüchtetes Tier. Es wurde behandelt und gehandelt wie ein gewöhnliches Gut. So bestand das Rind für den bereits zitierten Arzt Ebel aus Zahlen: Wie gross und schwer es war, wie viel Milch es produzierte, wie viele Rinder gehalten wurden und wie viel Gewinn sie abwerfen konnten. Im Zuge der Industrialisierung wurde das Rind scheinbar meist aus zwei verschiedenen Perspektiven beschrieben. Erstens als quantifizierbare Ware, indem das Tier auf die Summe seiner Masse und Leistung beschränkt wurde. Und zweitens wurde es als romantisiertes und urtümliches Individuum beschrieben. Beide Perspektiven teilen eine positive Grundhaltung dem Rind gegenüber und machen es zu einem Objekt der Verheissung, einem Wesen, das dem Menschen alles geben kann: wirtschaftliche Prosperität, kulturelle Bereicherung und das Gefühl von Freiheit und Natürlichkeit. Das Rind des 18. und 19. Jahrhunderts bewegt sich zwischen den Polen eines mit der Natur verbundenen Wesens, einem Individuum mit Gefühlen, einer kulturellen Identität mit personalisierten Eigenschaften und einer ökonomischen Grösse.

Die verschiedenen Zuschreibungen an das Rind spiegeln sich in der Art und Weise wider, mit der Rinder im 19. Jahrhundert porträtiert wurden. Ein Beispiel dafür ist die 1861 vom französischen Professor für Agrarwissenschaften Emile Baudement (1816–1863) erstellte Sammlung von Portraits verschiedener Rinderrassen.11 Abbildung 4 zeigt eine Kuh aus dem Kanton Schwyz in ihrer vollen Pracht. In der Seitenansicht sind die wichtigsten Merkmale der Kuh als Wirtschaftsgut zu sehen – die Euter, das Becken, die Statur. Im Hintergrund zeichnen sich blasse Bergketten ab: Drei weitere Rinder und ein Stall sind zu erkennen. Die Kuh im Zentrum scheint sich wie zufällig in Pose geworfen zu haben. Sie wirkt auf die Betrachter*innen des Bildes nicht wie ein seelenloser Gegenstand, sondern wie ein Lebewesen in seiner natürlichen Umgebung. Und dennoch erscheint die Schwyzer Kuh als ein vom Menschen gezüchtetes Nutztier mit rassenspezifischen Eigenschaften.

Auch als ökonomische Grösse ist das Rind nicht einfach zu fassen. Die Agrarhistoriker Juri Auderset und Peter Moser sprechen vom Rind als polyvalentem Tier; das heisst, es kann je nach Bedürfnis in verschiedene Produktionszusammenhänge eingespannt werden.12 Neben den drei klassischen Produkten – Fleisch, Milch und Arbeit – liefern Rinder zahlreiche weitere Materialien (Hörner, Haut, Blut, usw.). Ein Hausrind lässt sich allerdings nicht auf seine Produkte reduzieren. Vielmehr prägen Tiere, besonders Nutztiere, ihre Umwelt direkt über ihren eigenen Konsum – Gras, Kraftfutter, Wasser –, aber auch indirekt über ihr Verhalten und ihre Migrationen. Nutztiere werden nicht nur genutzt, sie nutzen und verändern auch ihre Umwelt. Sie greifen damit unmittelbar in die Gestaltung der Landschaft ein und prägen den Raum, in dem sie sich aufhalten. Das Rind hinterlässt also in seiner Umwelt Spuren. Der Historiker Chris Pearson argumentiert deshalb, dass Tiere als Aktanten der Geschichte wahrgenommen werden müssen.

»Depending on their species, relationships to other agents (human and nonhuman), and the circumstances in which they live, animals display agency by making a difference through allowing or blocking historical processes or by acting with a degree of intentionality.«13

Tiere sind demnach nicht passive Objekte, sondern aktive, mit Handlungsmacht ausgestattete Dinge im Sinne des Soziologen Bruno Latour.14 Die Diskrepanz zwischen den beiden Perspektiven auf Nutztiere – fühlende Akteure auf der einen Seite und ökonomisches Gut auf der anderen Seite – versuchte die Historikerin Rhoda Wilkie zu überwinden, indem sie den Begriff der »sentient commodity«, fühlende (Handels-)Waren, einführte. Dieser Begriff kann auch auf das Rind in der Zeit der Industrialisierung angewendet werden.15 Dem Rind wurde trotz seines Warencharakters die Fähigkeit zugesprochen, Gefühle zu besitzen, wie es etwa die Bemerkung von Johann Rudolf Steinmüller verdeutlicht, der die im 18. und 19. Jahrhundert besonders populäre Thematik der schweizerischen Heimwehkrankheit auf die Tierwelt übertrug.16

