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Was ist neu an der New Economy? Eine Spurensuche
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Anne-Christine Schindler

Cyborgs vs. Bienen: Subjekt und Körperlosigkeit in der New Economy

In den 1980er- und 1990er-Jahren beschäftigten sich viele Theoretiker*innen mit den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Technologisierung. So auch die Tech-Feministin Donna Haraway und der libertäre Wired-Redakteur Kevin Kelly: Beide erkannten eine Verschiebung von einer alten hierarchischen zu einer neuen vernetzten Gesellschaft. Ihre Visionen sind ähnlich – und doch grundverschieden. Eine Gegenüberstellung.

Auf dem Titelbild des Time Magazine stösst ein Roboter eine Schubkarre mit einem Fabrikgebäude vor sich her. »The New Economy« steht darüber. Die Fabrikschlote rauchen, der Roboter grinst – ein Computer in Menschengestalt, ein Cyborg, sein Brustkorb zeigt den Börsenkurs an.

Das war im Mai 1983. In den Jahren zuvor hatte der Computer eine Umdeutung erfahren: Spätestens mit dem Personal Computer vom IBM war er vom Grossrechner zum Konsumprodukt geworden. Während er so seinen Weg auf immer mehr Schreibtische fand, wurde der sogenannte Mikrocomputer zum Medium einer neuen Wirtschaftsform, die das alte fordistische Modell des Industriekapitalismus abzulösen schien.

Das Time-Cover ist eine frühe Spur dieses ökonomischen Diskurses, der einer ›Old Economy‹ eine ›New Economy‹ entgegenstellte. Gegen die von grauen Anzugträgern und rauchenden Fabrikhallen gefüllte Vergangenheit schien diese New Economy so bunt und verspielt wie der Roboter in seinen Bauklotzfarben: Hierarchien wurden flacher, die Berufswelt vernetzter und langfristige Arbeitsverhältnisse zu projektbasierten Kurzzeitjobs. Arbeit wurde zum Spiel, die Firma zum Organismus und die Welt zum computerbasierten Netzwerk: eine digitale Utopie.

In den späten 1980er- und im Laufe der 1990er-Jahre wurde diese Utopie von Autor*innen beschworen, die sich alle im Umfeld des Santa Fe Institute (SFI) in New Mexico, USA, bewegten. Sie interessierten sich für komplexe Systeme und künstliches Leben und stellten fest, dass die Grenzen zwischen Mensch und Maschine immer mehr verschwammen. Aus diesen Erkenntnissen etablierten sie einen Komplexitätsdiskurs, aus dem die Theorie der Complexity Economics hervorging, die die Wahrnehmung der New Economy wiederum wesentlich prägte.

In der sich zunehmend vernetzenden digitalen neuen Welt bot die Complexity Economics Orientierung: Sie setzte die Wirtschaft mit einem Ökosystem gleich und theoretisierte sie so als ein sich selbst organisierendes adaptives System. Ein wichtiger Vertreter dieses Denksystems war (und ist) Kevin Kelly, der als Mitbegründer und Redakteur des libertären Tech-Magazins Wired massgeblich zu seiner Verbreitung beitrug.1 In seinem Buch Out of Control entwarf er 1992 die kybernetische Vision einer »neobiologischen Zivilisation«, einer über Computer hochvernetzten Gesellschaft, in der Menschen und Maschinen zu einem einzigen, lebendigen System verschmelzen. Für Kelly bargen Ökosysteme einen »Schatz an [...] Metaphern, Einblicken und Modellen.«2 Seine Vision erklärte er deshalb mit der Denkfigur des Bienenschwarms, dem hive mind. Der hive mind ist ein Paradebeispiel für eine Vision der Netzgesellschaft, in der Körper und Subjekt verschwinden. Ihm stelle ich ein anderes theoretisches Konzept gegenüber, das auf demselben diskursiven Raster beruht und doch grundverschieden ist. Donna Haraways Cyborg (1985), wie der hive mind ein kybernetischer Organismus, wurde in den 1990er-Jahren als Denkfigur aufgegriffen, um Kritik an Visionen wie jenen von Kelly zu üben.

Sowohl Haraway als auch Kelly stellten einen Bruch fest, eine Verschiebung der alten industriellen in eine neue Netzgesellschaft. Aber während Kelly eine exklusive Welt entwirft, in der sich digitale Eliten im virtuellen Raum vernetzen – was Arthur Kroker und Michael A. Weinstein 1994 als »virtual class« theoretisierten –,3 analysiert Haraway die Technologisierung aller Lebensbereiche aus einer intersektionalen Perspektive. Auch ihre Cyborg bewegt sich im Netz, aber sie ist die Antithese zum hive mind, weil sie Körperlichkeiten – und damit unterschiedliche soziale Realitäten – fest im Blick behält.

Abb. 1: Als 1983 diese Ausgabe des Time Magazine erschien, fing die Rede von einer »New Economy« gerade an.

Komplexität wird zur ökonomischen Disziplin

Die Kybernetik war ein dominantes intellektuelles Paradigma der Nachkriegsära; als Kontaktsprache verband sie Disziplinen wie Mathematik, Ingenieurswissenschaften, Biologie und Soziologie.4 Der Historiker und Ökonom Philip Mirowski theoretisierte die Wissenschaften, die so entstanden, später als »cyborg sciences«.5 Sowohl Haraway, die sich als promovierte Zoologin mit systemtheoretischem Denken in der Biologie auseinandergesetzt hatte, als auch Kelly, der früh von den kybernetischen Visionen des Medientheoretikers Marshall McLuhan beeinflusst wurde, sind in diesem Kontext zu verorten.6 Zudem kamen beide aus einem technophilen gegenkulturellen Umfeld, in dem Technologien als soziale Kräfte gedacht wurden – als tools, mit denen sich soziale Realitäten schaffen und formen liessen.

