Æ Æther

Was ist neu an der New Economy? Eine Spurensuche
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Monika Dommann

Die Cloud an der Bahnhofstrasse – eine Einleitung

Seit den 1980er-Jahren geistert das Zukunftsversprechen einer New Economy durch Hochglanzmagazine und die global agierende, mit Börsenkapital ausgestattete Startup-Szene. Ausgehend von Fallstudien zur Schweiz begibt sich Æther #4 auf die Suche nach historischen Spuren dieser jüngsten ökonomischen Umwälzungen – und blickt hinter die glatten Oberflächen der Digitalwirtschaft.

Als Mitte des 19. Jahrhunderts am Endpunkt der ersten Eisenbahnstrecke der Schweiz – von Baden nach Zürich – der Zürcher Hauptbahnhof errichtet worden war, machten sich die Planer an die Gestaltung eines neuen Boulevards. Die Bahnhofstrasse wurde entlang des Fröschengraben-Strässchens vom neuen Bahnhofplatz über den Paradeplatz bis zum Bürkliplatz am See angelegt.1 Am leicht gekrümmten Boulevard und in den Seitenstrassen zogen alsbald Warenhäuser, Geschäftshäuser, Hotels und Banken ein. Das Spielwarenhaus Franz Carl Weber beispielsweise liess sich 1882 an der Bahnhofstrasse nieder. Die Schweizer Post errichtete 1891 hinter der Fraumünsterkirche eine repräsentative Filiale im Stil eines toskanischen Renaissancepalastes – so auch die Zürcher Kantonalbank (ZKB), die sich an der Bahnhofstrasse an der Ecke Talstrasse 1909 einen Neorenaissancepalast bauen liess.

Als sich die Fotografin Lea Della Zassa im Frühling 2021 mit der Kamera auf Spurensuche an die Adressen der ehemaligen Prachtbauten aus dem Fin de Siècle begab, stiess sie auf die Zeichen einer sich ausbreitenden Digitalwirtschaft in einem bis vor kurzem auf Industrie und Dienstleistungen basierenden Stadtbild. In der edelsten Shoppingmeile der Schweiz haben sich zwischen hochpreisigen Modebrands und Banken sogenannte Workspaces niedergelassen, in offenen Räumen, die dem kollaborativen, temporären Arbeiten dienen. Da, wo einst im Neorenaissancepalast der ZKB prunkvolle Schalterhallen und gediegene Schliessfächeranlagen untergebracht waren, sind im Parterre des modernen Ersatzbaus aus den 1960er-Jahren lichtdurchflutete Arbeitsplätze für digitale Nomad*innen eingerichtet worden. Die Plätze können kostenfrei für ein paar Stunden genutzt werden. Zielkundschaft sind gemäss Webseite der ZKB »Start-ups, Studierende sowie Unternehmerinnen und Unternehmer«.2 An den Fenstern sind entsprechende Sinnsprüche angebracht: »Kommt nach der Cloud die Sonne?«, »Können Daten die Welt retten?«, »Kann ich mich in Siri verlieben?« Einige E-Scooter stehen verlassen vor den Fenstern.

Wo noch vor wenigen Jahren das Einkaufseldorado für Kinder Franz Carl Weber residierte, verkauft der Apple Store elektronische Gadgets aus den Labors des Silicon Valley. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie bildeten sich hier häufig lange Schlangen. Markierungen auf den Pflastersteinen sollten die neuen Heimarbeiter*innen – die im Zuge der Pandemie aus den Büros verbannt wurden und nun Homeoffice-Angestellte heissen – an die Abstandsdisziplin beim Anstehen erinnern.

Die Post ist 2016 aus ihrem Renaissancepalast hinter der Fraumünsterkirche ausgezogen. In den ehemaligen Schalterhallen stehen nun die Regale eines Lebensmitteldiscounters, in den oberen Etagen werden von der Firma FlexOffice temporäre Büroräume vermietet (auch als shared spaces). Auch die Beratungsfirma Accenture, die sich unter anderem mit Cloudlösungen, Blockchain, Industry X und Artificial Intelligence beschäftigt, hat sich dort niedergelassen.

