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Montan-Welten: Alpengeschichte abseits des Pfades
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Alina Ragoni

Hallers politische Pflanzen

Im Gedicht Die Alpen des Universalgelehrten Albrecht von Haller nehmen alpine Wildpflanzen eine Schlüsselrolle ein. In der Natur glaubte er ein Vorbild für die optimale Gesellschaftsordnung zu erkennen.

Frisch zurückgekehrt aus London und Paris brach der junge Medizinstudent Albrecht von Haller (1708–1777) im Jahre 1728 zu einer weiteren Reise auf.1 Dieses Mal verliess der Berner seine Studierstube ausdrücklich, um in den Alpen zu botanisieren. Haller, der sich bereits im Medizinstudium mit der Pflanzenkunde beschäftigte, wollte diese »Schöpfungen Gottes« abseits botanischer Gärten betrachten.2 Zusammen mit einem Freund, dem Naturforscher Johannes Gessner (1709–1790), begab er sich deshalb nach Genf, um von dort aus quer über die Alpen bis nach Luzern und Zürich zu reisen. Ein Jahr später, 1729, schrieb Haller ein Gedicht über diese Reise, das ihn in den folgenden Jahrzehnten über Europa hinaus bekannt machte.3 Die Alpen bildet den Auftakt des Gedichtbandes Versuch Schweizerischer Gedichte, den Haller 1732 erstmals veröffentlichte. Das ganze Gedicht ist mit Fussnoten angereichert und von Haller bis zu seinem Tod im Jahre 1777 insgesamt elf Mal sorgfältig überarbeitet und kommentiert worden. Der Fussnotenapparat wuchs mit jeder Neuauflage, da er zusätzlich die Entwicklung der Gedichte und ihre Anordnung im Band dokumentierte.4 Die 49 Strophen des Lehrgedichts schildern zu Beginn den städtischen Überfluss im Kontrast zum genügsamen Leben der Bäuer*innen in den Alpen und steigen im letzten Teil, zusammen mit dem lyrischen Ich, steile Felswände empor. Oben angelangt, findet das wandernde Ich in der unberührten Natur, veranschaulicht durch das Bild einer bunten Pflanzengesellschaft, ein Vorbild für das tugendhafte Leben.5

In den zwanzig Versen, in denen er die Pflanzengesellschaft beschreibt, verknüpft Haller auf bemerkenswerte Weise seine botanische Forschung mit seiner Dichtung: Mittels Fussnoten verleiht er den Pflanzenbeschreibungen ein wissenschaftliches Fundament, indem er auf botanische Systematikbücher und die lateinischen Namen der Pflanzen verweist. Zugleich verarbeitet er die Pflanzenmerkmale poetisch zu einem symbolischen Gesamtbild. Doch weshalb kommen die botanischen Verse im Gedicht überhaupt und in dieser Form vor? Welche Bedeutung kommt ihnen zu? Die gegenwärtige Haller-Forschung geht davon aus, dass die Zeilen entweder als botanisches Minilehrbuch zu verstehen sind, die Pflanzen also dank ihrer naturalistischen Beschreibung und den Fussnoten auf einer Wanderung in den Alpen erkenn- und systematisierbar werden.6 Andere argumentierten, für Haller habe nicht so sehr die Didaktik im Vordergrund gestanden, vielmehr entwickle er in diesen Zeilen auf spekulativem Weg Hypothesen und arbeite damit seiner wissenschaftlichen Forschung zu. Die Pflanzenszene liesse sich demnach als Hypothese über die Ordnung der Pflanzengesellschaft, die Haller später wissenschaftlich untersuchte, sehen.7 Die komplexe Verbindung von Botanik und Symbolik im Gedicht machen eine weitere Lesart plausibel, die die Pflanzenverse in einen direkten Zusammenhang mit der politischen Bedeutung der Alpen im 18. Jahrhundert stellt. Doch wie können Pflanzenbeschreibungen politisch sein?

Abb. 1: Idealisierte Darstellung der Schweizer Alpen als Ort der Demokratie, der Freiheit und des Lebens in und mit der rauen Natur. Der Druck stammt aus einer bebilderten Ausgabe von Hallers Alpengedicht, 1773.