Im Gegensatz zu Haraway begann sich Kelly im Lauf der 1980er-Jahre aber in einer Geschäftswelt zu vernetzen, in der umgekehrt ein Interesse an gegenkulturellen Idealen aufkam. Richard Barbrook und Andy Cameron bezeichneten diese Synthese von gegenkulturellem Utopismus und Neoliberalismus 1995 als »kalifornische Ideologie«.7 Der Medientheoretiker Fred Turner beschreibt die Verflechtung dieser beiden Welten als »a complex dance«: Vertreter*innen der Gegenkultur wie Kelly vermischten eine kybernetische, in der Forschungskultur des Kalten Krieges herangewachsene Denk- und Arbeitskultur – kollaborativ, interdisziplinär und projektbasiert – mit ihren gegenkulturellen Idealen einer hierarchiefreien Gemeinschaft. So bewirkten sie eine Wahrnehmungsverschiebung: Die kybernetische Systemrhetorik verlor ihre Kalter-Krieg-Konnotation einer automatisierten, entindividualisierten Welt, in der Organismen funktionieren wie Maschinen. In einer neuen metaphorischen Sprache bekam sie so etwas wie eine gegenkulturell legitimierte Färbung, in der Maschinen funktionieren wie Organismen: hierarchiefrei, autonom und vernetzt. Über zwischen Wissenschaft und Wirtschaft angesiedelte Austauschforen fand diese libertäre Rhetorik Eingang in eine sich zunehmend digitalisierende Geschäftswelt.8

Das SFI war ein solches Austauschforum. Ab Mitte der 1980er-Jahre und bis zur Jahrtausendwende war es ein einflussreicher Think Tank, an dem Natur- und Sozialwissenschaftler*innen künstliches Leben erforschten – gesponsert von Konzernen, die die am SFI extrahierten Prinzipien des Lebens in ihre Geschäftspraxis umsetzen wollten.9 Aus dem SFI ging das Konzept von komplexen adaptiven Systemen hervor; es basierte auf kybernetischem Systemdenken, das technologischen, sozialen, physikalischen und biologischen Kreisläufen dieselben Muster einschrieb und sie so vergleichbar machte.10

Die computerisierte »Netzwerkökonomie« und der selbstregulierende Bienenschwarm waren für Kelly im Prinzip dasselbe.

›Komplexität‹ als wissenschaftlicher Begriff hat eine lange Geschichte, die eng mit der wachsenden Rechenleistung von Computern verknüpft ist, dank der sich immer grössere Datenmengen verarbeiten liessen. Seit sich in den 1940er-Jahren die Kybernetik als neues wissenschaftliches Paradigma etabliert hatte, war ›komplex‹ zu einer häufigen Zuschreibung von biologischen und sozialen Systemen geworden. In den 1970er-Jahren fand das Komplexitätskonzept Eingang in die politische Rhetorik. Ökonomen wie Friedrich Hayek argumentierten unter diesem Schlagwort gegen den keynes’schen Interventionismus.11 Aber erst in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren begannen sich komplexe Systeme als eigenständiges Forschungsfeld zu etablieren. Für den Komplexitätsbegriff gab es dabei keine einheitliche Definition. Er fungierte vielmehr als Sammelbecken für verschiedene theoretische Konzepte aus Physik und Biowissenschaften, die komplexe Systeme auszeichneten: Adaptabilität, Selbstorganisation, Vernetzung und Selbstregulierung durch Informationsaustausch.12 »Complexity is almost a theological concept«, schrieb 1989 der Physiker Daniel Stein im Vorwort eines Sammelbandes von Vorträgen, die am SFI über die Sciences of Complexity gehalten worden waren: »Many people talk about it, but nobody knows what ›it‹ really is.«13 Eine grundlegende Annahme setzte sich aber durch: Lebendige Systeme, weil sie evolutionär gewachsen sind, weisen den höchsten Komplexitätsgrad von allen Systemen auf.14

Über das SFI fand diese Annahme ihren Weg in verschiedene Disziplinen. Mitte der 1980er-Jahre wandte sich der Citibank/Citicorp-CEO John Reed an das SFI. Er schlug vor zu untersuchen, wie Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften und der Computertechnologie zum Verständnis weltweiter Kapitalflüsse beitragen könnten. In der Folge sponserte Citibank/Citicorp zwei Workshops, über die das SFI den Bericht The Economy as an Evolving Complex System herausgab. An diesen Workshops synthetisierte sich ein neues ökonomisches Wissen, das sich in den folgenden Jahren parallel zur Komplexitätstheorie weiterentwickelte. Im Laufe der 1990er-Jahre wurde es als Complexity Economics bekannt.15 Im Gegensatz zur neoklassischen Theorie konzeptualisiert die Complexity Economics den Markt nicht in einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, sondern als komplexes adaptives System – wie Ökologien oder das Immunsystem. Über das SFI wurden ökologische Kreisläufe so zur Deutungsvorlage für ökonomische Vorgänge; eine biologisierte Netzmetaphorik fand Eingang in den ökonomischen Diskurs.

Biologische Metaphern im ökonomischen Diskurs gibt es, seit sich die Ökonomie im 18. Jahrhundert als eigenständige Disziplin etabliert hat.16 Neu an der Complexity Economics war, dass in ihr das neoklassische Subjekt – ein Produkt der Aufklärung – verschwand. Die Neoklassische Theorie mit ihren Grundannahmen von rationalen Akteur*innen und ihrem Gleichgewichtsdenken konnte die Dynamiken der zunehmend vernetzten und unüberschaubaren New Economy nicht erklären. Mit der neuen biologisierten Netzmetaphorik liessen sie sich besser erfassen. Akteur*innen wurden so zu blossen Knotenpunkten im Netz. In diesem Sinne, stellte der Wirtschaftsanthropologe Bill Maurer Mitte der 1990er-Jahre fest, war das »Subjekt« der Complexity Economics posthuman.17

Die Wirtschaft wurde also als so komplex wahrgenommen, dass menschliche Akteur*innen sie nicht mehr überblicken konnten. Um im unvorhersagbaren Markt zu überleben, so die Lehre der Complexity Economics, mussten Konzerne so flexibel und anpassungsfähig werden wie biologische Systeme.18 Manche Autor*innen gingen so weit, dass sie die Weltwirtschaft nicht bloss mit einem biologischen System verglichen, sondern sie als biologisches System wahrnahmen.

Das Geborene und das Gemachte

Einer dieser Autor*innen war Kevin Kelly. 1987 nahm er an der ersten Artificial Life Conference teil, die das SFI gemeinsam mit Apple sponserte. Für Kelly war diese Konferenz wegweisend. Er sah virtuelle Fischschwärme, die sich aus eigenem Zutun zu vermehren schienen; künstliche Blumen, die in den Bildschirmen wuchsen wie echte – alle sehr ähnlich und doch keine gleich –; und digitale Vögel, die sich ohne vorprogrammierte Flugbahnen in einem dynamischen Schwarm bewegten. All dem schien ein universelles Muster zugrunde zu liegen: Aus ein paar wenigen programmierten Inputs entwickelte sich ein Emergenzverhalten, das diesen künstlichen Systemen Leben einzuhauchen schien.19 Wenn sich lebendige Systeme in ihrer ganzen Komplexität am Computer simulieren liessen, wo verlief dann die Grenze zwischen Organismus und Maschine?

