Das Echo, sei es als sagenhafte Gestalt oder als wissenschaftliches Problem, ist untrennbar mit dem Alpenraum verbunden. Bis heute wird dort versucht, die »fliehend und flüchtige Nymfe« durch empirische Aneignungsmethoden zu fassen.
»In den Alpentälern der Schweiz ist das Jauchzen heimisch; denn wenn der einsame Senn auf seiner Alp zu jauchzen anhebt, ist er auf einmal nicht mehr allein. Soweit seine Jodler hingelangen mögen, kommt ihm von allen Flühen ein fröhliches Echo. Es ist gerade, als antworteten ihm allüberall aus Schlucht und Band die Stimmen der unsichtbaren Berggeister.«1
So beginnt eine Sage über die Entstehung des Kuhreihens (ein Lied, mit dem Hirten ihre Kühe rufen) – sie zeigt die Vielstimmigkeit der Bergmusik der Sennen, mit deren Ruf in die Bergwand vielerlei Echos zurückschallen. Das akustische Wahrnehmungserlebnis der Alpen ist offenbar nicht nur durch das Gezwitscher der Vögel, das Läuten der Kuhglocken oder die Bergmusik der Hirten charakterisiert, sondern auch – oder gerade – durch den Widerhall all dieser Klangquellen. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Echo dabei in den Bergen verortet wird, spiegelt sich denn auch im häufigen Auftreten des Widerhalls in den Sagen des Alpenraums. Das Echo wird dort gewissermassen zur Stimme der Berge, etwa wenn unsichtbare Berggeister Klänge wiedergeben oder wenn, wie in der Sage der verwunschenen Alp, gar kein Echo mehr vom Felsen zurückkommt und sich eine beklemmende Unheimlichkeit ausbreitet.2 Schon die beiden Erzählungen der griechischen Mythologie, die dem Echo seinen Namen geben, lokalisieren das Phänomen in den Bergen. Die Nymphe Echo endet sowohl im Mythos des Narziss wie auch in jenem vom Hirtengott Pan als tragische Figur im Gebirge, die dazu verdammt ist, nachzuhallen.3
Unerklärliche Töne, die an die Schellen eines Schlittens erinnern, beschäftigten auch den Zürcher Gelehrten und Alpenforscher Johann Jakob Scheuchzer (1673–1733) in seinem Werk Natur-Histori des Schweitzerlandes (1716–1718).4 Dieses Bergklingeln, das über die Sommermonate im Appenzell zu hören war, werde, so Scheuchzer, gemeinhin als die Musik der unterirdischen Bergmännlein interpretiert. An anderer Stelle erwähnt er die liebliche Bergmusik der Sennen und Hirten oder die Klänge aus dem Tierreich, wie etwa das Vogelgezwitscher und Pfeifen der Murmeltiere.5 Die Alpen, so legt die Lektüre seiner Natur-Histori nahe, boten Scheuchzer nicht zuletzt ein akustisches Wahrnehmungserlebnis. Seine Art der Naturerforschung könnte man am besten als eine Naturbegehung beschreiben. In etlichen Reisen schritt Scheuchzer die Alpen Meter für Meter ab, besuchte Berggipfel und Täler, erforschte Höhlen und Wälder.
Die Natur der Alpen war nicht allein durch Nachdenken zu verstehen. Sie sollte vielmehr durch das Sammeln und sorgfältige Abwägen vieler unterschiedlicher Informationen, genauer Messungen, eigener Erfahrungen und Experimente erschlossen werden.6 Diese Art der Alpenaneignung fand statt als Wechselspiel zwischen dem Einsatz empirischer Mittel und dem Gebrauch sinnlicher, kultureller und ästhetischer Techniken. So beschreibt Scheuchzer das mysteriöse Phänomen des Bergklingelns zwar in Form eines Augenzeugenberichts, distanziert sich jedoch davon und bietet stattdessen als Alternative eine naturwissenschaftliche Erklärung an. Die Töne kämen demnach nicht von den Bergmännlein, sondern vom Aufprall des herabstürzenden Schmelzwassers auf den Boden einer Berghöhle. Scheuchzer verweist dabei auf die von ihm durchgeführten Experimente über die Tonerzeugung von herabfallendem Wasser.
Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, Scheuchzers Zugang zum Echophänomen – und damit auch seine Wahrnehmung der Alpen überhaupt – als einen Prozess fortschreitender Rationalisierung zu begreifen. Dies entspräche dem Bild von Naturforschern, das nahelegt, dass diese im Zuge der Aufklärung zu »kühnen Alpinisten« avancierten und ihren Forschungsgegenstand Alpen durch Beobachtung, Vermessung und Kartierung beherrschbar machten.7 Diese Perspektive wird der Vielschichtigkeit der Alpenforschung jener Zeit aber nicht gerecht. Die Erforschung der Alpen im 18. Jahrhundert war nicht nur von einem Verlangen nach empirischen Gewissheiten geprägt, sondern ebenso von Faszinationen und Leidenschaften. Akustische Wahrnehmungserlebnisse wie das Echo verkörperten dabei beide Seiten: Das Echo war und ist ein Grenzphänomen, das bis heute das Bild der Alpen bestimmt und sich mit einen gänzlich rationalen Zugang nicht fassen lässt.
Im Widerhall der Mythen
Einer der Gelehrten, die sich noch vor Scheuchzer mit dem Echo beschäftigten, war der Jesuit Athanasius Kircher (1602–1680). Viel eklatanter als bei Scheuchzer findet bei Kircher eine Vermengung von Wunder, Geheimnis und Wissenschaft statt. Ausführlich untersuchte er das Echo im neunten Teil seiner musiktheoretischen Schrift Musurgia Universalis (1650). Eine Auskoppelung dieser Schrift publizierte er später unter dem Titel Phonurgia nova (1673), die auch in einer deutschen Übersetzung als Neue Hall- und Thon-Kunst / oder Mechanische Gehaim-Verbindung der Kunst und Natur (1684) erschien. Die zahlreichen Ausgaben von Kirchers Forschungen zum Echo und dem Schall verdeutlichen das grosse Interesse seiner Zeitgenossen an der Thematik.
Kircher beginnt das erste Kapitel seiner Hall- und Tonkunst mit der Bezeichnung des Echos als »Scherz der spielenden Natur«, das von den Poeten als »Stimm-Bild« beschrieben werde. Leicht zu ergründen sei das Echo jedoch nicht. Laut Kircher sei bisher niemand in der Lage gewesen, dieses »verborgene und geheime Ding« zu erklären. Zum Zweck der Charakterisierung dieses scherzhaften und geheimnisvollen Etwas wird im Folgenden die Nymphe Echo aufgerufen. Nur mit viel Geduld und Hinterlist könne »diese fliehend und flüchtige Nymfe« gefasst werden. Erfassen liess sich das Echo nur mithilfe der Kircher’schen »Erd- oder Feld-Mess-Kunst«.8 So besteht ein Grossteil des Buches darin, die von ihm angewendeten Begriffe, Methoden und Instrumente aufzulisten und verschiedene Beobachtungen sowie Ton- und Schall-Experimente zu beschreiben. Für Kircher verhielten sich Ton und Schall in Analogie zum Licht, das heisst, sie unterlagen derselben geometrischen Gesetzmässigkeit, der Brechung.9 Anhand diverser Experimente mit geraden und gebogenen Rohren beschrieb er die Ausdehnung des Schalls. Um die vollständige Enthüllung des geheimnisvollen Phänomens ging es ihm dort allerdings nicht.