Abb. 1: Was ist eigentlich neu an der New Economy? Der Apple Store bringt das Silicon Valley ins althergebrachte Zürcher Geschäftszentrum und vereint alte und neue Formen von Arbeit.

Die Fotografien von Lea Della Zassa fangen Oberflächenphänomene ein, die auch von aufmerksamen Stadtwander*innen beobachtet werden können und die von städtebaulichen und ökonomischen Umschichtungsprozessen zeugen. In Medienberichten ist der Einzug von Unternehmen aus dem Silicon Valley in das durch die Belle Époque geprägte Geschäftszentrum von Zürich immer wieder Thema: Als Google 2017 in die in den 1920er-Jahren modern errichtete Sihlpost einzog, dokumentierten ausschweifende Fotostrecken den Umbau vom Postgebäude zum »Hightech-Tempel« und die Entstehung einer kleinen Google Town in der neuen Europaallee neben den Bahngleisen.3 Und jüngst zirkulierten Gerüchte über Googles geplante Expansion ins alte Bankenviertel und den Einzug ins 1973 von Jacques Schader für IBM gebaute moderne Bürogebäude am General-Guisan-Quai.4

Das Versprechen der New Economy

Der Soziologe Mathias Stuhr hat den Begriff »New Economy« in seiner Studie zur Startup-Szene in Deutschland als Mythos im Sinne von Roland Barthes bezeichnet.5 Die New Economy sei von Beginn weg eine Projektionsfläche gewesen: für die ökonomischen und technischen Erwartungen an das Internet, für die Transformation der Wirtschaft, für neue Formen von Arbeit und für schnellen Reichtum durch den Handel an Aktienmärkten. In den Studien in Æther #4 werden verschiedenartige Spuren eines Wandels sichtbar, wobei die Rede von einer New Economy, wie sie seit den 1980er-Jahren gepflegt wird, hinterfragt werden muss. Um den gegenwärtigen Umbau zu verstehen, müssen wir zurückblicken, mindestens bis an den Anfang der 1980er-Jahre.

Am 30. Mai 1983 zierte die Zeichnung eines humanoiden Roboters, der mit seiner Schubkarre eine kleine Fabrik samt rauchenden Schornsteinen vor sich herschob, das Cover des amerikanischen Time Magazine.6 In der Titelgeschichte war die Rede vom Ende des alten Industriezeitalters in den USA (mit Autos, Schiffen, Stahl und Gummi als Erfolgsgeschichten), das mit dem Beginn einer neuen Ära kontrastiert wurde (mit Mikroelektronik, Laser, Glasfasern, Gentechnologie und Apple-Computern als Zukunftsversprechen).7 Nicht mehr der alte Rostgürtel stand im Fokus der ökonomischen Hoffnung, sondern die neuen High Tech-Zentren entlang der Route 128 um Boston herum, im Silicon Valley in Kalifornien und im Research Triangle Park in North Carolina, einem Technopark zwischen Raleigh, Durham und Chapell Hill.

Die New Economy, eine Projektionsfläche: für die Erwartungen an das Internet, für neue Formen von Arbeit und für schnellen Reichtum an Aktienmärkten.

Vierzehn Jahre später entwarfen Peter Leyden und Peter Schwartz in Wired, dem Hochglanzmagazin der New Economy-Bewegung, die Vision von boomenden Jahrzehnten nach dem Ende des Vietnamkrieges, des Kalten Krieges und den wirtschaftlichen Krisen der 1970er- und 1980er-Jahre.8 Die Vision war im Modus eines konkreten Szenarios formuliert. Historiker*innen würden irgendwann auf die Zeit zwischen 1980 und 2020 als Schlüsseljahre einer fundamentalen Transformation zurückblicken. Als Auslöser dieser Entwicklung wurden die neuen Technologien auserkoren, mittels derer ein neues Ethos der Offenheit, eine globale Zivilisation und ein langanhaltender globaler Boom eingeläutet würden. Was der Menschheit alles an Gutem bevorstünde, sei bereits an der Entwicklung des Personal Computers sichtbar geworden:

»The full impact can be seen in the sweep of decades. In the first 10 years, personal computers are steadily adopted by businesses. By 1990, they begin to enter the home, and the microprocessor is being embedded in many other tools and products, such as cars. By the turn of the century, with the power of computer chips still roughly doubling every 18 months, everything comes with a small, cheap silicon brain. Tasks like handwriting recognition become a breeze. Around 2010, Intel builds a chip with a billion transistors – 100 times the complexity of the most advanced integrated circuits being designed in the late 1990s. By 2015, reliable simultaneous language translation has been cracked – with immediate consequences for the multilingual world.«9

»Great Transformation« 2.0

Was ist aus diesen im Silicon Valley entworfenen, schillernden Ideen und dem Versprechen auf die technologische Zukunft der Ökonomie geworden? Rein technisch betrachtet sind die Szenarien Realität geworden. Doch technologische Entwicklungen sind immer in die Umwelt eingebettet.10 Inzwischen ist klar geworden, dass nicht nur die Entwicklung und Produktion der Computer mit der Freisetzung von Giftstoffen einherging, sondern dass auch der Betrieb von Rechenzentren und Cloud grosse Mengen an Wasser und Energie verbraucht und in die lokalen Ökosysteme eingreift. Und auch die soziale Frage, mitsamt den Arbeitskämpfen um die Organisation und Entlohnung von Arbeit in der Digitalökonomie, ist wieder virulent geworden – entgegen der Rhetorik von Selbstverwirklichung und freiem Unternehmertum in der Startup-Szene und bei den grossen Konzernen der Plattformökonomie.11

Abb. 2: Die ZKB transportiert auf ihrer Fensterfront den ideologischen Gehalt der New Economy.

Die Spurensuche in unserem Forschungsseminar begann in der Schweiz, einem Land, das im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert als Hersteller von Baumwollwaren zu den frühen Standorten einer auf globalen Märkten basierenden Industrialisierung gezählt hatte.12 Uns interessierte die Frage, welche Folgen die neuen Informationstechnologien nach der Krise der 1970er-Jahre und dem Ende des Kalten Krieges auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in der Schweiz hatten. Mit dem Näherrücken der 1990er-Jahre in den Fokus der Geschichtswissenschaft steht nun auch die Erforschung der Geschichte der rechner- und internetbasierten Ökonomien an. Damit einhergehend stellen sich Fragen der Periodisierung und der Begrifflichkeiten: Es ist nämlich fraglich, ob das gängige Narrativ der Transformation der Industrie zu einer Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft13 und schliesslich zu einer sogenannten Digitalen Gesellschaft wirklich empirisch belastbar ist – etwa angesichts der Tatsache, dass die Produktionsstätten der Informationstechnologien in China Fabriken von einer Grösse entstehen liessen, die ihresgleichen im 19. Jahrhundert in Europa suchen.14

Es müssen also Wirtschaftsgeschichte, Unternehmensgeschichte, Technikgeschichte, Mediengeschichte, Geschlechtergeschichte, Stadtgeschichte, Sozialgeschichte und Politikgeschichte – kurz: ein umfassendes Spektrum von historischen Ansätzen zusammengedacht werden. Æther #4 wagt erste Schritte in dieses Unterfangen und sucht nach den Spuren der Infrastrukturen von rechnergestützten Ökonomien, untersucht Standortpolitiken zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, fragt nach Auswirkungen auf die Geschlechterordnung, analysiert Automatisierungsprozesse in unternehmerischen Kontexten und interessiert sich für die Suche nach neuen Geschäftsmodellen unter den Bedingungen der Digitalwirtschaft.15

In unserem Forschungsseminar, das im Herbst 2019 am Historischen Seminar der Universität Zürich begonnen hatte und das während der Pandemie 2020/2021 auf die virtuelle Plattform eines Softwareanbieters aus den USA verlagert werden musste, haben wir uns anhand ausgewählter Fallstudien mit Ideen, Wissensbeständen, materiellen Kulturen sowie sozialen und ökonomischen Praktiken beschäftigt, die allesamt Teil einer (nach Karl Polanyi) »Great Transformation«16 2.0 sind. Ausgelöst wurden die abermaligen umfassenden Umwälzungen von Wirtschaft und Gesellschaft durch technische Innovationen wie Grossrechner, Mikroprozessoren, Personal Computer, Glasfaserkabel oder das Internet.