Abb. 2: Micro Sisters (1988) setzte sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Alltag von Frauen auseinander.

Kelly verarbeitete diese Eindrücke in einem Buch. 1992 erschien Out of Control: The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World. Darin spitzte er die biologisierte Metaphorik zu: »Die Sphäre des Geborenen – alles, was Natur ist – und die Sphäre des Gemachten – alles, was vom Menschen konstruiert ist – werden eins.«20 Auf den ersten Blick liest sich das wie Donna Haraways Cyborg Manifesto. Auch Haraway geht davon aus, dass die Hightech-Kultur den alten Dualismus zwischen Maschine und Organismus auflöst.21 Die Mikroelektronik vermittelte eine grundlegende Verschiebung in der Wahrnehmung des Körpers: Organismen, beobachtete Haraway, hörten auf als Wissensobjekte zu existieren. Sie wurden als biotische Komponenten, als kybernetische Kommunikationssysteme, rekonzeptualisiert.22 Die Übermittlung von Information rückte in den Mittelpunkt, während die Gefässe, die sie übermittelten, austauschbar wurden. Im Juli 1978 kam das erste Retortenbaby zur Welt;23 im Dezember 1982 wurde in einem Spital in Utah das erste künstliche Herz eingesetzt;24 im Oktober 1984 wurde einem Säugling ein Pavianherz transplantiert.25 Man begann, künstliches Leben zu erforschen und am Computerbildschirm zu simulieren. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine wurden immer unschärfer.

Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Haraway und Kelly, den ich im Folgenden aufzeigen möchte: Während Haraway ihre Cyborg nutzte, um alle die moderne Weltwahrnehmung prägenden Dualismen produktiv zu dekonstruieren und dabei die Handlungsspielräume des Subjekts auszuloten, löste Kelly nur den Dualismus zwischen Organismus und Maschine auf. Er schuf ein neues, technodeterministisches Kulturmodell, eine neobiologische Netzkultur – und verlor dabei das Subjekt aus den Augen. Für Haraways Analysekategorien, die Interaktionen von Klasse, Ethnizitäten und Sexualitäten betrachtet, blieb er deshalb blind.26

Der hive mind als (organischer) Cyborg

Als Out of Control erschien, hatten mit NCSA Mosaic und bald darauf mit Netscape Navigator die ersten kommerziell erfolgreichen Browser die Welt immer schneller zu vernetzen begonnen. Lichtsignale in Glasfaserkabeln komprimierten Raum und Zeit; die Dotcom-Blase wuchs, die New Economy boomte. Die »Komplexität der Computer und der vom Menschen geschaffenen Systeme«, schrieb Kelly, habe »die Komplexität lebendiger Dinge erreicht.«27 Eine so grosse Komplexität, dass der Mensch unmöglich die Kontrolle über diese Systeme behalten konnte.

Über zwischen Wissenschaft und Wirtschaft angesiedelte Austauschforen wie das SFI fand eine libertäre Rhetorik Eingang in die sich zunehmend digitalisierende Geschäftswelt.

Kelly versuchte Orientierungshilfe zu bieten. Der Schlüssel dazu lag für ihn in der »Logik des Bios«, der sich »aus der Biologie extrahieren« und auf alle komplexen Systeme anwenden lasse.28 Konzerne, Computerviren, die Weltwirtschaft, Softwareprogramme und ein Ameisenhaufen – alle diese Systeme waren für Kelly lebendige Organismen, die nach demselben Muster funktionierten, dem am SFI popularisierten Komplexitätsdenken. Im zweiten Kapitel von Out of Control beschwört er die Metapher eines Bienenschwarmes herauf. Zusammengesetzt aus einzelnen, dummen Bienen und sich doch als Ganzes durch die Luft bewegend, ist sein hive mind ein sich im Flugprozess selbst regulierender, kybernetischer Organismus:

»Das Wunder des ›Denkens im Schwarm‹ [hive mind, A.S.] besteht darin, daß keiner einer Steuerung unterliegt und dennoch eine unsichtbare Hand regiert, eine Hand, die sich aus äußerst dummen Gliedern erhebt. Das Wunder heißt: ›Mehr‹ ist anders. Um aus einem Insektenorganismus den Organismus einer Kolonie zu erzeugen, müssen lediglich die Insekten vervielfacht werden, damit es viel, viel mehr von ihnen gibt und damit sie miteinander kommunizieren.«29

Um dieses ›Mehr‹ zu strukturieren, gebe es »zwei extreme Formen«. Auf der einen Seite die »Uhrwerk-Logik – die Logik der Maschinen«.30 Diese Logik ist sequenziell und Systeme, die nach ihr funktionieren, sind entsprechend kontrollierbar – wie ein Uhrwerk eben, oder wie die Fliessbandproduktion des Modell T von Ford. Der linearen Uhrwerk-Logik stellte Kelly die »Bio-Logik« entgegen. Sie funktioniert netzwerkartig, wie ein Schwarm. Solche Schwarmsysteme – ein Bienenschwarm etwa oder das Internet – nannte Kelly ihrer Lebensähnlichkeit wegen »Vivisysteme«.31 Netzwerke seien »die einzige Organisationsform, die fähig ist, unbefangen zu wachsen oder ohne äußere Lenkung zu lernen«;32 Kelly war sich sicher, dass sich bei künstlichen Gehirnen dereinst eine netzartige Denkstruktur durchsetzen werde, eine Übertragung der Bio-Logik auf das Technologische.33 Gleichzeitig zog er auch den Umkehrschluss: »Zur selben Zeit, da die Logik des Bios in die Maschinenwelt exportiert wird, wird die Logik des Technos ins Leben exportiert.«34 Das Maschinelle aber sei »rezessiv«; am Ende, war sich Kelly sicher, »siegt immer die Bio-Logik«.35

Abb. 3: Wie das Cyborg Manifesto drehte sich Neue Verhältnisse in Technopatria (1983) um die gegenderten »social relations of science and technology«.

