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Queer Vienna: Einblicke in ein Bewegungsarchiv
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Katharina Kührner, Andreas Brunner

AIDS, Trauer und Erinnerung

Der Schock durch AIDS und die hohen Zahlen an Erkrankten und Verstorbenen führte in der schwulen Community zur Entwicklung neuer Trauerrituale. Als AIDS durch die Kombinationstherapie zu einer behandelbaren Krankheit wurde, entstanden Erinnerungsprojekte.

Sehr emotional wirkt das Foto auf dem Titelblatt der Washington Post vom 12. Oktober 1996. »Maya Key, left, of Bethesda, weeps as her sister, Simone Key, comforts her in front of an AIDS quilt panel honoring their father, Robert. He died in 1989«, heißt es in der Bildunterschrift. Diese Trauer teilen sie an diesem Tag mit tausenden anderen Menschen.1 Auch Anna Maria Novak und Deb Donofrio sind gekommen, um am Gedenktuch von Donofrios Bruder, Gregory Edmund Brilhart, an ihn zu erinnern. Die beiden Frauen berühren andachtsvoll mit ihren Händen das selbstgestaltete Stück. Die einzelnen Panels sind Teil des AIDS Memorial Quilts, der von der Organisation The NAMES Project an diesem Tag zum letzten Mal in Gänze aufgelegt wurde und die gesamte National Mall vor dem Kapitol in Washington bedeckte. »Today, the AIDS Memorial Quilt is an epic 54-ton tapestry that includes nearly 50'000 panels dedicated to more than 110'000 individuals.«2 Er ist damit »the largest piece of community folk art in the world«.3 Hunderttausende Menschen waren gekommen, um an der Ausbreitung des Quilts teilzunehmen, so auch der heutige Co-Leiter von QWIEN (und Mitverfasser dieses Beitrags) Andreas Brunner, der die heute im QWIEN-Archiv aufbewahrte Ausgabe der Washington Post mitbrachte. Sie ist ein Beleg für die von queeren Communities entwickelte Trauerkultur, die in diesem Beitrag dargestellt wird. Mit der Einführung der Kombinationstherapie gingen die Sterbezahlen rasch zurück und aus den Projekten der Trauerarbeit entwickelten sich Erinnerungsprojekte. Parallel dazu fand eine Historisierung von AIDS statt, die vor allem die ersten eineinhalb Dekaden von AIDS thematisierte.

Das große Sterben

Als die Präsentation der Gedenktücher in Washington stattfand, hatte die Todesrate einen Höhepunkt erreicht. Bereits fünf Jahre davor hatte zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember 1991 Der Spiegel »AIDS rückt näher. Das große Sterben« getitelt.4 Eine Woche zuvor war Freddie Mercury, der Frontman der britischen Rockband Queen, gestorben. Dies hatte die Immunschwächekrankheit wieder auf die Titelblätter von Zeitungen und Magazinen gehievt. Doch während Hunderttausende im Oktober 1996 auf der großen Mall in Washington um verstorbene Partner*innen, Freund*innen oder Familienmitglieder trauerten, war bereits eine Wende eingeleitet.

Auf der 11. Internationalen AIDS-Konferenz, die vom 7. bis 12. Juli 1996 in Vancouver, Kanada, stattgefunden hatte, wurde ein Durchbruch in der Behandlung von HIV-Infektionen verkündet. Mit einer Kombination aus mehreren Medikamenten konnte die Vermehrung von HI-Viren im Körper und damit der Abbau der für die Funktionsfähigkeit des Immunsystems wichtigen CD4-Zellen verhindert werden.5 Damit wurde bei rechtzeitig einsetzender und konsequent durchgeführter Behandlung eine HIV-Infektion zu einer behandelbaren, chronischen Erkrankung. Infizierte haben dadurch heute eine vergleichbar hohe Lebenserwartung wie Nichtinfizierte.

AIDS wurde damit auch zu einem Thema für die Geschichtsschreibung. Seit Mitte der 2010er Jahre begann sich auch die Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum mit AIDS zu beschäftigen. Martin Reichert berief sich in seiner Darstellung, die von der Frühzeit von AIDS bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, verstärkt auf Zeitzeug*innen, während Henning Trümmers die unterschiedlichen Entwicklungen in West- und Ost-Deutschland zum Thema seiner Untersuchung machte.6 Die Präventionspolitik bis zur Einführung der Kombinationstherapie steht hingegen im Zentrum der Arbeit von Sebastian Haus-Rybicki.7 Für Österreich fehlen bislang breiter angelegte Untersuchungen. Die Beiträge in diesem Band mögen als Anregung dienen.