Der neue Blick auf die Alpen

In Die Alpen bestimmte Haller das Verhältnis der alpinen Natur zur Stadt neu, indem er bestehende Bilder ins Gegenteil verkehrte. Er grenzte sich von der Vorstellung ab, die Alpen seien ein wilder, ungebändigter Naturraum, der abwechselnd Furcht und Faszination auslöste. Auch die Bewohner*innen der Alpen galten in seinen Augen nicht als unzivilisierte und wilde, sondern im Gegenteil als von der städtischen Lasterhaftigkeit verschonte und daher unverdorbene Schweizer (Ur-)Einwohner*innen.8 Mit dem Bild der sündhaften Städter*innen bezog sich Haller hauptsächlich auf die Berner Patrizierfamilien, die die französische Hofkultur nachahmten und zunehmend an Macht gewinnen würden.9 Mithilfe der Alpen, die er als naturbelassenes Paradies idealisierte, übte er scharfe Sitten- und Luxuskritik an der städtischen Gesellschaftsordnung.10 Die Wahrnehmung der Alpen als Festung, die das gute Leben bewahrte, war bis weit ins 20. Jahrhundert durch Hallers berühmt gewordenes Gedicht geprägt.11 Im Gedicht selbst konstruiert Haller diese Idylle der naturbelassenen, ursprünglichen Lebensform als Folge der kargen Natur. Die unwirtlichen Böden und rauen Wetterbedingungen in den Alpen würden den Bewohner*innen natürliche Grenzen setzen und sie zu einem naturnahen Leben führen. Ihre Armut übe einen natürlichen Zwang zur Mässigung auf sie aus und halte sie davon ab, dem sündhaften Luxus zu verfallen. Da ihnen »Gold zum Sorgen fehlte« (V. 30),12 würden sie auch nicht dem »geiz« und der »ehrsucht« verfallen (V. 17). Das sittenhafte Leben der Alpenbewohner*innen würde die »müh« in Lust und die »armuth« in Glück verwandeln (V. 34). Die Anpassung an die natürlichen Begebenheiten erfolge in den Alpen aus Notwendigkeit und nicht aufgrund der willkürlichen Autorität eines Herrschers. Wer sich dieser Notwendigkeit beugte, war für Haller durchaus vernünftig. Die Bewohner*innen der Alpen hätten diese Vernunft jedoch nicht wie die Gelehrten der Stadt durch Bildung erlangt; viel eher würden sie eine natürliche Gelehrsamkeit praktizieren, bei der die vernünftig eingerichtete Natur ihnen die »lehre, recht zu leben« beibrachte.13 Im Gedicht heisst es:

Hier herrschet die vernunft von der natur geleitet,
Die, was ihr nöthig, sucht, und mehrers hält für Last:
Was Epictet gethan, und Seneca geschrieben,
Sieht man hier ungelehrt und ungezwungen üben.
[...]
Und hier hat die natur die lehre recht zu leben,
Dem menschen in das herz, und nicht ins hirn gegeben.
(V. 67–70, 89–90)

Abb. 2: Getrocknete Exemplare von drei verschiedenen Enzianen: In der Mitte der »kleine blaue Bruder« (Schwalbenwurz-Enzian, Gentiana asclepiadea), der leicht überhängend wächst. Rechts ein Hybrid (G. x charpentieri), der den Blütenstand des gelben »edlen Enzians« (Gentiana lutea) und an den Spitzen der Blüten das Muster des gepunkteten Enzians (Gentiana punctata, ganz links im Bild) geerbt hat.

An den Zürcher Naturforscher und Universalgelehrten Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) anknüpfend, entwickelte Haller damit die Figur des homo alpinus Helveticus weiter, indem er sie an die alpine Natur knüpfte. Der naturnahe, ideale Menschentypus, der in den Alpen konserviert bleibe, verdanke seine Eigenschaften seiner aussergewöhnlichen Umgebung.14

Botanische Poesie

Das lyrische Ich, das vermutlich Haller selbst auf seiner botanischen Reise kultivierte, zeigt sich begeistert von diesem Leben in den Alpen und besonders von der Schönheit und Nützlichkeit ihrer natürlichen Grundlage.15 Dem Vorbild eines alten Greises folgend, macht sich das Ich deshalb auf, diese Natur genauer zu untersuchen:

Bald aber schließt ein kreis um einen muntern alten,
Der die natur erforscht, und ihre schönheit kennt;
Der kräuter wunderkraft und ändernde gestalten
Hat längst sein witz durchsucht, und jedes moos benennt:
[…]
Er kennt sein vaterland, und weiß an dessen schätzen
Sein immerforschend aug am nutzen zu ergötzen.
(V. 301–310)

In Die Alpen bestimmte Haller das Verhältnis der alpinen Natur zur Stadt neu, indem er bestehende Bilder umdrehte.