Eine der prominentesten Schall-Demonstrationen in Kirchers Hall- und Thon-Kunst spielt sich auf einem Berg ab – nicht in den Alpen, sondern im römischen Umland auf dem Berg Guadagnolo, dem höchsten der Prenestinischen Berge. Auf dem Berg befand sich der Ort Mentorella mit einer Wallfahrtskirche, die dem Heiligen Eustachius gewidmet war. Kircher schildert, wie er von diesem Berg aus mit einem »Sprach-Rohr« die umliegenden Dörfer beschallte. Bis zu einer Distanz von fünf Meilen habe er mit »starck- und lauter Stimm« die Bevölkerung zum Pfingstmal eingeladen und Litaneien gesungen. Diese Stimme habe viele verwundert »gleich als einer Stimme vom Himmel / die erstaunte und verzuckte«.10 Diese durch Instrumentenkunst ermöglichte Demonstration der Möglichkeiten des Schalls – hier eine himmlische Verkündigung imitierend – vermittelte zweierlei: Erstens eine Demonstration der dem Schall innewohnenden Kräfte, basierend auf den zuvor erläuterten theoretischen Vorannahmen der Schwingung und Brechung, sowie zweitens die Enthüllung des wunderbaren Phänomens als technischer Trick. Was den Dorfbewohner*innen erst auf dem Berg eröffnet wird – die Mechanismen und Bedingungen des wunderbaren Effekts –, wird den Leser*innen der Hall- und Thon-Kunst gleich zu Beginn enthüllt. Auf eine ähnliche Weise wie später Scheuchzer in den Alpen eignete sich Kircher Schall und Echo also durch ein wissenschaftlich-instrumentelles Verfahren an, ohne dabei aber das Geheimnisvolle und das Wunder des Echos zu negieren. Trotz naturwissenschaftlicher Erklärung entzauberte er das mysteriöse Phänomen niemals vollumfänglich: Stets haftete dem Kircher'schen Echo eine Spur Geheimnis an.11 Das bei Kircher greifbare Verlangen, das Phänomen »Echo« mit künstlichen Versuchsanordnungen als natürliches Etwas erfahrbar zu machen, kann als Aneignung und Darstellung des Echos verstanden werden. Dieser wissenschaftliche Zugang fand dabei nicht nur im römischen Umland, sondern auch in den Alpen Anwendung, so etwa im Brauch, einen Pistolenschuss auf dem Gipfel abzufeuern, »um Donner zu imitieren und dem sublimen Lärm des Echos zu lauschen«.12 Derartige Praktiken und Experimente zur Erforschung und zum Bestaunen sonderbarer Phänomene verwandelten die Alpen bald in eine Art Zwitter aus Erfahrungsraum und Versuchslaboratorium.
Das Echo ist ein Grenzphänomen, das bis heute das Bild der Alpen bestimmt und sich nicht mit einen gänzlich rationalen Zugang fassen lässt.
Daten sammeln, Berge vergleichen
Ein solches vielschichtiges Aneignungsverfahren der Alpen findet sich im Schaffen von Scheuchzer. Für ihn bedeutete die Erforschung des Alpenraums, alle Facetten der Schweizer Naturgeschichte systematisch zu erfassen. Dieses Erfassen geschah auf sehr unterschiedliche Arten: Er sammelte Beobachtungen im Zuge seiner ausgiebigen Reisen durch die Alpen, griff aber auch auf ein breites Korrespondenznetz, auf die Erzählungen der Bergbevölkerung sowie auf die Ergebnisse eines umfangreichen Fragebogens zurück.13 1710 erschien dieser Fragebogen mit dem Titel Einladungs-Brief zu Erforschung natürlicher Wunderen so sich im Schweitzer Land befinden. Neben Fragen nach der Existenz von Drachen, Feuermännlein oder tanzenden Geissen wurde auch folgende Erkundigung eingeholt: »Ob nicht dann und wann auf den Bergen und in den Klüften vielfaltige und merkwürdige Widerschallung (Echo) gehört werden?«14
Die Frage nach dem Echo war eine von 189 Fragen, die der systematischen Erfassung verschiedenster Alpenphänome dienten. Auch hier integrierte Scheuchzer Vorkommnisse und Gestalten aus Sagen in seine Untersuchungen. Der Fragebogen ist eine bunte Mischung, die neben den erwähnten Mythen auch naturwissenschaftliche Fakten wie das Gewicht der Luft in unterschiedlichen Höhen oder Erkundigen zur Grösse der alpinen Seen beinhaltet.15
Scheuchzer orientierte sich dabei an den Fragebögen der Royal Society sowie dem älteren Fragekatalog von Francis Bacon. Schon Bacon trug anfangs des 17. Jahrhunderts anhand eines solchen Katalogs Informationen zusammen. Die Fragebögen stellten ein Werkzeug zum systematischen Sammeln von empirischen Daten in einer gewissen Region dar, mit dem Ziel, mehr Wissen zu erlangen und Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen anzustrengen. Sie dienten somit der Erschliessung eines Erdstrichs – ob nun in der Neuen Welt, dem fernen Osten oder entlegenen Bergtälern – genauso wie dem Sammeln und Austausch von Daten über die Natur und deren Geschichte.