Die Handlungsmacht des Rindes ist stark an seinen Status als Nutztier und somit an die Rinderhaltung gekoppelt. Die Rindviehhaltung und besonders der Verkauf ihrer Produkte waren seit der Frühen Neuzeit ein bedeutender Teil der Wirtschaftsleistung der Eidgenossenschaft. Der Einfluss des Rindes dehnte sich im 19. Jahrhundert sogar weiter aus: Erstens nahm die Zahl der gehaltenen Rinder in bedeutendem Masse zu. Die Zweiteilung der Viehhaltung – der Sommer in den Bergen und das restliche Jahr im Tal – verblieb auch mit der gesteigerten Zahl an Rindern die bevorzugte Wirtschaftsform. Die vom Rind beeinflusste Fläche wurde nicht verkleinert, sondern sogar eher vergrössert.17 Neben den alpinen Weideflächen und den Winterweideflächen im Tal muss auch der Weg dazwischen, den die Rinder und ihre Hirten beschritten, als Teil des vom Rind geprägten Raumes verstanden werden. Die Rinder können als Zugtiere für die Eroberung der Alpen verstanden werden; in ihren Klauenspuren folgten die Menschen. Im Zuge dieser Entwicklung griff die anthropogene – also die vom Menschen mitgeschaffene – Umwelt auf die zuvor noch wenig erschlossenen Alpen aus.18 Dabei nahm das Rind eine wichtige Rolle ein. Die in die Alpen geführten Tiere veränderten die Umwelt nachhaltig. Sie schufen eine neue Landschaft und nahmen Einfluss auf die Menschen – sowohl auf die, mit denen sie zusammenlebten, als auch auf diejenigen, die mit ihren Produkten in Berührung kamen. Die anthropogene Umwelt der Alpen des 19. Jahrhunderts kann nicht ohne die Nutztiere verstanden werden.

Abb. 3: Alexandre Calame: Le Mont Rose, 1843. Rechts ist eine Gruppe Rinder mit ihrem Hirten zu sehen. Während der Hirte sich dem seeligen Nichtstun widmet, sind die Rinder sich selbst überlassen.

Das idealisierte Bild der Alpung, das die Kuhreihen heraufbeschwörten, war somit immer auch Teil einer von der Industrialisierung ergriffenen Alltagswelt mit all ihren Herausforderungen, Konflikten und Problemen.

Unterwegs: Das Rind als Wegbereiter und Landschaftsgestalter

»Lustig usem Stall mit dene Chüene!
Üsi schö Zyt isch cho u Freiheit wartet scho
D’innen uf den Flüehne […]
Get die grosse Treichle u die chleine Schelle!
Schöner tönt im Ustieg nüt, äs es lustigts Chüehjerglüt
Ume Chüchje Gelle.« 19

Bevor die Küher lustig mit den Kühen aus dem Stall (»lustig usem Stall mit dene Chüene«) ziehen konnten, um die schöne Zeit (»schö Zyt«) des Alpaufzugs zu feiern und den Kühen ihre Glocken (»Treichle« und »Schelle«) umbinden konnten, musste im Tal eine Menge Vorarbeit geleistet werden. Einem 1816 gedruckten und vom Grossen Rat des Kantons Bern erlassenen Reglement über die Bergfahrt und die Rindvieh-Polizey ist beispielsweise zu entnehmen, wie stark das Kantonsparlament gewillt war, die Alpung zu normieren. Auf beinahe vierzig Seiten und in etlichen Paragrafen wurde die Bergfahrt in allen Einzelheiten geregelt. Vor dem Alpaufzug mussten beispielsweise alle Rinder mit einem bestimmten Ortszeichen versehenen werden. Dies erlaubte es, die Tiere dem richtigen Besitzer zuzuordnen und im Seuchenfall nachvollziehen zu können, woher das betroffene Tier stammte. Um zu gewährleisten, dass die auf den Berg ziehenden Rinder vorschriftsgemäss registriert wurden, bestellte der Kanton Bern eigens sogenannte Viehinspektoren. Diese erteilten jedem einzelnen Rind »Bergfahrtsscheine«, die auswiesen, dass das Rind nicht krank war und die Alpung unternehmen durfte.20