In den Versen 311–440 beschreibt Haller eine idealisierte alpine Naturlandschaft mit hohen Bergen, wilden Flüssen und einer reichen, farbenfrohen Flora. Da Haller als Botaniker zu seiner Reise aufgebrochen war, erstaunt es nicht, dass sein »immerforschend aug« sich besonders detailliert an der bunten Pflanzengesellschaft »ergötzt«:

Dort ragt das hohe haupt am edlen Enziane
Weit übern niedern chor der pöbelkräuter hin:
Ein ganzes blumenvolk dient unter seiner fahne,
Sein blauer bruder selbst bückt sich, und ehret ihn.
Der blumen helles gold, in strahlen umgebogen,
Thürmt sich am stengel auf, und krönt sein grau gewand;
Der blätter glattes weiß, mit tiefem grün durchzogen,
Strahlt mit dem bunten Blitz von feuchtem diamant:
Gerechtestes Gesetz! daß kraft sich zier vermähle,
In einem schönen leib wohnt eine schönre seele.

Hier kriecht ein niedrig kraut, gleich einem grauen nebel,
Dem die natur sein blatt in kreuze hingelegt;
Die holde blume zeigt die zwei vergöldten schnäbel,
Die ein von Amethyst gebildter vogel trägt.
Dort wirft ein glänzend blatt, in finger ausgekerbet,
Auf eine helle bach den grünen widerschein;
Der blumen zarten schnee, den matter purpur färbet,
Schließt ein gestreifter stern in weiße strahlen ein:
Smaragd und rosen blühn, auch auf zertretner heide,
Und felsen decken sich mit einem purpurkleide.
(V. 381–400)

Die poetisch-verklärende Sprache dieser Gedichtzeilen macht es selbst für Botanikkundige schwer, die Wildpflanzen zu identifizieren. Doch von der ersten Auflage an versah Haller seine poetischen Pflanzenbeschreibungen mit Fussnoten, die ihre genaue wissenschaftliche Klassifikation und weitere botanische Details enthielten. Ab der vierten Auflage verwiesen die Fussnoten sogar auf Hallers grosses botanisches Hauptwerk, die Enumeratio methodica stirpium Helvetiae indigenarum von 1742.16 Dieses umfassende Werk beschreibt in nüchternem Latein mehrere tausend Pflanzenarten der Schweizer Alpen, unter anderem auch die des Gedichts.17 In der Fussnote zu Vers 381 steht zum Beispiel:

»Gentiana floribus rotatis verticillatis. Enum. Helv. P. 478, eines der grössten Alpen-Kräuter, und dessen Heil-Kräfte überall bekannt sind, und der blaue foliis amplexicaulibus floris fauce barbata. Enum. Helv. P. 473, der viel kleiner und unansehnlicher ist.«

Abb. 3: Die Pflanzenverse 381 bis 388 mit dem dazugehörigen Fussnotenapparat (10. Auflage des Gedichts, 1772).

So wird deutlich, dass die ersten Zeilen einen aufrecht gewachsenen gelben Enzian (Gentiana lutea)18 beschreiben, an dessen Stängel goldene Blüten emporwachsen und der von grauen, feinen Haaren bedeckt ist. Unter ihm wächst ein blauer Enzian (Gentiana asclepiadea), der dem gelben in der Gestalt sehr ähnlich ist, jedoch blaue Blüten trägt und leicht überhängend wächst (»Sein blauer bruder selbst bückt sich, und ehret ihn «, V. 384). Der blaue Enzian sei viel kleiner und unansehnlicher, heisst es ergänzend in der Fussnote zu Vers 381, und besitze im Gegensatz zum gelben Enzian keinerlei Heilkräfte. Der »niedern chor der pöbelkräuter« (V. 382) besteht aus einem Löwenmäulchen (Antirrhinum, nicht spezifiziert), das unter den beiden Enzianen hindurchkriecht (»Hier kriecht ein niedrig kraut, gleich einem grauen nebel« V. 391). Die bauchigen, gebogenen Blüten des Löwenmäulchens würden an einen violetten Vogel mit einem gelben Schnabel erinnern (»vergöldten schnäbel, Die ein von Amethyst gebildter vogel trägt« V. 393–394), während die Stängelblätter kreuzweise angeordnet sind. In der Nähe eines Baches wachsen Sterndolden (Astrantia major) mit ihren fingerartig geteilten Blättern und ihren weissen, leicht violett schimmernden Blüten, die einen grossen Stern bilden (V. 395–398). Zum Schluss beschreibt Haller Alpenrosen (Rhododendron ferrugineum und R. hirsutum), deren Blüten an Rosen und deren smaragdgrüne Blätter an Gartenhecken (Buxus sempervirens) erinnern (»Smaragd und rosen blühn, auch auf zertretner heide« V. 399). Das »purpurkleide« (V. 400), das die Felsen bedeckt, besteht aus dem polsterartig wachsenden stängellosen Leimkraut (Silene acaulis).