Die Sammlung von mess- und vergleichbarem Faktenmaterial beschäftigte denn auch Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799), den wohl bekanntesten Alpenforscher des späten 18. Jahrhunderts. Ihm zufolge war der Mont Blanc der Schlüssel zu einem grossen alpinen System: »Cet énorme rocher de Granit, situé au centre des Alpes, lié avec des montagnes de différentes hauteurs & de différens genres, semble être la clef d’un grand systême [...]«.16 Die gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich des Berges sollten laut Saussure allerdings nicht unreflektiert generalisiert werden. Das Wahrnehmungs- und Erschliessungsraster dieses Systems basierten nämlich sowohl auf empirischen Daten als auch auf ästhetischen Erlebnissen. Gerade Letzteres wird in einer Mont Blanc-Anekdote deutlich, die von einem »schönen Echo« in Magland handelt. De Saussure berichtet dort, dass bei Magland (auf einem Weg, der Reisende in die Gletscher führt) die Reiseführer Granaten abfeuern liessen, woraufhin ein Echo von »ausserordentlicher Schönheit« zu vernehmen sei. In seiner Schilderung des Echoeffekts überwiegt die Bewunderung des akustischen Phänomens: »Ein Knall wird durch dasselbe sehr vielmal wiederholt; die Felsen wiederholen und schicken ihn hierauf noch weiter fort, und so entsteht ein langer Nachklang, welcher im Großen das vorstellt, was im Kleinen der Nachklang eines stark angeschlagenen Flügels ist«.17 Auf dem Gipfel des Mont Blanc dagegen verwandelt sich dieses akustische Erlebnis in eine empirische Überprüfung zur Messung des Schalldrucks in der Höhe: »Eine Pistole, die auf dem Gipfel abgefeuert wurde, machte nicht mehr Lärm als ein kleiner chinesischer Schwärmer in einem Zimmer macht.«18
De Saussure nähert sich mit seiner Auffassung der Alpen als System jenem Verständnis der Berge als einem wissenschaftlichen Erfahrungsraum und Laboratorium an, das für das späte 18. Jahrhundert typisch ist.19 In diesem können sowohl unterschiedlichste Untersuchungen durchgeführt wie auch Rückschlüsse für die Erforschung von Gebirgen anderswo gezogen werden. Nachdem die in der Alten Welt entwickelten – und in der Neuen Welt erprobten – Fragebögen längst wieder in den europäischen Gelehrtenstuben angekommen waren, wurde die Erforschung der europäischen Alpen nun zu einem Modellfall für die Erforschung und Eroberung von Gebirgen weltweit, so wie umgekehrt der Alpenraum mit Wissen aus fernen Ländern angereichert wurde.20 Diese Wechselbeziehung betraf nicht zuletzt das Echo. So verwundert es auch nicht, dass bereits Kircher und Scheuchzer ihre Messungen in ein Verhältnis zu anderen Orten setzten. Kircher etwa stellte die These auf, dass das Echo »in andren Erd-Theilen oder climatibus ein andere Zeit und Raum werde erfordern […]«.21