Was Kelly in Out of Control prophezeite, war die »neobiologische Zivilisation«:36 eine Cyborggesellschaft, modelliert auf einem Computernetzwerk. Das Internet, schrieb Kelly, habe die Welt auf die Netzlogik umgepolt.37 Auch die Wirtschaft sei im Begriff, zu einer »Netzwerkökonomie« zu werden.38 Wie das Internet und wie die neobiologische Zivilisation konzeptualisierte Kelly auch den Markt als Vivisystem: Vernetzt und anpassungsfähig. Out of Control liest sich wie die Beschreibung der New Economy als Quasiorganismus, in der alles zu einem organischen Ganzen wird:

»Stärker netzwerkgestützte ›flexible Fabriken‹ werden in der Lage sein, mit stärker hin und her wandernden Ressourcen umzugehen, indem sie anpassungsfähige Maschinen einsetzen […]. Alle Technologien der Anpassung, wie zum Beispiel Netzwerkintelligenz, flexible Zeitkonten, Nischenökonomien und kontrollierte Evolution, rütteln das Organische in den Maschinen wach. Zu einem einzigen Megakreislauf verkabelt, gleitet die Welt des Gemachten beständig hinüber in die Welt des Geborenen.«39

Die computerisierte »Netzwerkökonomie« und der selbstregulierende Bienenschwarm waren für Kelly im Prinzip dasselbe. Indem er den Computer in seine neobiologische Perspektive integrierte, modellierte er Konzerne und Volkswirtschaften als Vivisysteme.40 So naturalisierte (und entpolitisierte) er nicht nur technosoziale Visionen einer neuen Unternehmenskultur, sondern entwarf auch eine möglichst deregulierte – weil selbstregulierende – New Economy.

Die sozialen Verhältnisse der Homework Economy

Wo Kelly die neobiologische Zivilisation prophezeite, sah Haraway Informatics of Domination.41 Die Technisierung des Alltags und der damit verbundene Übergang von einem industriellen in ein postfordistisches, vernetztes Informationszeitalter waren die Geburtswehen ihrer Cyborg. Ähnlich wie Kelly machte sie eine Bewegung von der alten hierarchischen – und in diesem Sinne überschaubaren – Industriegesellschaft hin zu einer unüberblickbaren, polymorphen Netzgesellschaft aus. Die Informatics of Domination trat an die Stelle der alten Hierarchien.

Auch für Haraway waren Kommunikations- und Biotechnologien zentral. Kommunikationstechnologien wie der Computer verbanden für sie die Welt zu einem kybernetischen Schaltkreis. Biotechnologien verwandelten den Organismus in eine biotische Komponente. So wurde auch im Cyborg Manifesto der Körper zu einem kybernetischen Kommunikationssystem, der durch Technologien im polymorphen Informationssystem verschaltet war. Wie bei Kelly verschwammen in Haraways Schaltkreisen die Unterschiede zwischen Maschine und Organismus. Und wie in Out of Control findet im Cyborg Manifesto eine Rückkopplung der Theorie an eine ökonomische Realität statt.42 Haraway bezeichnete die Transformation durch Wissenschaft und Technologien als »neue« industrielle Revolution, denn sie bringe eine neue Weltordnung hervor, wie einst die industrielle Revolution.43 Aber was Kelly Netzwerkökonomie nannte, war bei Haraway nur ein Effekt dieser Neuordnung von Arbeit. Die extreme Mobilität von Kapital und die gleichzeitig entstehende internationale Arbeitsteilung bringe eine globale Arbeiter*innenklasse hervor, neue Sexualitäten und neue Ethnizitäten.44 In ihrem polymorphen Informationssystem lebten also polymorphe Subjekte, die für den Aufbau und Erhalt einer digitalen Infrastruktur körperliche Arbeit verrichteten. Bei Kelly dagegen sind alle Teile des Schwarms gleich; als Ganzes scheint er sich mühelos durch eine virtuelle Welt zu bewegen. Solchen körperlosen Visionen einer New Economy stellte Haraway das Konzept der Homework Economy entgegen:

»A major social and political danger [of the social relations of the new technologies] is the formation of a strongly bimodal social structure, with the masses of women and men of all ethnic groups, but especially people of colour, confined to a homework economy, illiteracy of several varieties, and general redundancy and impotence, controlled by high-tech repressive apparatuses ranging from entertainment to surveillance and disappearance.«45

Die Homework Economy, ein Konzept von Richard Gordon, sollte die Auswirkungen der Computerisierung von Arbeit fassen. Sie war die Antithese zu Alvin Tofflers Bild des Electronic Cottage – was wir heute unter Home Office verstehen – das im ausgehenden 20. Jahrhundert als Möglichkeit der Computerisierung diskutiert wurde.46 Gordon umschrieb mit der Homework Economy die Überschneidung von Heimarbeit, Teilzeitarbeit, der Auslagerung von Arbeit in ausländische Produktionsstätten und Arbeit im informellen Sektor, die die Technologisierung zu einem globalen integrierten System verbunden habe.47 Bei Haraway verwies die Homework Economy über eigentliche Heimarbeit hinaus auf das neue Prekariat der New Economy, die sie umschrieb als »a world capitalist organizational structure […] made possible (not caused by) the new technologies«.48 Die fortschreitende Automatisierung und Dequalifizierung führe zu einer zunehmenden »Feminisierung« – und somit Entwertung – von Arbeit.49 Dauerhafte Anstellungen würden für feminisierte Arbeiter*innen zur Ausnahme;50 plötzlich fänden sich weisse Männer in derselben Situation wie Schwarze Frauen, »[who] have long known what it looks like to face the structural underemployment (›feminization‹) of black men, as well as their own highly vulnerable position in the wage economy.«51

Solche Diskussionen waren nicht neu. Eine linke Auseinandersetzung mit der Umordnung von Produktionsverhältnissen und Arbeit unter dem Schlagwort einer zweiten industriellen Revolution hatte im angelsächsischen Raum ab Mitte der 1970er-Jahre eingesetzt. In diesem Kontext entstand feministische Literatur, die sich spezifisch mit den »neuen Verhältnissen« befasste, die »Technopatria« für Frauen(körper) mit sich brachte. Gerade sie schienen von der Technologisierung, die neue Reproduktionstechnologien hervorbrachte, Alltagserfahrungen veränderte und Arbeitsmärkte umstrukturierte, besonders betroffen.52

1980 veröffentlichte die Conference of Socialist Economists (CSE) Microelectronic Group ein Buch zu den sozialen und ökonomischen Beziehungen des Kapitalismus, das Haraway in der Bibliographie des Cyborg Manifesto aufführt. Revolutionär schien die sogenannte »mikroelektronische Revolution«53 aus Sicht der CSE Microelectronic Group nur für im Buch nicht näher beschriebene Manager zu sein. In Capitalist Technology and the Working Class brachte die Gruppe ihre Angst vor der Technologie als Kontrollsystem zum Ausdruck: »While chips and other parts that make up computer hardware may be neutral […] the functioning system, whether it is a computer system or an assembly line, is not neutral and has been designed in oppressive ways.« Die CSE Microelectronic Group schloss daraus, dass Arbeiter*innen vor der Implementierung von technologischen Systemen über deren Ausgestaltung verhandeln sollten.54

Abb. 4: Women in the Global Factory (1983) folgte Arbeiterinnen von multinationalen Konzernen vom Silicon Valley über die Grenzregion USA-Mexiko und Manila in die Welt.