Diese Zeilen lesen sich wie ein Loblied auf die Schönheit der Pflanzen und die Mühelosigkeit, mit der sie sich in einer hierarchischen Ordnung einfinden. Haller betont darin die Farbenpracht und die Düfte der Pflanzen, die in den Alpen besonders ausgeprägt seien. Mit diesen Eigenschaften würden sie sich einen Rangstreit liefern. Der Naturforscher hält fest: »Der blumen scheckicht heer scheint um den rang zu kämpfen« (V. 377). Der edle Enzian erhebt sich über die Köpfe der anderen Pflanzen hinweg, die als »volk« unter seiner »fahne« dienen (V. 383). Dieser Rangstreit verleiht der Pflanzengesellschaft eine vertikale Schichtung, die Haller als Vorbild für eine natürliche Gesellschaftsordnung sah. Es ist eine Ordnung, die über die Menschen hinaus Tiere und Pflanzen mitberücksichtigt. Während die Enziane als König und Diener dargestellt werden, wird dem Löwenmäulchen Ähnlichkeiten mit einem Vogel zugeschrieben. Die Alpenrosen hingegen lassen sich als alpiner Barockgarten, in dem wilde Hecken und Rosen wachsen, interpretieren.

Als Botaniker wird Haller diesen Wettstreit nicht nur in der alpinen Natur, sondern auch bei Pflanzen im Flachland beobachtet haben – seine Leidenschaft galt aber klar der alpinen Flora. In der Vorrede zur ersten Auflage seines botanischen Hauptwerks, der Enumeratio, betonte er die Einzigartigkeit der alpinen Landschaft samt ihrer fünfhundert Pflanzenarten, die nur in diesem Gebiet vorkommen. Die Vielfalt der Gräser, Moose, Flechten, Pilze und Blütenpflanzen lade dazu ein, die Anpassungsfähigkeit dieser genügsamen, niedrig wachsenden Arten, die sich durch besondere Schönheit und Düfte auszeichnen, zu erforschen.19 Im Gegensatz zu Pflanzen aus tieferliegenden Regionen weisen alpine Wildpflanzen botanisch gesehen besondere Merkmale auf.20 Wer heute, wie Haller damals, zu einer botanischen Reise aufbricht, wird mit Staunen feststellen, welch karge Landschaften die zähen, kleinen Pflanzen im Hochgebirge bewachsen können. Mittels ausgeklügelter Mechanismen haben sie sich über Jahrmillionen an das herausfordernde Klima angepasst. So schützen sie sich vor starken Winden, indem sie bodennah wachsen oder kleine polsterartige Grüppchen bilden. In den Polstern können sie auch Wärme und Feuchtigkeit speichern und so Temperaturschwankungen trotzen. Mit dicken Blättern und verholzten Stämmchen schützen sie sich vor einem zu grossen Wasserverlust und Windschäden. Einige bedecken ihre Blätter und Stängel mit weissen, dichten Haaren, um der starken Sonnenexposition entgegenzuwirken. Wie viele andere Pflanzen werben sie zudem mit auffällig farbigen Blüten und Düften um Insekten. Im Gedicht ergänzte Haller in der Fussnote zu Zeile 375:

»Alle Kräuter sind auf den Alpen viel wohlriechender als in den Tälern. Selbst diejenigen, so anderswo wenig oder nichts riechen, haben dort einen angenehmen saftigen Narziss-Geruch [...].«

Abb. 4: »Und felsen decken sich mit einem purpurkleide« (V. 400). Nr. 7: Getrocknetes Exemplar des stängellosen Leimkrauts (Silene acaulis). Die ein bis drei cm hohen Pflänzchen mit den bodennahen, purpurfarbenen Blüten wachsen in flachen Polstern im Geröll oder auf Felsen. Im Kontrast dazu Nr. 8: Bis zu dreissig cm hoher, oft alleinstehender Purgier- oder Wiesen-Lein (Linum catharticum).