Abb. 3: Im früheren Hauptsitz der Post werden heute Cloudlösungen angeboten.

Die Frage nach Periodisierungen wird Teil des Projektes einer Historisierung der New Economy sein und sich auch mit den auf kürzere Zeitperioden ausgelegten Gegenwartsdiagnosen der Sozialwissenschaften und ihren Begrifflichkeiten beschäftigen müssen. Mittlerweile liegen nämlich schon viele ambitionierte Gegenwartsdiagnosen und Sozialtheorien vor, die teilweise auch in die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen eingeflossen und Teil der Phänomene geworden sind, die sie beschreiben. Dies trifft etwa auf Manuel Castells zu, der Mitte der 1990er-Jahre den Begriff der »Netzwerkgesellschaft« geprägt hat und dabei früh einen technischen Netzwerkbegriff in die Sozialtheorie eingeführt hat. Castells sieht in der Verarbeitung und Organisation von Informationen das Charakteristikum einer neuen Gesellschaftsstruktur, die in den 1990er-Jahren zur Beschreibung der Phänomene Globalisierung und Digitalisierung grosse Verbreitung fand.17 Aus dem Feld aktueller sozialtheoretischer Auseinandersetzungen ist etwa Nick Srnicek zu nennen, der 2016 einen Essay über den »Plattform-Kapitalismus« geschrieben hat. Er diskutiert das plattformbasierte Geschäftsmodell, das auf Basis von digitalen Infrastrukturen funktioniert, die Interaktion zwischen Individuen und Gruppen ermöglichen, dabei Netzwerkeffekte erzeugen und deshalb für sehr viele Nutzer*innen attraktiv und für Unternehmen deswegen lukrativ werden.18 Oder Shoshana Zuboffs bahnbrechende kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Entstehung der Geschäftsmodelle von Google, Microsoft und Facebook, für die sie 2018 den Begriff »Überwachungskapitalismus« prägte.19 Zuboff verortet den Aufstieg des digitalen Kapitalismus, der auf der menschlichen Erfahrung als Rohstoff für die Verwertung von Verhaltensdaten basiere, im Kontext einer Rückkehr des Marktliberalismus in den 1990er-Jahren. Oder Dan Schiller und Philipp Staab, die 1999 beziehungsweise 2019 mit dem Begriff des »Digitalen Kapitalismus« operierten.20 Philipp Staab argumentiert, dass die digitalen Plattformen eben gerade nicht wie vielfach behauptet zur Dezentralisierung, sondern zu Konzentration von Märkten und zu Monopolen führe.

Verglichen mit diesen kapitalismustheoretisch ambitionierten Beiträgen, die sich mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen der Plattformen beschäftigen, ist der Massstab der folgenden historischen Fallstudien, die sich zwischen dem Silicon Valley und der Schweiz bewegen, kleiner skaliert.21 Das in Anlehnung an Karl Polanyis The Great Transformation formulierte Interesse an einem fundamentalen politischen und ökonomischen Wandel, das auch von Shoshana Zuboff und Philipp Staab für ihre Untersuchungen in Anschlag gebracht wurde, teilen jedoch auch die vorliegenden Untersuchungen. Wenn Karl Polanyi in den 1940er-Jahren konstatierte, dass die Welt des 19. Jahrhunderts zusammengebrochen sei, dann lässt sich dieser Befund heute unter neuen Bedingungen abermals stellen. Dabei geht es um die Frage nach den sozialen und kulturellen Auswirkungen und ökonomischen Folgen von Grossrechnern (seit den 1950er-Jahren), von Mikroprozessoren oder Computerspielen (seit den 1970er-Jahren), von Personal Computern oder Glasfaserkabeln (seit den 1980er-Jahren) oder des Internets (seit den 1990er-Jahren).

Archive der Digitalwirtschaft?