Donna Haraway griff mit dem Cyborg Manifesto diese Fäden auf und wob ein neues Netz aus ihnen. Zwar liest sich ihre Informatics of Domination wie eine kybernetische Dystopie: Die Kommunikations- und Biotechnologien übersetzen den Körper von einer organischen Einheit in eine funktionale Schaltstelle, die Informationen übermittelt55 – vordergründig genau wie Kellys Bienenteile. Aber im Gegensatz zu Kellys Schwarmmodell hat in Haraways Netzwerken eine Überfülle an Identitäten Platz.56 Mit dem Cyborg Manifesto richtete sie sich gegen den auf einem binären Denken beruhenden »nothing-but-critique approach«, den sie in Teilen der Linken – wohl auch bei der CSE Microelectronic Group – ausmachte. Sie teilte deren Kritik an der Technologisierung zwar, band sie aber in die Netzlogik ein, statt einen Antagonismus zwischen einem technologisierten ›sie‹ und einem organischen ›wir‹ zu konstruieren.57 Im posthumanen Nicht-Subjekt der Postmoderne sah Haraway eine Chance, politische Kollektive zu bilden, ohne dabei auf essenzialistische (binäre) Kategorien wie »Frau« bauen zu müssen. In der Complexity Economics gibt es kein Subjekt mehr, Haraways Cyborg dagegen behält ihre Handlungsmacht, indem sie Identitäten als Affinitäten subversiv denkt und sich immer neu vernetzt. Ihre Rolle ist dabei doppeldeutig: Sie ist selbst ein Produkt der Informatics of Domination, gegen die sie sich aber gleichzeitig wehrt. »The political struggle«, schreibt Haraway, »is to see from both perspectives at once.«58

»real-life cyborgs« verrichten körperliche Arbeit

Dazu setzte sie sich mit sozialen Kontexten an jenen Orten auseinander, wo sich die Cyborg bewegte. Orte, an denen im Zuge der Deindustrialisierung und Technologisierung strukturelle Veränderungen stattfanden: »Our best machines are made of sunshine«, schreibt sie, »they are all light and clean because they are nothing but signals, electromagnetic waves, a section of a spectrum, and these machines are eminently portable, mobile—a matter of immense human pain in Detroit and Singapore.«59

Abb. 5: Microelectronics and Office Jobs (1983), eine Auftragsstudie des ILO, ging davon aus, dass Büroarbeiterinnen zu den von der »elektronischen Revolution« am stärksten Betroffenen gehören würden.

Haraways Text ist (unter anderem) eine Aufforderung, die »real-life cyborgs« nicht zu vergessen – also jene unsichtbaren Arbeiter*innen, die die digitale Infrastruktur bereitstellen. Dafür steht das Bild der »women in the integrated circuit« (Frauen im integrierten Schaltkreis), das sie im Cyborg Manifesto hervorhebt. Es kommt von Rachel Grossman (1980), die damit soziale Realitäten in der Halbleiterindustrie beschrieben hatte. Für ihre Reportage war sie der »global assembly line« von Computerchips nachgereist: Von Kalifornien, wo die Halbleiterrohlinge (wafers) hergestellt wurden, nach Südostasien, wo sie in sogenannten clean rooms von Arbeiter*innen zu Chips geschnitten und unter Mikroskopen mit Halbleitern bestückt wurden, bevor sie zur Weiterverarbeitung zurück ins Silicon Valley oder an andere Produktionsstätten in Asien gingen. Für die schlecht bezahlte Akkordarbeit, die diesen Prozess ausmachte, wurden sowohl in den USA als auch in Asien gezielt junge Frauen eingestellt, die als disziplinierter und einfacher zu kontrollieren galten als Männer. Es war eine angelernte Arbeit ohne Perspektiven, die ausserdem mit teils erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden war. Nach ein paar Jahren am Mikroskop waren die Augen dieser Arbeiter*innen meist so schlecht, dass sie ihre Stelle verloren.60

In den 1990er-Jahren und um die Jahrtausendwende griffen Kritiker*innen der Complexity Economics Haraways Denkfigur der »real-life cyborg« auf. Der MIT-Anthropologe Stefan Helmreich nutzte sie, um die Arbeiter*innen im Silicon Valley sichtbar zu machen. Artificial Life, schrieb er 2001, habe sich über das SFI hinaus zwar nicht als theoretische Disziplin etablieren können. Über SFI-Leute hatte es seinen Weg aber in Consultingfirmen und Bücher und so in eine ökonomische Realität gefunden. Biologische Metaphern, stellte Helmreich fest, strukturierten computergestützte Praktiken wie Online-Investments und -Trading oder Offshoring. Dabei werde diesen Praktiken und den Computern, die sie möglich machten, ein Eigenleben eingeschrieben. Was dabei vergessen ginge, seien die »real-life cyborgs«, die sie herstellten. Helmreich schrieb deshalb über die Produktionsbedingungen im Silicon Valley: Über die Frauen, die in den clean rooms mit Substanzen wie Ethylenglykol in Kontakt kommen, das bei Schwangeren Mutationen des Fötus oder Fehlgeburten auslösen kann. Oder über die meist migrantischen Arbeiter*innen, die unreguliert und unter grossen gesundheitlichen Risiken für Entsorgungsfirmen arbeiten, die den Giftmüll von Unternehmen wie Hewlett-Packard fortschaffen.

Der Punkt, für den sich Helmreich auf Haraway bezog, war simpel: »the activity of the market is linked to the activity of labourers, though not through the transference of a magical substance called ›life‹, but rather, quite simply, through the relations of production that characterize our high-tech post-Fordist age.«61 Diese Arbeit ist körperlich. Trotzdem bleibt sie bis heute meist unsichtbar, im zeitgenössischen Diskurs wie in der Geschichtsschreibung. Das zeigt das Beispiel der clean rooms.