Wenn die Rinder sich im Frühling aufmachten, um ihre alpinen Weiden zu erreichen, wurden sie meist nicht nur von ihren Hirten begleitet, sondern oftmals auch von deren Familien. Der Schweizer Historiker Rudolf Braun berichtet von ganzen Dörfern »mit Schule und Pfarrer«, die sich zu den Rindern in der Höhe gesellten.21 Daneben etablierte sich ein ganz neuer Berufsstand, der des Kühers.22 Die Darstellungen des Toggenburger Landschaftsmalers Johann Baptist Isenring verleihen dem Küherwesen eine gänzlich idealisierte Ansicht, die derjenigen der Kuhreihen gleicht. In seinem im Jahre 1800 erschienen Büchlein Ansichten aus dem Appenzellergebirge publizierte er unter anderem das Bild Die Sennhüte auf der Ebenalp.23 Im Bild ist eine Ansammlung von Menschen, darunter Frauen, Männer und Kinder, vor einer Alphütte zu sehen. Neben der Hütte grasen einige Rinder, andere rasten. Die Szene wirkt friedlich, das darauf abgebildete Leben einfach und die Menschen genügsam. Vielen wird beim Betrachten dieses Alpenidylls das Gegenbild der rastlosen Stadt vor den Augen gekommen sein. Allerdings bestimmte dieses romantische Bild der Alpung den Blick der Zeitgenossen nicht gänzlich. Die Veränderungen, die das Rind in den Alpen in der Landschaft verursachten, blieben nicht unbeachtet.

Der deutsche Forstwirtschaftsprofessor Ludwig Wallrath Medicus (1771–1850), der 1794 eine Studienreise durch die Schweiz machte und ein Jahr später das Werk Bemerkungen über die Alpen-Wirthschaft publizierte, notierte, wie sich die Landschaft aufgrund der Rinder und der Alpung verändert hatte. Von Berufswegen her lag sein besonderes Augenmerk auf dem Wald, dessen Rückgang er besorgt beobachtete: »Sehr viele Alpen scheinen auch wirklich ehemals Wald gewesen zu sein, der aber durch unaufhörliches Weiden nach und nach verdorben wurde, so dass jetzt nur noch Parthien von Bäumen, hie und da auch kleine Wäldgen auf denselben stehen.«24 Da die Rinder in den Alpen meist nur von Gras lebten – was auch ökonomisch betrachtet einer der grössten Vorteile der Alpung war – frassen die Kuhherden im Sommer ganze Landstriche leer. Die Winterzeit, in der die Rinder nicht auf den alpinen Wiesen verweilten, reichte meist nicht, um dem Boden genügend Zeit zur Erholung zu geben.

Auf den Alpwiesen hielten sich oft auf relativ geringem Raum eine grosse Anzahl Rinder auf. Medicus berichtete von Alpen mit bis zu achthundert Tieren. Dazu gesellten sich nicht wenige Menschen – Medicus schätzte, dass auf fünfzig bis sechzig Tiere jeweils vier Hirten anfielen – und meist einige kleinere Nutztiere wie Ziegen, Schafe oder Schweine.25 Da die Bewirtschaftung der Alpwiesen extensiv betrieben wurde, nahmen die Tiere eine weit grössere Fläche in Anspruch, als dies in der intensiv geprägten Landwirtschaft im Tal der Fall war. Die Rinder hatten demnach einen weniger intensiven Einfluss auf die Landschaft auf der Alp als im Tal in Bezug zur Fläche, benötigten dafür aber weitaus mehr Platz.

Abb. 4: Vache de Schwitz, 1861.

Die alljährlich zurückkehrenden Rinder veränderten die Landschaft allerdings auch, nachdem die Wälder bereits zurückgegangen waren. Mit ihrem Kot veränderten sie die Bodenstruktur der Alpen nachhaltig. Die nährstoffreichen Exkremente der Tiere wurden um 1800 vermehrt verwendet, um das Gras der Alpen zu düngen und den Ertrag zu steigern. Die flächendeckende Düngung der Alpwiesen, die an einigen Orten bereits erfolgreich angewandt wurde, könne noch stark intensiviert werden, empfahl der Forstwissenschaftler Karl Kasthofer (1777–1853) 1818 an einem Vortrag in der Schweizerischen Gesellschaft für die Naturkunde.26 Mit der Einteilung der Alp in Staffel weitete sich der von den Rindern geprägten Raum nochmals aus. Die Staffel, auch Läger genannt, wurden für eine bestimmte Zeit von den Viehherden begangen, während der Rest der Alpenweide ungenutzt blieb. Medicus beschrieb, wie dies in Grindelwald gehandhabt wurde: »Zuerst wird das unterste Läger abgeäset [abgefressen], dann fährt man durch das zweite durch gerade auf das dritte, oder höchste, wo die Kühe aber nur 5-6 Tage weiden, und dann in das zweite Läger getrieben werden.«27 Der Boden wurde allerdings durch das Rotieren der Nutztiere belastet. Zusätzlich war diese Praxis auf strukturierende Elemente in der Landschaft angewiesen, namentlich Zäune, die die verschiedenen Staffel trennten. Dafür wurde wiederum Holz gebraucht, das wohl aus den umliegenden Wäldern stammte. Neben dem Holz, das auch für diverse Bauten erforderlich war, galt Wasser als wichtiger Rohstoff in den Alpgebieten. Die meisten Alpweiden verfügten wohl über eigene Quellen, was bei der grossen Menge an Wasser, die ein Rind verbraucht, auch absolut notwendig war. Die Fusstritte der Kühe, so Medicus, erzeugten jeodch im feuchten Boden Löcher, die über lange Zeit bestehen blieben. Da sich wiederum Regenwasser in diesen Löchern ansammeln konnte, drohte ein häufig von Rindern begangener Pfad zu versumpfen.28 So veränderte das Rind sowohl durch sein Verhalten als auch durch die Art und Weise, wie es gehalten wurde, seine Umgebung.