Für die historische Erforschung dieser Entwicklungen ist die Frage nach der Verfügbarkeit von Quellen und Archiven essenziell. Welche Quellen können beigezogen werden? Welche Archive kümmern sich um das Gedächtnis des jüngsten soziotechnischen und sozioökonomischen Wandels?

Abb. 4: Zwischen Modehäusern und Banken finden sich unauffällige Spuren der New Economy.

Ausgehend von unseren wirtschaftshistorischen Interessen und den dabei für Industrie- und Dienstleistungsunternehmen gewohnten Forschungs- und Recherchetraditionen gelangten wir zunächst an die Wirtschaftsarchive. Das Schweizerische Wirtschaftsarchiv (SWA) in Basel verfügt über eine einzigartige Wirtschaftsdokumentation, die Medienberichte, Broschüren und Jahresberichte (auch zu Konzernen wie IBM) aufbewahrt. Die Archivar*innen lieferten uns auch eine Liste von Schweizer Unternehmen (wie Logitech), zu einschlägigen Messen (wie Orbit, Logic, Swissdata) und zu Wirtschaftsverbänden (wie ICTSwitzerland, Swiss Interactive Media and Software Association (SIMSA)) – allein: die Archivierung beschränkt sich bislang auf die klassische Wirtschaftsdokumentation. Weder im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv noch im Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) an der ETH Zürich, wo Bestände zur schweizerischen Wirtschaftsgeschichte, insbesondere auch für die Wirtschaftsregion Zürich, erschlossen werden, sind Unternehmensarchive aus den einschlägigen Branchen der Digitalwirtschaft zu finden. Auch ein Aufruf mittels eines Mailversandes durch den Dachverband der Schweizer Wirtschaft Economiesuisse an die Digitalwirtschaft im Herbst 2019 verlief weitgehend ergebnislos.

Es wird sich die Frage stellen, wie diese volatilen Wirtschaftszweige – mit temporären Startups, Fusionen, Insolvenzen etc. – der historischen Forschung zugänglich gemacht werden können. Und die Archivar*innen stehen nun vor der Frage, wie sie die Wirtschaftsarchive, die sich nicht mehr bloss um Industrie- und Dienstleistungssektor, sondern primär um die Digitalwirtschaft kümmern, künftig organisieren werden. So sind die vorliegenden Sondierungen in die New Economy Umwege gegangen. Sie sind bei den Wirtschaftsdokumentationen, bei staatlichen Archiven, bei privaten Archiven und auch beim Schweizerischen Sozialarchiv, das für die Geschichte der Arbeit und der Gewerkschaften in der Schweiz einschlägig ist, fündig geworden.

Die versammelten Fallstudien in Æther #4 können auf Forschungen der vergangenen zwanzig Jahre aufbauen: besonders zur Computergeschichte der Schweiz,22 der Geschichte des Aufbaus digitaler Infrastrukturen an der ETH,23 der Geschichte von digitalen Finanzdienstleitungen im Bankensektor24 und bei der Post,25 der Geschichte des rechnergestützten Detailhandels26 und der Geschichte von Data Centers und digitalen Infrastrukturen in der Schweiz.27