Die Pflanzengesellschaft gerät scheinbar zufällig ins schweifende Blickfeld des Wanderers, sie ist jedoch hochgradig konstruiert und symbolisch aufgeladen.

Die Schönheit und Tüchtigkeit der Pflanzen komme besonders in der zweckmässigen, vernünftigen Einrichtung der alpinen Natur zum Ausdruck – weniger aber in der kultivierten Natur, wo es keinen Grund zur Ausbildung dieser besonderen Merkmale gäbe. Warum sich Haller genau für diese sieben Pflanzen entschied, ist nicht auf Anhieb erklärbar. Im Enumeratio lassen sich lediglich Hinweise darauf finden, dass alle Pflanzen sehr selten sind und fast ausschliesslich in den Alpen vorkommen.

Die Beschreibung der Pflanzengesellschaft stellt augenscheinlich eine Analogie zu einer sozial geschichteten Gesellschaft dar, in der die Mitglieder entsprechend ihres Charakters eine bestimmte Funktion einnehmen.21 Der Rangstreit der Pflanzen, der heute als evolutionsbiologisches Survival of the Fittest beschrieben werden kann, war schon für Haller ein natürlicher Vorgang. Dieselbe vernünftige Natur, die für das vorbildliche Leben der Alpenbewohner*innen verantwortlich sei, schien für ihn diese Ordnung der Pflanzen herzustellen. Die Gesellschaftsschichtung wurde im Rahmen der wissenschaftlichen Pflanzenbeschreibung zum Naturgesetz und damit ihrer politischen Dimension beraubt. Diese Naturalisierung, die er mit Hilfe der Pflanzenverse vornimmt, wirft ein interessantes Licht auf Hallers botanische Forschung sowie die Bedeutung der Pflanzen für das Gedicht.

Die Alpen zwischen Dichtung, Wissenschaft und Politik

Wie für andere Naturforscher des 18. Jahrhunderts war es auch für Haller sehr wichtig, sich in seinen wissenschaftlichen Werken streng an die Empirie zu halten.22 Im Gegensatz dazu zeichneten sich die Werke von Naturforschenden des 16. und 17. Jahrhunderts dadurch aus, dass ihr Wissenschaftsbegriff breiter gefasst war. Der Historiker William Ashworth hat anhand der zoologischen Publikationen des Zürcher Naturforschers Conrad Gessner (1516–1565) auf diese Vielschichtigkeit der frühneuzeitlichen Naturgeschichte hingewiesen. Gessner sammelte für sein Verzeichnis der Tiere nicht bloss Angaben zu ihrer Anatomie, Physiologie und Klassifikation. Er trug beispielsweise zusammen, wie das Tier in anderen Sprachen hiess, in welchen Sprichwörtern es auftauchte, was es symbolisierte oder welche anderen Tiere es mochte. Forscher wie Gessner beschrieben Tiere und Pflanzen als sogenannte Embleme, als symbolbehaftete Wesen. Ein Lebewesen zu untersuchen hiess, alle mit ihm verbundenen Assoziationen zu kennen.23 Haller beschränkte sich jedoch auf die Aufzählung von Vorkommen, botanischen Merkmalen wie der Anzahl Blüten- oder Staubblätter, der Blattform, Blütenfarbe, aber auch der Verwandtschaftsverhältnisse sowie der medizinischen Eigenschaften. Damit gleicht Hallers Enumeratio von 1742 heutigen Systematikbüchern.24 Im Gedicht gelang es Haller aber, die detailgetreuen Beschreibungen der Pflanzenmerkmale mit Charakterzuschreibungen zu vermischen und so die Grenzen zwischen Empirie und Symbolik aufzuheben. Die Pflanzen erscheinen als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt und werden zugleich mit einer Bedeutung aufgeladen, die sich nicht aus einer naturwissenschaftlich-botanischen Untersuchung ableiten lässt.

Abb. 5: »Flora krönt einen Enzian«, Tafel XXXIX aus Herrlibergers Ausgabe des Alpengedichts, 1773.