In den Höhen: Das Rind als Seuchenträger

»Uf de Bergen isch guet lebe odl di o u odl di au
D’Chüejer juchze nit vergebe odl di ou odl di u
Hie won üs d’Flüelerche singe, hie wo d’Gemschi springe,
wie de Vöglen i de Lüfte isch, hie oben üs so wohl hodl dahu olli.«29

An welch abgelegen Orten - wo die Feldlerche singt (»Hie won üs d’Flüelerche singe«), die Gämse springt (»hie wo d’Gemschi springe«) und wo die Vögel in den Lüften sind (»wie de Vöglen i de Lüfte isch«) – die Rinderherden im Sommer anzutreffen waren, illustriert ein weiteres Zitat aus Steinmüllers und Salis-Marschlins Alpina: »Es kommt manchem Ausländer beinahe unglaublich vor, wenn man ihm steile Alpenwege über scheusslichen Abgründen zeiget, die er nicht betreten darf, und ihm dann erzählt, dass das Rindvieh auf denselben die höchsten Alpenstheile – aus eigenem innerm Antriebe – ungezwungen – hinaufwandere; und es schwindelt ihm, wenn er sieht, dass auf denjenigen Gebirgs-Abhängen Kühe weiden, die auf seine Weise erklettern dürfte und könnte.«30

Diese Abgeschiedenheit führte zu infrastrukturellen Herausforderungen, denn die Viehherden in den Alpen durften nicht komplett vom Tal abgeschnitten sein. Verschiedene Personengruppen mussten Zugang zu den Tieren haben, auch wenn der kontrollierende Zugriff der behördlichen Institutionen auf den Alpenweiden nur erschwert durchgeführt werden konnte. Tierärzte und von den Kantonen gesandte Viehinspektoren – auf den Alpen Berginspektoren genannt - blieben mit den Kühern und ihren Tieren in Kontakt.

Tierärzte, oft Viehärzte genannt, frequentierten die Sennhütten häufig. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) schilderte bereits 1716, dass Tierärzte auf den Alpweiden teils komplizierte Operationen durchführten.31 Gerufen wurden sie meist aufgrund der stetigen Angst vor der Ausbreitung von Seuchen.32 Im 18. Jahrhundert erschütterten mehrere Wellen der Rinderpest Europa. Der Ökologe und Historiker Clive Spinage schätzte, dass zwischen 1711 und 1769 alleine in Europa zwischen hundert und zweihundert Millionen Rinder an der Folge der Rinderpest starben.33 Auch der berühmte Schweizer Arzt und Naturforscher Albrecht von Haller befasste sich mit den Auswirkungen der Viehseuchen. In einer Abhandlung, die er für die Oekonomische Gesellschaft Bern verfasste, beschrieb er die Gefahr, die ein erneutes Ausbrechen der Krankheit für die Eidgenossenschaft hätte:

»In einem jeden Lande ist eine Seuche unter dem Rindviehe ein schrekhaftes Uebel, aber unserm Vaterlande würde sie, wenn sie überhandnehmen könnte, zum äussersten Verderben gereichen. Ein Drittel des Landes besteht in Bergen und Alpen, die gar keinen Nutzen mehr hätten, wenn kein Rindvieh sie abweidete. Eine gute Hälfte des übrigen Landes besteht in Wiesen, die den Reichtum desselben ausmachen, aber die wiederum zur vornemsten Absicht haben, dem im Sommer auf den Bergen und den Alpen weidenden Viehe die Winternahrung zu verschaffen.«34

Abb. 5: »Verzeichnis der von dem Vieh-Inspektoren zu ertheilten Bergfahrt-Scheine«, 1816.