Verklärte Umwelt: clean rooms und Korallenriffe

Clean rooms waren und sind ein fester Bestandteil der Elektronikindustrie. Sie entstanden in den frühen 1960er-Jahren, als die U.S. Air Force zur Entwicklung der Interkontinentalrakete Minuteman ein Forschungsprogramm namens Molecular Electronics eingeführt hatte. In diesem Rahmen griff sie direkt in die Produktionsprozesse der Elektronikhersteller ein, denn um Fehler zu vermeiden, mussten die Produktionsräume absolut steril sein. Die Hersteller führten also sogenannte clean rooms ein, wo die Arbeiter*innen in fortlaufend gefilterter Luft Kittel trugen, um Staub fernzuhalten. Diese Räume waren bald um ein Vielfaches steriler als jedes Spital.62

Bis heute prägen Metaphern wie die Cloud unser Denken, die materielle Grundlagen überschreiben und Körperlosigkeit suggerieren.

Obwohl sich die clean rooms in der Elektronikindustrie schnell durchsetzten, fehlen sie bis auf wenige Ausnahmen in der Historiographie des Mikrocomputers: Dort dominiert ein Narrativ, das den Personal Computer als Erfindung von ein paar verschrobenen Hobbyisten darstellt, die in Garagen im Silicon Valley an ihren Maschinen werkelten. Die Garage steht pars pro toto für die Mikrocomputerindustrie, die so nicht als Industrie, sondern vielmehr als Projekt von Idealisten erscheint.63 Der Mikrocomputer wird so als Lifestyleprodukt dargestellt und diskursiv von seiner industriellen Grundlage abgegrenzt – ein Mythos, der sich bis heute hält.64 Teil dieser Inszenierung ist auch die narrative Transformation des Silicon Valley von einer ehemaligen Provinzidylle zum technisierten Innovationshub. Seine Vorgeschichte – als es noch als Santa Clara Valley bekannt war, bevor ihm in den 1970er-Jahren der Mikrochip aus Silikon seinen neuen Namen gab – wurde und wird in herkömmlichen Computergeschichten oft verklärt. Statt als die industrielle Produktionsstätte, die es schon lange gewesen war, wird es als fruchtbares Tal mit einer florierenden Agrarwirtschaft inszeniert. In solchen idealisierenden Darstellungen, schreibt der Computerhistoriker Nathan Ensmenger, bleiben die Unterwassersysteme unsichtbar, die die Verschmutzung der Konservenfabriken aus dem »Valley of Dreams« in die Bucht von San Francisco trugen und die später die Schadstoffe der Halbleiterindustrie mit sich führten. Auch die mexikanischen Arbeitsmigrant*innen fehlen, die einst in den Quecksilberminen von Santa Clara gearbeitet hatten und später wesentlich zum Wachstum der Halbleiterindustrie in der Region beitrugen.65 Das Nicht-Schreiben solcher Geschichten von Arbeit und Umwelt verdeckt die materiellen Grundlagen und sozialen Ungleichheiten der PC-Industrie bis heute: Das Silicon Valley-Narrativ ist clean.

Aber nicht nur die Hardware der New Economy wurde (und wird) auf diese Weise verklärt. Der Wirtschaftsanthropologe Bill Maurer analysierte 1995 Broschüren von karibischen Staaten, die Investor*innen ihre Vorzüge als Offshore-Finanzplätze anpriesen. Sie zeigten keine Computer und Techniker*innen, sondern Sandstrände, Flamingos und Korallenriffe. Diese Prospekte bewarben also virtuelle Räume – Knotenpunkte im internationalen Finanznetzwerk – indem sie auf reale Räume verwiesen. Die wiederum wurden als naturbelassene Ökosysteme inszeniert; »just at the moment when the world is rendered virtual and the subjects and objects of modernity, remade in the image of the adaptive nonlinear network, are dispersed into complex networks of power.« Es ist eine doppelte Verschiebung, die Maurer feststellt: »The ›real‹ world enters into discourse just as it dematerializes and something else appears in its ›place.‹«66

Zum Schluss: the cloud is concrete

1998 erschien Kevin Kellys zweites Buch: New Rules for the New Economy: 10 Radical Strategies for a Connected World wurde eines der meistgelesenen Unternehmenshandbücher der 1990er-Jahre.67 Mit der ersten Strategie – Embrace the Swarm – beschwor er den hive mind wieder herauf. Kelly stellte sich eine Zukunft vor, in der alles verchipt und miteinander vernetzt sein würde. Wer in der New Economy Erfolg haben wolle, müsse sich der Logik des Netzes unterwerfen. Aber Kellys hive mind ist ein Schwarmsystem, das aus identischen Bienen besteht: Sie sind alle gleich mobil, gleich vernetzt. So bleiben darin jene Menschen unsichtbar, die nicht zu den mobilen, digitalisierten Eliten gehören, die sich auf dem Spielplatz der New Economy vernetzen. Im ausgehenden Jahrtausend bot seine Theorie Manager*innen so eine ideelle und argumentative Grundlage, Arbeitsprozesse auszulagern, industrielle Prozesse zu automatisieren und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.68

Abb. 6: Silikonchip, Mikroprozessor – »what is the new technology?«, fragte 1979 der 23. Anti-Report des antikapitalistischen und egalitären Journalist*innenkollektivs Counter Information Services (CIS).

Die Gegenüberstellung von hive mind und Donna Haraways Denkfigur der Cyborg ist deshalb produktiv, weil Haraway am gleichen Punkt ansetzt wie Kelly. Ihre Cyborg ist ein Produkt derselben kybernetischen Netzlogik wie der hive mind; und wie das Subjekt der Complexity Economics ist auch sie posthuman, ein kybernetischer Organismus in Rachel Grossmans integriertem Schaltkreis. Der Unterschied ist, dass sie Körperlichkeiten und soziale Realitäten fest im Blick behält. Kellys hive mind ist entpolitisiert, naturalisiert; Haraways Cyborg – im adjektivischen wie im verbalen Sinne – politisiert.

Dieses politische Potenzial behält sie bis in die Gegenwart, denn die biologisierte Metaphorik des kybernetischen Diskurses hat sich darauf ausgewirkt, wie wir die New Economy heute denken. Wo die digitale Infrastruktur sichtbar wird, wird sie als menschenleerer Raum inszeniert, wie die farbenfrohen Rechenzentren von Google. Vor allem aber prägen Metaphern wie die Cloud unser Denken, die materielle Grundlagen überschreiben und Körperlosigkeit suggerieren.