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Mythen und wirkungsmächtigen ideologischen Konstrukten der New Economy gehört zum Projekt der Historisierung der »Great Transformation« 2.0.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit an den Mythen und wirkungsmächtigen ideologischen Konstrukten der New Economy und der Zelebration technischen Fortschritts, freier Marktwirtschaft, gegenkultureller Rhetorik und den beinahe schon genormten männlichen Biographien der Tech-Entrepreneurs gehört zum Projekt der Historisierung der »Great Transformation« 2.0. Auch in Æther #4 finden sich Beiträge, die sich dieser Dekonstruktion der Mythen der New Economy widmen.28 Dazu gehört aber auch eine Auseinandersetzung mit der Pflege von Traditionen und nationalen Gepflogenheiten, die genauso Teil der New Economy sind – auch bei globalen Konzernen wie IBM, wo Schweizer Versicherungen, Banken und Industriebetriebe seit den 1950er-Jahren elektronische Computer eingekauft haben. In der 1970 aus der Konzernstruktur entstandenen Tochterfirma IBM Schweiz wurde viel Aufwand betrieben, um durch Integration von »Swissness« eine IBM-Betriebskultur zu etablieren.29 Des Weiteren ist der platten Globalisierungsrhetorik eine lokalhistorische Auseinandersetzung mit dem Wandel zur digitalen Ökonomie entgegenzusetzen. Dabei wird sichtbar, dass es sich nicht primär um freie Märkte handelt, die diesen Wandel evoziert haben, sondern dass etwa Standortpolitik und Technonationalismus auch Teil dieser Geschichte sind. Beispielsweise im Zusammenhang mit den Strategien der Politik und der Wirtschaft in den 1980er-Jahren, auf die Anzeichen der Deindustrialisierung zu reagieren und dabei auf das in den USA entstandene Modell der Forschungsparks zurückzugreifen, die symbolträchtig an den alten Industriestandorten gebaut wurden.30 Wichtige Infrastrukturen der New Economy werden auf den alten Trassen des Industriezeitalters gezogen, wie etwa die Glasfaserkabel in den Schächten der Wasserversorgung oder der Gasleitungen.31

Trotz des Rückgriffs auf alte Infrastrukturen und auf kulturelle Traditionen und trotz der Pflege von nationalen Interessen unter den Bedingungen von Globalisierung ist der Wandel seit den 1980er-Jahren tiefgreifend. Er beinhaltet gravierende Umwälzungen in den Unternehmen, die Mobilisierung von Akteur*innen der neuen sozialen Bewegungen sowie kulturelle Umdeutungen. Und auch auf diese komplexen Prozesse unterhalb der glatten Oberfläche der New Economy lenkt Æther #4 die Aufmerksamkeit. Dabei zeigt sich, dass die Liberalisierung von Märkten, Rationalisierung durch Mechanisierung und Automatisierung und die geschlechtsspezifische Codierung von Arbeitsmärkten integral untersucht werden müssen.32 Dies gilt speziell für die Dekade der 1990er-Jahre: Hier steht noch viel Forschung an. Denn die Digitalisierung ist kein geschlechtsneutrales Unterfangen, sie ist hochgradig gegendert. In den technoutopischen Visionen oder realpolitischen Strategien, welche die Rolle von Frauen und Körpern in einer rechnergestützten Gesellschaft prägen und verändern wollen, werden die Konflikte um die Geschlechterordnung gerade auch in den Umbrüchen der 1990er-Jahre virulent sichtbar.33

Abb. 5: Weltrettung durch Technologie und digitale Nomad*innen? Verlassene E-Scooter an der Bahnhofstrasse.

So viel wird klar geworden sein: Peter Leydens und Peter Schwartz' Prophezeiung, dass Historiker*innen auf die Zeit zwischen 1980 und 2020 als Schlüsseljahre einer fundamentalen Transformation zurückblicken, hat also durchaus etwas in sich. Doch inzwischen sind auch ihre Visionen Geschichte. Die Fallstudien von Æther #4 zeigen eindrücklich, dass bestehende sozialtheoretische Begrifflichkeiten wie Netzwerkgesellschaft oder New Economy die fundamentalen Umbrüche seit den 1980er-Jahren mitsamt ihren Auseinandersetzungen, Konflikten, Hoffnungen, Visionen, Widersprüchen und ideologischen Konstrukten nicht adäquat zu erfassen vermögen. Um diese historisch zu verstehen, müssen ihre Geschichten erzählt werden. Und die Suche nach neuen Geschichten ist vielleicht hilfreich, um den Visionen des Silicon Valley andere Zukünfte entgegenzusetzen.

Dank an Karin Schraner, Anna Baumann und Anke (Anne-Christine) Schindler, die immer alle Fäden zusammenhielten. An Niki Rhyner und Max Stadler vom intercom Verlag, an Irene Amstutz und Martin Lüpold vom Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel, an Daniel Nerlich vom Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) in Zürich, an Christian Koller vom Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich und an die Fotografin Lea Della Zassa.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Lea Della Zassa, Apple Store am Rennweg (2021).

Abb. 2: Lea Della Zassa, Können Daten die Welt retten? (2021).