Inszenierte Natürlichkeit

Wie politisch Hallers Pflanzenbeschreibung waren, wird deutlich, wenn man sie mit der damaligen Luxus- und Sittenkritik in Zusammenhang bringt. Das Alpengedicht entstand in einer Zeit intensiver gesellschaftspolitischer Debatten über das tugendhafte Leben, die Ästhetik und den Nutzen der ›Alpenfestung‹ vor und im 18. Jahrhundert, sowie dem zunehmenden Verlangen nach der wissenschaftlichen Vermessung der Alpen. Das Gedicht verknüpft Hallers Sitten- und Luxuskritik an den Berner Patrizier*innen mit der (theologisch geprägten) Erforschung der Schweizer Alpenbewohner*innen und der aufblühenden systematischen Botanik. Letztere diente Haller als Grund- und Vorlage für seine Überlegungen zur optimalen Gesellschaftsordnung. Die Freiheit, die er bei den Schweizer Alpenvölkern zu erkennen glaubte, führte er auf ihren natürlichen Lebensstil zurück. Da die Natur vernünftig eingerichtet sei, wäre ein Leben nach ihren Grundsätzen ebenfalls vernünftig und schöpfe seine Freiheit gerade daraus, dass es sich aufs Nötige beschränke. Die Unfreiheit entstehe aus dem Besitz vieler Güter, die Neid und Geiz provozieren und so zu Sorgen führen würden. Die karge Natur der Alpen verunmögliche durch ihre Beschränktheit, der Verlockung des Luxus zu verfallen, und zwinge ihre Bewohner*innen, der Ordnung und den Zyklen der Natur zu folgen, was wiederum ihre Freiheit und Tugendhaftigkeit mit sich bringe. Haller zog so die Autorität der Natur (die von Gott eingerichtet sei) als Begründung für seine politischen Ansichten herbei und übertrug die natürliche Ordnung auf die Gesellschaft.

Hallers Pflanzengemälde in den Versen 381 bis 400 verbindet, vermischt und inszenierte alle genannten Motive des Gedichts. Die Pflanzengesellschaft gerät scheinbar zufällig ins umherschweifende Blickfeld des Wanderers, der sich an der Schönheit der alpinen Landschaft erfreut. Das Gemälde ist jedoch hochgradig konstruiert und symbolisch aufgeladen. Im Gedicht werden anthropomorphe Zuschreibungen mit botanischen Beschreibungen kombiniert. Der blaue Enzian zum Beispiel erscheint als sich verbeugender Diener, der seinen Platz in der Hierarchie einnimmt und wird gleichzeitig als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt mit seinen botanischen Merkmalen beschrieben.

Abb. 6: »Smaragd und rosen blühn, auch auf zertretner heide« (V. 399). Getrocknetes Exemplar einer bewimperten Alpenrose (Rhododendron hirsutum). Die mehrjährigen Pflanzen mit den verholzten Stämmchen tragen rosafarbene Blüten und dem Buchsbaum ähnliche, ledrige, grüne Blätter.

Die sieben beschriebenen Arten müssen also symbolisch und zugleich naturalistisch verstanden werden. Die Pflanzen werden als botanische Arten beschrieben, in den Fusszeilen mit Namen ausgewiesen und im Enumeratio nach wissenschaftlichen Standards klassifiziert und noch detaillierter dargestellt. Zugleich werden sie von Haller aufgrund ihres seltenen Vorkommens in den kargen Hochalpen – deren beschwerliche Lebensbedingungen im Gedicht bereits ausgeführt wurden – ausgewählt und mit idealisierten Charaktereigenschaften aufgeladen: Die Pflanzen wissen um ihren angemessenen Platz in der Gesellschaft, verdanken ihre aussergewöhnliche Schönheit dem harten, aber zufriedenstellenden Leben, das sie nicht üppig, sondern am Nutzen orientiert wachsen lässt. Alle alpinen Wildpflanzen müssen ihre Kräfte vernünftigerweise auf das Grundsätzliche – das Überleben – richten. Die Pflanzen des Gedichts werden zu moralischen Vorbildern stilisiert und die Begründung der Moral zugleich auf ihre helvetisch-alpine Natur zurückgeführt. Die Luxus- und Sittenkritik an den Städter*innen wird obsolet. Die natürliche moralische Ordnung, die der botanische Wanderer in den Pflanzen in Die Alpen zu erkennen behauptet, ist in Wirklichkeit eine Inszenierung des Universalgelehrten Albrecht von Haller, der geschickt verschiedene Diskurse seiner Zeit zu verknüpfen wusste.