Anne-Christine Schindler studiert Zeitgeschichte und Kulturanalyse im Master an der Universität Zürich.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Anne-Christine Schindler, Illustration des Time-Covers vom Mai 1983 (2021).

Abb. 2: Ingrid Schöll, Ina Küller (Hg.): Micro Sisters. Digitalisierung des Alltags. Frauen und Computer (1988), Cover/Montage.

Abb. 3: Sozialwissenschaftliche Forschung & Praxis für Frauen e.V. (Hg.): Neue Verhältnisse in Technopatria: Zukunft der Frauenarbeit (1983), Cover/Montage.

Abb. 4: Annette Fuentes, Barbara Ehrenreich: Women in the Global Factory (1983), Cover/Montage.

Abb. 5: Diana Werneke: Microelectronics and Office Jobs. The Impact of the Chip on Women's Employment (1983), Cover/Montage.

Abb. 6: CIS Counter Information Services (Hg.): The New Technology (1979), Cover.

Literatur
  1. 1

    Zum Einfluss von Wired auf die Wahrnehmung der New Economy vgl. Alessandra Biagioni: »Reiche, junge, weisse Nerds: Der ideale Tech-Entrepreneur in Wired«, in diesem Band.

  2. 2

    Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle: Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Mannheim: Bollmann (1997), S. 11. [Orig. Out of Control: The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World, New York: Basic Books (1992)].

  3. 3

    Arthur Kroker, Michael A. Weinstein: Data Trash: The Theory of Virtual Class, New York: St. Martin’s Press (1994).

  4. 4

    Vgl. Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle: Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Mannheim: Bollmann (1997), S. 26f. [Orig. Out of Control: The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World, New York: Basic Books (1992)].

  5. 5

    Philip Mirowski: »Cyborg Agonistes. Economics Meets Operations Research in Mid-Century«, in: Social Studies of Science (1999), S. 685–718, hier S. 685f.

  6. 6

    Vgl. hierzu die Doktorarbeit von Donna Haraway: Crystals, Fabrics and Fields: Metaphors of Organicism in Twentieth-Century Developmental Biology, New Haven, London: Yale University Press (1976), insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Biologen und Systemtheoretiker Paul Weiss in Kapitel 5. Kevin Kelly bezeichnete McLuhan später als »patron saint of Wired«, vgl. hierzu u.a. das Vorwort von Kevin Kelly zu »Stream of Consciousness«, in: Wired (1. Januar 1993), https://www.wired.com/1993/01/paglia/.

  7. 7

    Richard Barbrook, Andy Cameron: »The Californian Ideology«, in: Mute 1/3 (1995), https://www.metamute.org/editorial/articles/californian-ideology.

  8. 8

    Fred Turner: From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago/London: University of Chicago Press (2008 [2006]), Zitat S. 178.

  9. 9

    Ebd., S. 198.

  10. 10

    Stefan Helmreich: »Artificial Life, Inc.: Darwin and Commodity Fetishism from Santa Fe to Silicon Valley«, in: Science as Culture 10/4 (2001), S. 483–504, hier S. 491f.

  11. 11

    Ariane Leendertz: »Das Komplexitätssyndrom: Gesellschaftliche ›Komplexität‹ als intellektuelle und politische Herausforderung in den 1970er-Jahren«, Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (2015) (= MPlfG Discussion Paper 15/7).

  12. 12

    Stephen Wolfram: A New Kind of Science, Champaign, IL: Wolfram Media (2002), S. 1068.

  13. 13

    Daniel L. Steiner: Lectures in the Sciences of Complexity, New York: Addison Wesley (1989) (= Santa Fe Institute Studies in the Sciences of Complexity Lectures). Zitiert nach Philip Mirowski: »Do You Know The Way to Santa Fe? Or, Political Economy Gets More Complex«, in: Steven Pressman (Hg.): Interactions in Political Economy: Malvern after Ten Years, London: Routledge (1996), S. 13–40, hier S. 21.

  14. 14

    Stephen Wolfram: A New Kind of Science, Champaign, IL: Wolfram Media (2002), S. 1068.

  15. 15

    Stefan Helmreich, »Artificial Life, Inc.: Darwin and Commodity Fetishism from Santa Fe to Silicon Valley«, in: Science as Culture 10/4 (2001), S. 483–504, hier S. 491f.

  16. 16

    Philip Mirowski (Hg.): Natural Images in Economic Thought: ›Markets Read in Tooth & Claw‹, Cambridge: Cambridge University Press (1994) (= Historical Perspectives on Modern Economics).

  17. 17

    Bill Maurer: »Complex Subjects: Offshore Finance, Complexity Theory, and the Dispersion of the Modern«, in: Socialist Review 25/3–4 (1995), S. 113–145, hier S. 121–125.

  18. 18

    Stefan Helmreich: »Artificial Life, Inc.: Darwin and Commodity Fetishism from Santa Fe to Silicon Valley«, in: Science as Culture 10/4 (2001), S. 483–504, hier S. 491–494.

  19. 19

    Kevin Kelly: »Artificial Life 4-H Show«, in: ders. (Hg.): Signal: Communication Tools for the Information Age, New York: Harmony Books (1988), S. 13.

  20. 20

    Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle: Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Mannheim: Bollmann (1997), S. 7f. [Orig. Out of Control: The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World, New York: Basic Books (1992)].

  21. 21

    Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century«, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge (1991), S. 149–182, hier S. 178.

  22. 22

    Ebd., S. 164–169.

  23. 23

    »Reproduktionstechnologien weltweit: Internationaler Workshop zu ethnographischem Wissen und der Globalisierung reproduktiver Technologien an der Humboldt-Universität zu Berlin«, http://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/archiv/nr0806/pm_080605_01.

  24. 24

    Peta Owens Liston: »The First Artificial Heart, 30 Years Later«, www.healthcare.utah.edu/healthfeed/postings/2012/12/120212ArtificialHeart30YearsLater.php (2. Dezember 2012).

  25. 25

    Gemeint ist »Baby Fae«. Vgl. Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century«, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge (1991), S. 149–182, hier S. 164f.

  26. 26

    Zu den Analysekategorien von Haraway vgl. Endnote 44.

  27. 27

    Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle: Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Mannheim: Bollmann (1997), S. 8f. [Orig. Out of Control: The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World, New York: Basic Books (1992)].

  28. 28

    Ebd., S. 8f.

  29. 29

    Ebd., S. 25.