Abb. 3: Lea Della Zassa, Eingang zum FlexOffice-Workspace (2021).

Abb. 4: Lea Della Zassa, Eingang zum Satellite-Workspace (2021).

Abb. 5: Lea Della Zassa, ZKB-Workspace mit E-Scooters (2021).

Literatur
  1. 1

    Hanspeter Rebsamen et al.: Architektur und Städtebau 1850–1920: Zürich, Sonderpublikation aus Bd. 10 der Gesamtreihe INSA, Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920, herausgegeben von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, Zürich: Orell Füssli (2001), S. 118–123.

  2. 2
  3. 3

    Oliver Wietlisbach: »Wer möchte hier nicht arbeiten? Das neue Schweizer Google Hauptquartier in Bildern«, in: Watson, https://www.watson.ch/schweiz/digital/469076859-das-ist-mal-ein-buero-das-neue-schweizer-google-hauptquartier-in-25-bildern (17. Januar 2017).

  4. 4

    Martin Sturzenegger: »Der Internetgigant dehnt sich aus ins Bankenviertel«, in: Tages Anzeiger, https://www.tagesanzeiger.ch/der-internetgigant-dehnt-sich-aus-ins-bankenviertel-945429944324 (29. April 2021).

  5. 5

    Mathias Stuhr: Mythos New Economy: Die Arbeit an der Geschichte der Informationsgesellschaft, Bielefeld: transcript-Verlag (2014), vgl. auch: Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957], Frankfurt am Main: Suhrkamp (1988).

  6. 6

    Vgl. das Cover des Time Magazine: »The New Economy«, Time (30. Mai 1983), http://content.time.com/time/covers/0,16641,19830530,00.html; vgl. auch den Beitrag von Anne-Christine Schindler: »Cyborgs vs. Bienen: Subjekt und Körperlosigkeit in der New Economy«, in diesem Band.

  7. 7

    Charles P. Alexander: »The New Economy«, in: Time (30. Mai 1983) http://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,926013-7,00.html.

  8. 8

    Peter Schwartz, Peter Leyden: »The Long Boom: A History of The Future 1980–2020«, in: The Wired (07. Januar 1997) https://www.wired.com/1997/07/longboom/; vgl. auch den Artikel von Alessandra Biagioni: »Reiche, junge, weisse Nerds: Der ideale Tech-Entrepreneur in Wired«, in diesem Band.

  9. 9

    Ebd.

  10. 10

    Vgl. zum Beispiel: Nathan Ensmenger: »The Environmental History of Computing«, in: Technology and Culture 59 (2018), S. 7–33. Bereits in den 1980er-Jahren wurde in der feministischen Forschung auf die gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen im Silicon Valley hingewiesen, vgl. z.B. Ute Hoffmann: »Opfer und Täterinnen: Frauen in der Computergeschichte«, in: Ingrid Schöll, Ina Küller (Hg.): Micro Sisters: Digitalisierung des Alltags. Frauen und Computer, Berlin: Elefanten Press (1988), S. 75–79.

  11. 11

    Vgl. z.B. Oliver Nachtwey, Philipp Staab: »Die Avantgarde des digitalen Kapitalismus«, in: Mittelweg 36 24/6 (2016), S. 59–84.

  12. 12

    Vgl. z.B. Rudolf Braun: Die Veränderung der Lebensform in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800 (Zürcher Oberland), Erlenbach/Stuttgart: Rentsch (1960) (= Industrialisierung und Volksleben Bd. 1).

  13. 13

    Hierfür einschlägig: Daniel Bell: The coming of post-industrial society: A venture in social forecasting, New York: Basic Books (1973).

  14. 14

    Boy Lüthje, Stefanie Hürtgen, Peter Pawlicki, Martina Sproll: From Silicon Valley to Shenzhen: Global Production and Work in the IT Industrie, Lanham etc.: Rowman and Littlefield (2013), insbesondere Kapitel 2: »Beyond the New Economy«, S. 33–67, und Kapitel 5: »From Silicon Valley to Shenzhen«, S. 217–242.