Aus diesen Worten Hallers lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens zeigen sie, in welchem Abhängigkeitsverhältnis die Wirtschaft der Schweiz zu den Rindern stand. Zweitens erahnt man, wie gross die Angst vor dem Ausbrechen von Seuchen war: »Das schrekhafte Übel« ist Ausdruck davon, wie das romantisierte Bild vom Rind als Versprechen und Objekt der Verheissung mit dem Bild vom Rind als Seuchenträger in Konflikt geriet. Drittens tritt das Rind in Hallers Vorstellung als ökonomische Ware auf: Das Schlimme an einer potenziellen Rinderpestepidemie ist nicht der Tod und das Leid der Tiere, sondern der wirtschaftliche Verlust für die Menschen.

Aber auch als ökonomische Ware zeigte das Rind im Moment der Ausbreitung der Rinderpest eine gewisse Art von Widerständigkeit, da es nun kaum mehr zu bändigen war. Aufgrund vieler negativer Erfahrungen mit Seuchen im 18. Jahrhundert ist es nicht verwunderlich, dass im bereits zitierten Reglement aus dem Kanton Bern dem Umgang mit Viehseuchen im Alpgebiet ein langes Kapitel gewidmet ist. Jedem, der mit Rindern in Berührung kam, wurde auferlegt, »genau auf sein Vieh zu wachen, und bey jeder nicht ganz gewöhnlichen Krankheit desselben einen erfahrnen Thierarzt zu dessen Examinierung und Versorgung herbey zu rufen«.35 Die Verantwortung in der Seuchenbekämpfung wurde zunächst dem Besitzer der Rinder übertragen; dieser musste dann – bei Unterlassung drohten drakonische Strafen – die Behörden informieren. Sobald ein Seuchenverdacht bestätigt wurde, musste das Tier dem Besitzer weggenommen und dem Tierarzt überstellt werden. Das betroffene Tier wurde sofort von seinen Artgenossen getrennt: Es wurde mit dem »Bann« belegt, wie es im Reglement heisst. Des Weiteren konnten auch gesamte Viehherden oder ganze Bezirke unter Quarantäne gestellt werden. Selbst der Umgang mit den an Seuchen gestorbenen oder vom Tierarzt aus Vorsorge getöteten Tieren wurde klar geregelt.36 Der lange Arm des Gesetzes reichte zumindest im Kanton Bern mit der Durchsetzung der Reglemente auch in weit abgelegene Orte. Der Einfluss endete erst an der Kantonsgrenze, wo sich die Probleme häuften: Viren und Bakterien machen nicht vor Kantonsgrenzen halt. So konnte eine noch so gut beobachtete und genormte Berner Viehherde von einem einzigen nicht kontrollierten Solothurner Rind angesteckt werden – und die ganzen Vorsichtsmassnahmen waren umsonst. Genau diese Befürchtung bewog wohl den Grossen Rat des Kantons Bern seine Berginspektoren und andere Beamte auch über die Kantonsgrenze schielen zu lassen.

»Die Herren Ober-Amtmänner auf den Gränzen werden über den Gesundheitszustand des Viehes der benachbarten Gegenden ein wachsames Auge halten. Besonders aber sollen diejenige, deren Amtsangehörige Vieh auf die Berge der benachbarten fremden Botmässigkeiten zur Sömmerung treiben, im Frühjahr vor der Auffahrt und im Herbste vor der Abfahrt sich darüber genau erkundigen.«37

In der Höhe taucht das Rind also in einem neuen Gewand, oder besser Fell, auf: als potenzieller Träger von Krankheiten, die sich in der Zeit der Alpung als besonders fatal herausstellen konnten. Um diese Gefahr zu bannen, waren verschiedene Behörden angehalten, ihren Einfluss auf abgelegene Gebiete auszuweiten. Das idyllische Bild der Alpenwelt geriet durch das infizierte Rind besonders stark ins Wanken. Rinder waren nun potenzielle Gefahrenherde. Dies scheint mit der klassischen Vorstellung des Rindes als Quelle und Verheissung von Wohlstand, Freiheit und Natürlichkeit wenig gemein zu haben. Stellt man sich vor, dass die Gruppe junger Leute, die auf dem Titelblatt der Kuhreihensammlung von Johann Rudolf Wyss abgebildet sind, ihre Kühe als Träger tödlicher Krankheiten angesehen hätten, wären sie wohl kaum in solch ausgelassener Stimmung, wie sie vom unbekannten Künstler dargestellt wurden. Ihnen wäre wohl dort oben nicht mehr so wohl gewesen, wie das im Kuhreihen besungen wird (» hie obe üs so wohl«).