Die Fülle an Wissen, das insbesondere von Amerika nach Europa strömte, beeinflusste die innereuropäische Naturgeschichte nachhaltig.22 Die spanische Krone etwa liess sich seit dem 16. Jahrhundert anhand von standardisierten Fragelisten Informationen über die von ihr eroberten Gebiete zukommen.23 Die Frage nach der Aneignung und Vermessung natürlicher Phänomene steht in diesem Kontext somit ganz im Zeichen der kolonialen Herrschaftspraxis. Dass auch Phänomene wie das Echo von dieser kolonialen Raumerschliessung betroffen waren, lässt eine Stelle im Spanischen Fragebogen aus dem Jahr 1812 vermuten:
»In diesem Artikel befinden sich Beschreibungen der Kavernen und Höhlen, die man in der Provinz findet, welche kristalline Kalksteine enthalten, die bekannt sind für die Anzahl der Stalaktiten, die diesen Ort ausmachen, sowie zusätzliche Besonderheiten: das Echo der Berge, die Vulkane, die Kaskaden der Flüsse, die Hecken in ihren Formen, die Veränderungen in den Strukturen der Berge und andere Stellen im Gelände mit allen anderen Phänomenen und natürlichen Seltenheiten welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die Neugier befriedigen können.«24
Diese Fragebögen sollten also ein möglichst vollständiges Bild der Neuen Welt zeichnen. Die Spanische Krone verfolgte somit ähnliche Zwecke wie Scheuchzer und Bacon: Sie wollte Räume und Phänomene anhand eines Fragebogens erfass- und vermittelbar machen.25
Umgekehrt flossen womöglich Erkenntnisse aus europäischen Alpenexpeditionen in die Fragebögen mit ein beziehungsweise wurden für die Erforschung anderer Gebirge (wie die Anden) adaptiert. Die Berge der Neuen Welt wurden auf diese Weise in ein europäisches Frage- und Wahrnehmungsraster eingegliedert und diesem unterworfen. Dieses Raster kombinierte das Streben nach einer systematischen Vermessung und Erforschung der Natur mit einer Art enzyklopädischen Neigung für das Merkwürdige, Seltene und Kuriose. Obwohl sich beispielsweise Scheuchzer von den Geschichten und Erzählungen über alpine Drachen oder dem mysteriösen Bergklingen distanzierte, hielt er sie dennoch für erwähnenswert. Auch diese Erzählungen bildeten einen Teil seiner Empirie.
Austauschende Aneignung
Das akustische Wahrnehmungserlebnis der Alpen ist geprägt vom Echo. Dass diese »flüchtige Nymfe« nur schwer gefasst werden konnte – davon zeugt die Vielschichtigkeit der Aneignungsversuche. Die Geschichte des Echophänomens changiert zwischen Enthüllung und Geheimnis, Empirie und Wunder, Fragebögen, empirischen Messdaten und Gipfelexperimenten. Und auch wenn die Akustik im 19. Jahrhundert mehr und mehr zur Laborwissenschaft wurde, später – in den 1920er und 1930er Jahren – eher in Radio- und Tonstudios anzutreffen war und schliesslich um 1960 im Computer simuliert wurde: Das Echo hallt(e) nach wie vor nicht nur vielstimmig von den Wänden der Alpen, sondern auch von den verschiedenen Aneignungsverfahren zurück. Ein gegenwärtiges Kunstprojekt nimmt diese Vielschichtigkeit auf und weist damit zurück auf die hier diskutierten Wissenspraktiken.