Alina Ragoni hat 2018 den Bachelor in Umweltnaturwissenschaften (ETH Zürich) abgeschlossen und studiert gegenwärtig im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens«, ebenfalls an der ETH Zürich.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Aus Albrecht von Haller: Herrn Albrechts von Haller […] Gedicht von der Schönheit und dem Nuzen der schweizerischen Alpen etc: vermehrt und mit Vignetten gezieret / Ode sur les Alpes; hg. von David Herrliberger, Bern: gedrukt bey Brunner und Haller (1773), Universitätsbibliothek Bern, BeM ZB SAC alt 666, n.p.

Abb. 2: Album mit Alpenpflanzen, wie es an Touristen im Engadin in verschiedenen Aufmachungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verkauft wurde, Foto: Reto Nyffeler, Vereinigte Herbarien der Universität und ETH Zürich Z+ZT.

Abb. 3: Aus Albrecht von Haller: D. Albrechts von Haller […] Versuch schweizerischer Gedichte, Bern: Beat Ludwig Walthard (10. Aufl. 1772), Universitätsbibliothek Bern, BeM ZB SAC alt 664, S. 54.

Abb. 4: Album mit Alpenpflanzen, wie es an Touristen im Engadin in verschiedenen Aufmachungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verkauft wurde, Foto: Reto Nyffeler, Vereinigte Herbarien der Universität und ETH Zürich Z+ZT.

Abb. 5: Aus Albrecht von Haller: Herrn Albrechts von Haller […] Gedicht von der Schönheit und dem Nuzen der schweizerischen Alpen etc: vermehrt und mit Vignetten gezieret / Ode sur les Alpes; hg. von David Herrliberger, Bern: gedrukt bey Brunner und Haller (1773), Universitätsbibliothek Bern, BeM ZB SAC alt 666, zwischen S. 50 und 51, n.p.

Abb. 6: Album mit Alpenpflanzen, wie es an Touristen im Engadin in verschiedenen Aufmachungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verkauft wurde, Foto: Reto Nyffeler, Vereinigte Herbarien der Universität und ETH Zürich Z+ZT.

Literatur
  1. 1

    Vgl. Urs Boschung: »Lebenslauf«, in: Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): Haller: Leben – Werk – Epoche, Göttingen: Wallstein (2009), S. 15–82, hier S. 26ff.

  2. 2

    Vgl. Otto Sonntag, Hubert Steinke: »Der Forscher und Gelehrte«, in: Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): Haller: Leben – Werk – Epoche, Göttingen: Wallstein (2009), S. 317–346, hier S. 319.

  3. 3

    Vgl. Urs Boschung: »Haller botaniste et poète: A la découverte des Alpes«, in: Jean-Claude Pont: Une cordée originale, Chêne-Bourg: Georg (2000); Eric Achermann: »Dichtung«, in: Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): Haller: Leben – Werk – Epoche, Göttingen: Wallstein (2009), S. 121–155.

  4. 4

    Vgl. Eric Achermann: »Dichtung«, in: Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): Haller: Leben – Werk – Epoche, Göttingen: Wallstein (2009), S. 121–155.

  5. 5

    Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: »Die Alpen Albrecht von Hallers: Landschaftsgemälde, wissenschaftliche Hypothesenbildung und verborgene Theologie«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 9–29, hier S. 13–14.

  6. 6

    Vgl. Ann B. Shteir: »Albrecht von Haller’s Botany and ›Die Alpen‹«, in: Eighteenth-Century Studies 10 (1977), hier S. 181.

  7. 7

    Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: »Die Alpen Albrecht von Hallers: Landschaftsgemälde, wissenschaftliche Hypothesenbildung und verborgene Theologie«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 9–29, hier S. 13–14.

  8. 8

    Vgl. Raimund Rodewald: »Landschaftswahrnehmung zu Hallers Zeiten und heute«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 37–48, hier S. 42ff.; Patrick Stoffel: Die Alpen: Wo die Natur zur Vernunft kam, Göttingen: Wallstein (2018), hier S. 90ff.

  9. 9

    Vgl. Gerrendina Gerber-Visser, Martin Stuber: »Brachliegende Ressourcen in Arkadien: Das Berner Oberland aus der Sicht Albrecht von Hallers und der Oekonomischen Gesellschaft Bern«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 61–83, hier S. 65.