Die Verordnungen und Vorträge über die Viehseuchen zeugen von dem Versuch, das Rind so weit wie möglich zu kontrollieren. Denn die Kontrollierbarkeit des Rindes war um 1800 stark herausgefordert. Das Rind stellte sich in seiner Art und Weise quer: Es nahm Einfluss auf die Landschaftsgestaltung und steckte sich und andere Tiere mit Krankheiten an, die häufig tödlich endeten. Die Rinder wurden somit zu widerständigen Wesen und teils gar zur Gefahr für Landschaft und Gesellschaft. Die Wahrnehmung der Tiere als Gefahr steht dennoch nicht im Widerspruch zum idealisierten Bild der Kuh. Die beiden Bilder, positiv wie negativ, sind verschiedene Seiten derselben Münze, oder in diesem Fall: desselben Tieres. Sie bedingten sich sogar gegenseitig. So ist es kein Zufall, dass sich das idealisierte Bild des Rindes genau in der Zeit manifestierte, in dem das Rind vermehrt als widerständig wahrgenommen wurde. Das idealisierte Bild war eine Reminiszenz an eine verloren geglaubte Zeit, eine Zeit, in der Rinder – so die nachträgliche Stilisierung – nicht widerspenstig waren. Vor der Industrialisierung sei die Viehwirtschaft noch ursprünglich gewesen.

Abb. 6: Sennhütte auf der Ebenalp, 19. Jahrhundert.

Schlussfolgerungen im Tal

»Ach! Wie churzen üsi Tage!
Ach! Wie flieht die schöni Zyt!
Alle Flüehne, öcht i chlage,
was, er schur am, Herze lyt
ig u d’Chnabe müessen abe,
bal vo liebe Berg is Thal!
Ume isch isch so schön wie obe,
schöner chuum i d’s Chünigs Saal!«38

Die Geschichte der Alpung und der migrierenden Rinder um 1800 in der Schweiz ist eine Geschichte der Ausweitung. Erstens wurde der vom Rind und Menschen genutzte Raum vergrössert, indem neue Alpweiden Schritt für Schritt genutzt und Flächen der alten Weiden erweitert wurden. Dies hatte Auswirkungen auf das angrenzende Land, das von Mensch und Rind durchschritten wurde und dessen Rohstoffe wie Wasser oder Holz verwendet wurden. Zweitens weitete sich über das Rind der räumliche Machteinfluss der Kantone aus: Die Behörden erweiterten ihren Einfluss auf Mensch, Tier und Raum, indem sie Viehinspektoren in die Alpgebiete entsandten und die Viehherden bis in grosse Höhen streng kontrollierten. Schliesslich, und drittens, dehnte sich der Einfluss des Rindes auf das Leben des Menschen aus. Die Konzentration auf die Rindviehwirtschaft stellte die alte Eidgenossenschaft in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Nutztieren und lieferte sie den Einflüssen des Rindes aus. Veränderte Landschaften, neue Verordnungen, vermehrtes Auftreten von Seuchen und vieles mehr sind die Folgen der Rinderzucht. Um 1800 wurden alle diese Auswirkungen wiederholt problematisiert, ohne jedoch die Ausrichtung der Wirtschaft auf die Rinderzucht und -haltung als Ganzes in Frage zu stellen. Denn bei aller Gefahr und Zerstörung, die die alpine Viehwirtschaft mit sich brachte: Ohne das Rind war eine alpine Idylle weiterhin kaum vorstellbar.

Juri Vonwyl schloss 2016 den Bachelor in Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Luzern ab. Seit 2017 studiert er im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.

Die in die Alpen geführten Tiere veränderten die Umwelt nachhaltig. Sie schufen eine neue Landschaft und nahmen Einfluss auf die Menschen.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Johann Jakob Hauswirth, Alpaufzug, 1876, Wikimedia Commons, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Johann_Jakob_Hauswirth_Alpaufzug.png.

Abb. 2: Appenzeller Ruguser, aus: Johann Rudolf Wyss: Schweizer Kühreihen und Volkslieder, Bern: Burgdorfer (1826), Titelbild.

Abb. 3 : Alexandre Calame, Le Monte Rose, 1843, Kunst Museum Winterthur.

Abb. 4: Vache de Schwitz, aus: Emile Baudement: Les races bovines au concours universel agricole de Paris en 1856: Etudes zootechniques, Bd. 2, Paris: Imprimerie Impériale, ohne Seitenzahlen.