EchoTopos hat zum Ziel, anhand einzelner Echo-Punkte – oder point d’écho, wie sie der Musiker und Projektleiter Christian Zehnder nennt – eine Klangkarte der Alpen zu entwerfen. Mithilfe eines Aufnahmekopfs werden auf verschiedenen Gipfeln Echoaufnahmen durchgeführt, die immer derselben Anordnung folgen. Die Position des Kopfes und jene des Sängers oder der Sängerin, die Rufrichtung, die Lautstärke, die Schallquelle (hier immer die Stimme), die Tageszeit, die Luftfeuchtigkeit, die Thermik, die Jahreszeit, die Vegetation und der Wind stellen die Variablen dar. Einerseits soll das Projekt das Echo also möglichst so darstellen, wie es auf dem Berggipfel für ein menschliches Ohr klingt; andererseits soll es die Vergleichbarkeit der Aufnahmen mittels unterschiedlichster Parameter ermöglichen. In der Überlagerung der Echoaufnahmen mit einer digitalen Karte entsteht ein Konstrukt, das die jeweiligen lokalen Echo-Phänome unmittelbar miteinander in Verbindung setzt. EchoTopos kann so in die frühneuzeitliche Tradition der Alpenerforschung gestellt werden, denn es spielt mit eben jener Dualität von Empirie und Wunder, die bereits bei Kircher durchschimmerte. Die zeitliche Distanz zwischen Forschenden wie Kircher oder Scheuchzer und den Künstlern von EchoTopos wird mit der Verwendung von Technologien überbrückt, die auf die Berge hinaufgetragen werden müssen, um aussagekräftige Ergebnisse zu liefern. Wovon Kircher und Scheuchzer noch nicht einmal träumen konnten, ist im abstrakten Schallraum EchoTopos in greifbare Nähe gerückt: Mit der Überlagerung der Echoaufnahmen in einer digitalen Karte wird ein globales Klangbild der Bergechos möglich, das Echos aus ihrer konkreten alpinen Umgebung löst und miteinander vergleichbar macht.
De Saussures Idee der Alpen als Schlüssel zu den Gebirgen der Welt, spiegelt sich – trotz aller Flüchtigkeit des Echophänomens – in der Möglichkeit eines globalen Klangbildes der Berge wieder. EchoTopos setzt im Versuch, das Echo trotz seiner Flüchtigkeit zu erfassen, das vielschichtige Spannungsverhältnis von empirischen Messdaten, enthüllbaren Geheimnissen und Fragebögen um, das als solches seit der Frühen Neuzeit in der Echoforschung angelegt war. Wenn de Saussure zur Vorsicht mahnt, wissenschaftliche Erkenntnisse vom Berg nicht unreflektiert zu generalisieren, trifft das auch heute zu. Keine Echoaufnahme von EchoTopos hat die Fähigkeit, für alle anderen Echos zu sprechen. Das Kunstprojekt bewegt sich vielmehr in einer Gleichzeitigkeit von empirischer Vermessung und ästhetischem Erlebnis. Es handelt sich um eine Gleichzeitigkeit, die bei allen hier vorgestellten Aneignungsversuchen mitschwingt. Jede Form der Aneignung eröffnet eine neue Perspektive, die die Nymphe ein wenig fassbarer macht, bevor sie wieder im Hall ihrer selbst verschwindet. Das Echo schallt über die Jahrhunderte und eine Vielzahl von Bergen hinweg.
Joëlle Simmen hat 2017 den Bachelor in Medienwissenschaft und Soziologie an der Universität Basel abgeschlossen und studiert im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.
Das Echo schallt über die Jahrhunderte und einer Vielzahl von Bergen hinweg.
Abb. 1: Bernard Picart, Narcissus en Echo, 1731, Amsterdam: Rijksmuseum, LeBlanc 85–146.
Abb. 2: Iconismus XV, fol. 264, aus: Athanasius Kircher, Musurgia Universalis, Bd. 2, Roma: Mascardi (1650).
Abb. 3. Johann Jakob Scheuchzer, Einladungs-Brief, zu Erforschung natürlicher Wunderen, so sich im Schweitzer-Land befinden, 1710, Bayrische Staatsbibliothek, 4 H.nat. 141 b, S. 10.
Abb. 4: Athanasius Kircher, Phonurgia nova: Neue Hall- und Thon-Kunst/ Oder Mechanische Geheim-Verbindung der Kunst und Natur/ Durch Stimme und Hall-Wissenschafft gestifftet, Campidonae: Rudolph Dreherr (1673), S. 80, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Sign. Rara K58n.
Abb. 5: Klangkarte, https://www.echotopos.ch. Zur Verfügung gestellt von Christian Zehnder.