  10. 10

    Vgl. Raimund Rodewald: »Landschaftswahrnehmung zu Hallers Zeiten und heute«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 37–48, hier S. 42ff.; Vgl. Patrick Stoffel: Die Alpen: Wo die Natur zur Vernunft kam, Göttingen: Wallstein (2018), hier S. 90ff.

  11. 11

    Vgl. Raimund Rodewald: »Landschaftswahrnehmung zu Hallers Zeiten und heute«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 37–48, hier S. 38 und S. 44ff.

  12. 12

    Diese wie auch alle folgenden zitierten Verse stammen aus: Albrecht von Haller: D. Albrechts von Haller […] Versuch schweizerischer Gedichte, Bern: verlegt Beat Ludwig Walthard (10. Aufl. 1772), Universitätsbibliothek Bern, BeM ZB SAC alt 664.

  13. 13

    Vgl. Patrick Stoffel: Die Alpen: Wo die Natur zur Vernunft kam, Göttingen: Wallstein (2018), S. 90ff.

  14. 14

    Vgl. Thomas Maissen: »Als die armen Bergbauern vorbildlich wurden: Ausländische und schweizerische Voraussetzungen des internationalen Tugenddiskurses um 1700«, in: André Holenstein, Béla Kapossy, Danièle Tosato-Rigo, Simone Zurbuchen (Hg.): Reichtum und Armut in den schweizerischen Republiken des 18. Jahrhunderts, Genf: Slatkine (2010), S. 95–220, hier S. 106ff.; Patrick Stoffel: Die Alpen: Wo die Natur zur Vernunft kam, Göttingen: Wallstein (2018), S. 94.

  15. 15

    Vgl. Albrecht von Haller, Aurélie Luther, Claire Jaquier, Laure Chappuis Sandoz, Luc Lienhard: Premier voyage dans les alpes et autres textes (Travaux sur la Suisse des Lumières, Vol. 2), Paris: Champion (2008).

  16. 16

    Albrecht von Haller: D. Alberti Haller [...] Enumeratio methodica stirpium Helvetiae indigenarum: qua omnium brevis descriptio et synonymia, compendium virium medicarum, dubiarum declaratio, novarum et rariorum vberior historia et icones continentu [...], Gottingae: Abrami Vandenhoek (MDCCXLII. [1742]), ETH-Bibliothek Zürich, Rar 10303.

  17. 17

    Vgl. Jean-Marc Drouin, Luc Lienhard: »Botanik«, in: Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): Haller: Leben – Werk – Epoche, Göttingen: Wallstein (2009), S. 292–314.

  18. 18

    Dieser und die folgenden in Klammern gesetzten, kursiven Gattungs- und Artnahmen entsprechen der heutigen Klassifikation. Für die wissenschaftlichen Namen nach Hallers Klassifikation siehe: Albrecht von Haller: D. Albrechts von Haller […] Versuch schweizerischer Gedichte, Bern: Beat Ludwig Walthard (10. Aufl. 1772), Universitätsbibliothek Bern, BeM ZB SAC alt 664, Fussnoten zu den Versen 318–400.

  19. 19

    Barbara Mahlmann-Bauer: »Die Alpen Albrecht von Hallers: Landschaftsgemälde, wissenschaftliche Hypothesenbildung und verborgene Theologie«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 9–29, hier S. 25ff.

  20. 20

    Vgl. Elias Landolt, Hans Sigg, Rosmarie Hirzel: Unsere Alpenflora, Bern: SAC-Verlag (7. Aufl. 2003).

  21. 21

    Vgl. auch Barbara Mahlmann-Bauer: »Die Alpen Albrecht von Hallers: Landschaftsgemälde, wissenschaftliche Hypothesenbildung und verborgene Theologie«, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 9–29, hier S. 15–16.

  22. 22

    Vgl. Claudia Profos: »Literaturkritik«, in: Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): Haller: Leben – Werk – Epoche, Göttingen: Wallstein (2009), S. 182–198, hier S. 195ff.

  23. 23

    Vgl. William B. Ashworth Jr.: »Natural History and the Emblematic World View«, in: David C. Lindenberg, Robert S. Westman (Hg.): Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press (1990), S. 303–332, hier S. 304ff.

  24. 24

    Vgl. Claudia Profos: »Literaturkritik«, in: Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): Haller: Leben – Werk – Epoche, Göttingen: Wallstein (2009), S. 182–198, hier S. 195ff.