Abb. 5: Verzeichnis der von dem Vieh-Inspektoren zu ertheilten Bergfahrt-Scheine, aus: Erneuertes Reglement über die Bergfahrt und die Rindvieh-Polizey (o.V)., Bern: Haller (1816), ohne Seitenzahlen.

Abb. 6: Die Sennhütte auf der Ebenalp, aus: Johann Baptist Isenring: Ansichten aus dem Appenzellergebirge, St. Gallen: Selbstverlag (o.A., 19. Jahrhundert), ohne Seitenzahlen.

Literatur
  1. 1

    Johann Rudolf Wyss: Schweizer Kühreihen und Volkslieder, Bern: Burgdorfer (1826), S. 1f.

  2. 2

    Max Baumann: Musikfolklore und Musikfolklorismus: Eine Ethnomusikologische Untersuchung zum Funktionswandel des Jodels, Winterthur: Amadeus (1976), S. 146.

  3. 3

    Hier wird absichtlich nur die männliche Form der Berufsbezeichnung verwendet. Die Berufsbezeichnung war Männern vorbehalten, auch wenn Frauen ihre Ehemänner oder Väter häufig begleiteten und ebenso Teil des Alpzuges waren.

  4. 4

    Vgl. Jon Mathieu: Geschichte der Alpen 1500–1900: Umwelt, Entwicklung, Gesellschaft, Wien: Böhlau (1998), S. 45–50, sowie Werner Bätzing: Die Alpen: Naturbearbeitung und Umweltzerstörung, Frankfurt am Main: Sendler (1984), S. 43–50.

  5. 5

    Carl Ulysses von Salis-Marschlins, Johann Rudolf Steinmüller: Alpina: Eine Schrift der genauern Kenntniss der Alpen gewiedmet, Winterthur: Steinerische Buchhandlung (1806), S. 137.

  6. 6

    Johann Rudolf Wyss: Schweizer Kühreihen und Volkslieder, Bern: Burgdorfer (1826), S. 16f.

  7. 7

    Carl Ulysses von Salis-Marschlins, Johann Rudolf Steinmüller: Alpina: Eine Schrift der genauern Kenntniss der Alpen gewiedmet, Winterthur: Steinerische Buchhandlung (1806), S. 112–115.

  8. 8

    Johann Gottfried Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz, Erster Theil, Leipzig: Wolfische Buchhandlung (1798), S. 119.

  9. 9

    Der Milchstatistik der Schweiz 2017 ist zu entnehmen, dass eine Kuh der Rasse Holstein – die klassische Milchkuhrasse – durchschnittlich ungefähr 23 Liter Milch gibt. Des Weiteren ist die Laktationszeit (die Zeit, in der die Kühe überhaupt Milch produzieren) heute weitaus länger als vor zweihundert Jahren. Ebel spricht von einer jährlichen Laktationszeit von einigen Wochen, während heute 305 Tage als durchschnittlich gelten. Vgl. Schweizer Bauernverband u.a.: Milchstatistik der Schweiz, im Eigenverlag (2018), S. 26.

  10. 10

    Carl Ulysses von Salis-Marschlins, Johann Rudolf Steinmüller: Alpina: Eine Schrift der genauern Kenntniss der Alpen gewiedmet, Winterthur: Steinerische Buchhandlung (1806), S. 116–120.

  11. 11

    Emile Baudement: Les races bovines au concours universel agricole de Paris en 1856: Etudes zootechniques, Bd. 2, Paris: Imprimerie Impériale, ohne Seitenzahlangabe.

  12. 12

    Chris Pearson: »History and Animal Agencies«, in: Linda Kalof (Hg.): The Oxford handbook of Animal Studies, New York: Oxford University Press (2017), S. 252.

  13. 13

    Vgl. Juri Auderset, Peter Moser: Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft: Wissenskulturen, Machtverhältnisse und natürliche Ressourcen in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft (1850–1950), Wien: Böhlau (2018), S. 240–257, hier S. 252.

  14. 14

    Vgl. Bruno Latour: »On Technical Mediation: Philosophie, Sociology, Genealogy«, in: Common Knowledge 3/2 (1994), S. 29–64.

  15. 15

    Vgl. Rhoda Wilkie: »Animals as Sentient Commodities«, in: Linda Kalof (Hg.): The Oxford handbook of Animal Studies, New York: Oxford University Press (2017), S. 279–301.