Abb. 6: Binauraler Aufnahmekopf, Filmstill aus EchoTopos Schweiz, Regie: Muriel Kunz (2016), Min: 00:47. Zur Verfügung gestellt von Christian Zehnder.
- 1
Meinrad Lienert: »Die Entstehung des Kuhreihens«, www.sagen.at/texte/sagen/schweiz/allgemein/kuhreihen.html (1915).
- 2
Vgl. »Die verwunschene Alp«, in: Dirk Vaihinger (Hg.): Die schönsten Märchen der Schweiz, München: Nagel & Kimche (2012), S. 182–185, hier S. 183.
- 3
Vgl. Jörg Jochen Berns: Die Jagd auf die Nymphe Echo: Zur Technisierung der Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit: Frühgeschichte der Zeitung, Akustik, Bildstrategeme, Praecinematik, Automatisierung, Bremen: EdLumière (2011), S. 140.
- 4
Vgl. Johann Jakob Scheuchzer: Helvetiae Historia Naturalis oder Natur-Historie des Schweitzerlandes, Zürich: Bodmerische Truckerey (1716–1718), S. 117f..
- 5
Vgl. Johann Jakob Scheuchzer: Helvetiae stoicheiographia, orographia et oreographia, oder, Beschreibung der Elementen, Grenzen und Bergen des Schweitzerlandes, Zürich: Bodmerische Truckerey (1716), S. 152.
- 6
Vgl. Johann Jakob Scheuchzer: Helvetiae Historia Naturalis oder Natur-Historie des Schweitzerlandes, Zürich: in der Bodmerischen Truckerey (1716–1718), S. 1f.
- 7
François Walter: »Die Entdeckung der Alpen« in: Historisches Lexikon der Schweiz: Alpen, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8569.php (17.07.2013).
- 8
Athanasius Kircher: Phonurgia nova: Neue Hall- und Thon-Kunst/ Oder Mechanische Geheim-Verbindung der Kunst und Natur/ Durch Stimme und Hall-Wissenschafft gestifftet, Campidonae [Kempten]: per Rudolphum Dreherr (1673), S. 1ff., S. 11f.
- 9
Bereits der Jesuit Josephus Blancanus hat in Sphera Mundi seu cosmographia (1635) über die Analogie zwischen Echo und Licht geschrieben.
- 10
Athanasius Kircher: Phonurgia nova: Neue Hall- und Thon-Kunst/ Oder Mechanische Geheim-Verbindung der Kunst und Natur/ Durch Stimme und Hall-Wissenschafft gestifftet, Campidonae [Kempten]: per Rudolphum Dreherr (1673), S. 82.
- 11
Vgl. Tina Asmussen: Scientia Kircheriana: Maschinerien des Wissens bei Athanasius Kircher, Affalterbach: Didymos, 2016, S. 135 und Lucas Burkart: »Athanasius Kircher und das Theater des Wissens«, in: Flemming Schock, Oswald Bauer, Ariane Koller (Hg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit: Ordnung und Repräsentation von Wissen, Hannover: Wehrhahn (2008), S. 259–280, hier S. 261f.
- 12
Helga Dirlinger: Bergbilder: Die Wahrnehmung alpiner Wildnis am Beispiel der englischen Gesellschaft 1700–1850, Frankfurt am Main: Peter Lang (2000), S. 78.
- 13
Vgl. Simona Bosca Leoni: »Zwischen Gott und Wissenschaft: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung«, in: Sophie Ruppel, Aline Steinbrecher (Hg.): »Die Natur ist überall bey uns«: Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich: Chronos (2009), S. 183–194, hier S. 186, 188; Simona Boscani Leoni (Hg.), unter Mitarbeit von Jon Mathieu, Bärbel Schnegg: »Unglaubliche Bergwunder«: Johann Jakob Scheuzer und Graubünden: Ausgewählte Briefe 1699–1707, Chur: Casanova Druck Werkstatt (2019).
- 14
Johann Jakob Scheuchzer: »Einladungs-Brief, zu Erforschung natürlicher Wunderen, so sich im Schweitzer-Land befinden«, 1710, Bayrische Staatsbibliothek, 4 H.nat. 141 b, S. 10.