  15. 15

    Vgl. dazu die Beiträge von Albert Gubler: »Werbung 2.0: Eine Branche geht online« und Marlon Rusch: »Urban Games: Ein Startup startet durch«, in diesem Band.

  16. 16

    Karl Polanyi: The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944], Frankfurt am Main: Suhrkamp (1978).

  17. 17

    Manuel Castells: The Rise of the Network Society, Cambridge, Mass.: Blackwell Publishers (1996).

  18. 18

    Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus, Hamburg: Hamburger Edition (2018 [2016]); vgl. die Rezension von Roman Haefeli: »Plattformkapitalismus für technologische Analphabet*innen«, in diesem Band.

  19. 19

    Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main, New York: Suhrkamp (2018).

  20. 20

    Dan Schiller: Digital Capitalism: Networking the Global Market System, Cambridge, Mass: MIT Press (1999); Philipp Staab: Digitaler Kapitalismus: Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp (2019).

  21. 21

    Zur Geschichte des Silicon Valley vgl. Christophe Lécuyer: Making Silicon Valley: Innovation and the Growth of High Tech, 1930–1970, Cambridge, Mass: MIT Press (2006).

  22. 22

    Beispielsweise Peter Haber (Hg.): Computergeschichte Schweiz: Eine Bestandesaufnahme, Zürich: Chronos (2009); Josef Egger: »Ein Wunderwerk der Technik«: Frühe Computernutzung in der Schweiz (1960–1980), Zürich: Chronos (2014); Museum für Kommunikation (Bern): Loading history: Computergeschichte(n) aus der Schweiz, Zürich: Chronos (2001).

  23. 23

    David Gugerli, Patrick Kupper, Daniel Speich: Die Zukunftsmaschine: Konjunkturen der ETH Zürich 1855–2005, Zürich: Chronos (2005), S. 347–362.

  24. 24

    Barbara Bonhage: »Befreit im Netz. Bankdienstleistungen im Spannungsfeld zwischen Kunden und Computern«, in: Stefan Kaufmann (Hg.): Vernetzte Steuerung: Soziale Prozesse im Zeitalter technischer Netzwerke, Zürich (2007), S. 95–108.

  25. 25

    Daniela Zetti: »Die Erschliessung der Rechenanlage: Computer im Postcheckdienst, 1964–1974«, in: Gisela Hürlimann, Frédéric Joye, Daniela Zetti (Hg.): Gesteuerte Gesellschaft = Orienter la société, Zürich: Chronos Verlag (2009), S. 88–102.

  26. 26

    Katja Girschik: »Als die Kassen rechnen lernten: Die Anfänge der rechnergestützten Warenwirtschaft bei der Migros«, in: Traverse 13 (2005), S. 110–124.

  27. 27

    Monika Dommann, Hannes Rickli, Max Stadler (Hg.): Data Centers: Edges of a Wired Nation, Zürich: Lars Müller Publishers (2020).

  28. 28

    Vgl. die Beiträge von Alessandra Biagioni: »Reiche, junge, weisse Nerds: Der ideale Tech-Entrepreneur in Wired« und Anne-Christine Schindler: »Cyborgs vs. Bienen: Subjekt und Körperlosigkeit in der New Economy«, in diesem Band.

  29. 29

    Vgl. den Beitrag von Roman Fässler: »Familienkultur im Grossunternehmen: ›Swissness‹ bei IBM«, in diesem Band.

  30. 30

    Vgl. den Beitrag von Dario Willi: »Zukunftstraum Technopark: Zürich und die Deindustrialisierung«, in diesem Band.

  31. 31

    Vgl. den Beitrag von Olivier Keller: »Draht in die Zukunft: Ein Glasfasernetz für die Schweiz«, in diesem Band.

  32. 32

    Vgl. den Beitrag von Niklaus Remund: »Automatisieren, rationalisieren: Mensch und Maschine in der Postlogistik«, in diesem Band.

  33. 33

    Vgl. die Beiträge von Anna Baumann: »Gleichstellung dank Internet? Die CD-ROM ProNet« und Anne-Christine Schindler: »Cyborgs vs. Bienen: Subjekt und Körperlosigkeit in der New Economy«, in diesem Band.