  16. 16

    Der Historiker Paul Helmer beschrieb 1983 in einem Artikel, wie das Gefühl des Heimwehs mit den Kuhreihen zusammenhing. Betroffen waren in erster Linie nicht die Rinder selbst, sondern schweizerische Söldner in fremden Diensten. Diese sollten, sobald sie in der Fremde einen Kuhreihen hörten, so stark an Heimweh erkrankt sein, dass sie Gefahr liefen, daran zu sterben. Vielleicht hatte Steinmüller diese Überlegungen im Hinterkopf, als er von dem Heimweh der Rinder nach ihren Alpenwiesen schrieb. Vgl. Paul Helmer: »De nostalgia – vom Mythos des Kuhreihens« in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde = Archives suisses des tradition populaires 79/4 (1983), S. 134–150.

  17. 17

    Vgl. Werner Bätzing: Die Alpen: Naturbearbeitung und Umweltzerstörung, Frankfurt am Main: Sendler (1984), S. 45.

  18. 18

    Vgl. Reinhold Reith: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, München: Oldenbourg (2011), S. 25.

  19. 19

    Johann Rudolf Wyss: Schweizer Kühreihen und Volkslieder, Bern: Burgdorfer (1826), S. 21.

  20. 20

    Vgl. Erneuertes Reglement über die Bergfahrt und die Rindvieh-Polizey (o.V), Bern: Haller (1816), S. 1–15.

  21. 21

    Vgl. Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz: Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht (1984), S. 58–109.

  22. 22

    Vgl. ebd., S. 80.

  23. 23

    Johann Baptist Isenring: Ansichten aus dem Appenzellergebirge, St. Gallen: Selbstverlag (18--), ohne Seitenzahlen.

  24. 24

    Luwig Wallrath Medicus: Die Bemerkungen über die Alpen-Wirthschaft auf einer Reise durch die Schweiz, Leipzig: Gräff (1795), S. 18.

  25. 25

    Vgl. ebd., S. 62.

  26. 26

    Karl Kasthofer: Vorlesung über die Kultur der Küh-Alpen, Gehalten in der Versammlung der Schweizerischen Gesellschaft für die Naturkunde, in Lausanne, den 28. Heumonat 1818, Bern: F. F. Burgdorfer (1818), S. 13–16.

  27. 27

    Luwig Wallrath Medicus: Die Bemerkungen über die Alpen-Wirthschaft auf einer Reise durch die Schweiz, Leipzig: Gräff (1795), S. 49f.

  28. 28

    Vgl. ebd., S. 144.

  29. 29

    Johann Rudolf Wyss: Schweizer Kühreihen und Volkslieder, Bern: Burgdorfer (1826), S. 26.

  30. 30

    Carl Ulysses von Salis-Marschlins, Johann Rudolf Steinmüller: Alpina: Eine Schrift der genauern Kenntniss der Alpen gewiedmet, Winterthur: Steinerische Buchhandlung (1806), S. 137f.

  31. 31

    Vgl. Johan Jakob Scheuchzer: Naturgeschichte des Schweitzerlandes, Zürich: David Gessner (1716), S. 16f.

  32. 32

    Vgl. Carsten Stühring: »Kranke Kühe: Seuchendeutungen und Mensch-Nutztier-Beziehungen in Vieseuchenschriften des späten 18. Jahrhunderts«, in: Sophie Ruppel, Aline Steinbrecher (Hg.): »Die Natur ist überall bey uns.« Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich: Chronos (2009), S. 143–156.

  33. 33

    Vgl. Clive A. Spinage: Cattle Plague: A History, New York: Kluwer Academic/Plenum Publisher (2003), S. 133. Der Schweizer Tierarzt A. Hürlimann publizierte im Schweizer Archiv für Tierheilkunde (SAT) einen Artikel, in dem er eine Auflistung von verschiedenen Seuchenvorfällen in der Schweiz vornahm. Zwischen 1750 und 1800 kam es laut Hürlimann zu einer Vielzahl von Seuchenausbrüchen. Unter anderem beschrieb er, wie die Lungenseuche und der Milzbrand die Viehbestände in der deutschsprachigen Schweiz reduzierten. Vgl. A. Hürlimann: »Geschichtliches über Menschen- und Tierseuchen: Historisch-hygienische Studie«, in: Schweizer Archiv für Tierheilkunde SAT 63/6 (1921), S. 212–213.

  34. 34

    Albrecht von Haller: »Abhandlung von der Viehseuche«, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 13/2 (1772), S. 1f.

  35. 35

    Erneuertes Reglement über die Bergfahrt und die Rindvieh-Polizey (o.V), Bern: Haller (1816), S. 17.

  36. 36

    Ebd., S. 23f.

  37. 37

    Ebd., S. 22.

  38. 38

    Johann Rudolf Wyss: Schweizer Kühreihen und Volkslieder, Bern: Burgdorfer (1826), S. 31.