  30. 30

    Ebd., S. 8.

  31. 31

    Ebd., S. 37f.

  32. 32

    Ebd., S. 45.

  33. 33

    Ebd., S. 34.

  34. 34

    Ebd., S. 9.

  35. 35

    Ebd., S. 258.

  36. 36

    Ebd., S. 11. Das Buch wurde auch unter folgendem Titel publiziert: Out of Control. The Rise of Neo-Biological Civilization.

  37. 37

    Ebd., S. 285–287.

  38. 38

    Ebd., S. 262.

  39. 39

    Ebd., S. 254. Zu einem alternativen, im Hinblick auf die Automation aber ähnlichen Zukunftsentwurf vgl. die Gedanken des Akzelerationisten Nick Srnicek in der Rezension von Roman Haefeli: »Plattformkapitalismus für technologische Analphabet*innen«, in diesem Band.

  40. 40

    Ebd., S. 10.

  41. 41

    Die Informatics of Domination (IoD) sind eine Denkfigur von Haraway, die die neue technosoziale Weltordnung fasst, die sie im Cyborg Manifesto beschreibt. Haraway umreisst die IoD mit einer Reihe von Verschiebungen; eine rudimentäre Zusammenfassung davon – in Anlehnung an Haraways Begrifflichkeiten – wäre wohl die Technisierung des alten weissen kapitalistischen Patriarchats.

  42. 42

    Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century«, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge (1991), S. 149–182, hier S. 165.

  43. 43

    Ebd., S. 161.

  44. 44

    Ebd., S. 166. Dass Haraway hier von »Sexualitäten« und nicht von »Geschlechtsidentitäten« schreibt, hat folgenden Grund: In ›Gender‹ for a Marxist Dictionary: The Sexual Politics of a Word, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge (1991), S. 127–148 kritisiert sie im Anschluss an Judith Butler das »gender identity paradigm«, das sex als vordiskursive Kategorie konstruiert und in einem dichotomen Denken (Natur vs. Kultur) verhaftet bleibt. Haraway lehnt den theoretischen Begriff »Identität« ab, weil er nicht fähig ist, die viel komplexere Realität zu fassen. Ihre intersektionale Analyse deckt die reduzierte Menge an identitätspolitischen Kategorien auf. Deshalb vernetzt sich Haraways Cyborg nicht über Identitäten, sondern über Affinitäten – ein Begriff, den sie von der Antikriegsbewegung der 1960er- und 1970er-Jahren übernommen hatte. Affinitätsgruppen tun sich um ein geteiltes Interesse zusammen statt um eine starre Identität und formieren sich je nach Zweck immer neu. So lässt sich ein bewusst pluraler Raum konstruieren: Die Cyborg denkt Identitäten (oder eben Affinitäten) nicht strukturell, sondern subversiv.

  45. 45

    Ebd., S. 169.

  46. 46

    Vgl. z.B. Tom Forester: »The Myth of the Electronic Cottage«, in: Futures 20/3 (Juni 1988), S. 227–240.

  47. 47

    Richard Gordon, Linda M. Kimball: »High Technology, Employment and the Challenges to Education«, in: Prometheus 3/2 (1985), S. 315–330.

  48. 48

    Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century«, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge (1991), S. 149–182, hier S. 166.

  49. 49

    Ebd., S. 168.

  50. 50

    Ebd., S. 167.

  51. 51

    Ebd., S. 168. »Schwarze Frauen« und »weisse Männer« sind im Original klein und nicht kursiv geschrieben. Mit meiner Schreibweise markiere ich, dass diese Ausdrücke bei Haraway auf gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten verweisen und nicht eine Hautfarbe oder ethnische Abstammung bezeichnen.

  52. 52

    Sozialwissenschaftliche Forschung & Praxis für Frauen e.V. (Hg.): Neue Verhältnisse in Technopatria: Zukunft der Frauenarbeit, Köln: Eigenverlag (1983) (= beiträge zur feministischen theorie und praxis 9/10). Der Begriff »Technopatria« kommt von Ilse Lenz.

  53. 53

    Begriff von Tom Forester (Hg.): The Microelectronics Revolution: The Complete Guide to the New Technology and Its Impact on Society, Cambridge, MA/London: MIT Press (1981).

  54. 54

    Zit. nach Karen Hossfeld: »Microelecronics: Capitalist Technology and the Working Class (Book Review)«, in: The Review of Radical Political Economics 15/2 (Juni 1983), S. 173–179, hier S. 178.

  55. 55

    Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century«, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge (1991), S. 149–182, hier S. 164.

  56. 56

    Ebd., S. 170.

  57. 57

    Vgl. ebd., S. 165: »I used the odd circumlocution, ›the social relations of science and technology‹, to indicate that we are not dealing with a technological determinism […]. But the phrase should also indicate that science and technology provide fresh sources of power, that we need fresh sources of analysis and political action.«

  58. 58

    Ebd., S. 154.

  59. 59

    Ebd., S. 153.

  60. 60

    Rachel Grossman: »Women’s Place in the Integrated Circuit«, in: Radical America 14/1 (Januar/Februar 1980), S. 29–49.

  61. 61

    Stefan Helmreich: »Artificial Life, Inc.: Darwin and Commodity Fetishism from Santa Fe to Silicon Valley«, in: Science as Culture 10/4 (2001), S. 496f.

  62. 62

    James Ceruzzi: A History of Modern Computing, Cambridge, MA/London: MIT Press (1998) (= History of Computing), S. 180f.

  63. 63

    Zur Musterhaftigkeit der »›two men and a garage‹ creation myths« vgl. Martin Campbell-Kelly, William Aspray, Nathan Ensmenger, Jeffrey R. Yost: Computer: A History of the Information Machine, Boulder, CA: Westview Press (2016 [1996]) (= The Sloan Technology Series), S. 249.

  64. 64

    Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Narrativ vgl. Marlon Rusch: »Urban Games: Ein Startup startet durch«, in diesem Band.

  65. 65

    Nathan Ensmenger: »The Environmental History of Computing«, in: Technology and Culture 59 (2018), S. 7–33, hier S. 26.

  66. 66

    Bill Maurer: »Complex Subjects: Offshore Finance, Complexity Theory, and the Dispersion of the Modern«, in: Socialist Review 25/3–4 (1995), S. 113–145, hier S. 135f.

  67. 67

    Fred Turner: From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago/London: University of Chicago Press (2008 [2006]), S. 15.

  68. 68

    Ebd., S. 207–236.