- 15
Vgl. Johann Jakob Scheuchzer: »Einladungs-Brief, zu Erforschung natürlicher Wunderen, so sich im Schweitzer-Land befinden«,1710, Bayrische Staatsbibliothek, 4 H.nat. 141 b, S. 4, 7, 10, 14.
- 16
Horace-Bénédict de Saussure: Voyages dans les Alpes précédés d’un essai sur l’histoire naturelle des environs, Neuchâtel: chez Samuel Fauche (1779–1796), 1ière livre, S. 356.
- 17
Horace-Bénédict de Saussure: Voyages dans les Alpes précédés d’un essai sur l’histoire naturelle des environs, Neuchâtel: chez Samuel Fauche (1779–1796), 2ieme livre, S. 298, 1ière livre, S. 149–150.
- 18
Horace-Bénédict de Saussure: Kurzer Bericht von einer Reise auf den Gipfel des Mont Blanc im August 1787, Strasbourg: in der akademischen Buchhandlung (1788), S. 29, http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10707216-5.
- 19
Zum Laboratorium im alpinen Kontext siehe Philipp Felsch: Laborlandschaften: Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert, Wallstein: Göttingen (2007).
- 20
Der Alpenbegriff wurde in dieser Zeit zu einem Exportschlager. Auch andere Gebirgsformationen wie die Japanischen Alpen, die Australischen Alpen oder die Japanischen Alpen wurden nach dem europäischen Vorbild benannt. Vgl. Jon Mathieu: Die dritte Dimension: Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit, Basel: Schwabe (2011), S. 30; Zum Verhältnis von Humboldt zu den Schweizer Gebirgsforscher vgl. Jon Mathieu: »Von den Alpen zu den Anden: Alexander von Humboldt und die Gebirgsforschung«, in: Simona Boscani (Hg.): Wissenschaft – Berge – Ideologien: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, Basel: Schwabe (2010) S. 293–308, hier S. 41.
- 21
Athanasius Kircher: »Phonurgia nova: Neue Hall- und Thon-Kunst/ Oder Mechanische Geheim-Verbindung der Kunst und Natur/ Durch Stimme und Hall-Wissenschafft gestifftet«, 1673, ETH-Bibliothek Zürich, Rar 9066 q, S. 12.
- 22
Vgl. Simone Boscani Leoni: »Queries and Questionnaires: Collecting Local and Popular Knowledge in 17th and 18th Century Europe« in: Kaspar von Greyerz, Silvia Flubacher, Philipp Senn (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Geschichte des Wissens im Dialog – Connecting Science and Knowledge, Göttingen: V&R (2013), S. 187–207, hier S. 187–190.
- 23
Arndt Brendecke: Imperium und Empirie: Funktionen des Wissens in der Spanischen Kolonialherrschaft, Köln: Böhlau (2009), S. 270–290.
- 24
In eigener Übersetzung: »En este artículo se pondrán las descripciones de las cavernas o cuevas que se encuentren en la provincia y contengan grandes cristalizaciones calizas conocidas con el nombre de estalactitas expresando su local y demás particularidades: los ecos de las montañas; los volcanes; las cascadas de los ríos; variaciones de setos en sus cajas y madres; as alteraciones que haya padecido la estructura de las montañas y demás partes del terreno; con todos los demás fenómenos y rarezas naturales que llamen la atención y puedan satisfacer la curiosidad.« Antonio Abellán García, Francisco de Solano: Cuestionarios para la formación de las relaciones geográficas de Indias: Siglos XVI/XIX, in: Tierra nueva e cielo nuevo (Bd. 25), Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Centro de Estudios Históricos, Departamento de Historia de América (1988), S. 219.
- 25
Antonio Abellán García, Francisco de Solano: Cuestionarios para la formación de las relaciones geográficas de Indias: Siglos XVI/XIX, in: Tierra nueva e cielo nuevo (Bd. 25), Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Centro de Estudios Históricos, Departamento de Historia de América (1988), S. 205, 219.