Abb 1.: Die Washington Post berichtet über das NAMES Project.

Im Zeichen dieser Historisierung von AIDS ist auch eine Ausstellung im Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt zu sehen, die am 1. Dezember 2021, dem Welt-Aids-Tag, eröffnet wurde. Der Untertitel der Ausstellung »AIDS-Gedenktücher als Zeichen von Trauer und Protest«8 verweist dabei auf die emotionsgeschichtlichen Eckpunkte der AIDS-Krise: auf der einen Seite Trauer und Verzweiflung, auf der anderen Wut, die in Protest mündete. Es seien die ersten Jahre von AIDS eben nicht »von einer ›AIDS-Hysterie‹ oder weniger dramatisch von einer ›Aids-Angst‹« geprägt gewesen, wie es vielfach heißt, sondern vielmehr von Gefühlen »wie Trauer, Wut und Verzweiflung«,9 die auch die Mobilisierung und Institutionalisierung der AIDS-Hilfen beförderten.

Jahrelang tappte man im Dunklen, nachdem 1981 von US-amerikanischen Mediziner*innen eine seltsame Häufung einer seltenen Form von Lungenentzündung erstmals beschrieben wurde, die unter schwulen Männern in den Großstädten San Francisco und New York auftrat. In Zusammenhang mit anderen seltenen opportunistischen Erkrankungen wie dem Kaposi-Sarkom sprach man von Gay-Related Immune Deficiency (GRID), womit auch die Stigmatisierung und das othering gegenüber der Gruppe der Homosexuellen begann.10 Im deutschsprachigen Raum machte das Gerücht einer »Schwulenpest« auf der anderen Seite des Atlantiks die Runde. Ende Juli 1982 einigte man sich auf einer Konferenz auf die Bezeichnung Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS).

Als Mitte März 1983 auch in Österreich die ersten AIDS-Fälle öffentlich wurden, löste die Nachricht einen medialen Hype aus.11 Noch waren die Zahlen der Betroffenen allerdings gering und das Wissen über Übertragungswege unsicher. Im selben Jahr konnte eine französische Forschergruppe um Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier ein unbekanntes Retrovirus (LAV) isolieren, das als Ursache für AIDS vermutet wurde. Im Jahr darauf folgten US-amerikanische Wissenschaftler*innen um Robert Gallo mit der Entdeckung eines HTLV-III genannten Retrovirus, dem ebenfalls eine Verbindung zu AIDS zugeschrieben wurde. Im März 1985 erfolgte der Durchbruch, als erkannt wurde, dass LAV und HTLV-III dasselbe Virus sind und tatsächlich die Immunschwäche verantworten. 1986 schließlich wurde das Virus in Humanes Immunschwächevirus (HIV) umbenannt.

Mit der Entdeckung des Virus konnte die Forschung auch beginnen, Therapien zu entwickeln. Da aber AIDS nach wie vor als »Schwulenpest« galt, stellten die Regierungen vieler Nationen nur unzureichende Mittel zur Verfügung. Die Zeit des großen Sterbens begann. In Anbetracht der im Laufe der 1980er Jahre rapide steigenden Infektionszahlen und der immer höher werdenden Todesrate reagierten die betroffenen Communities mit von Wut und Verzweiflung, von Trauer sowie dem Gefühl der Ohnmacht getragenem Aktionismus.

Diese Wut und Verzweiflung kanalisierten sich in Protestaktionen, insbesondere bei ACT UP, der AIDS Coalition to Unleash Power. Die ursprünglich US-amerikanische Bewegung setzte auf spontanen, aber gut vorbereiteten Aktionismus, der die Politik unter Druck setzen und die Bevölkerung für das Thema AIDS sensibilisieren sollte. Methodisch ging ACT UP bei ihren Aktionen künstlerisch vor, um öffentlichkeitswirksam in den Medien einen Platz zu finden und so ihre Wut und Ohnmacht gegenüber der nachlässigen Politik vieler Regierungen in Bezug auf AIDS zu thematisieren.12 Die Aktivist*innen wollten darauf aufmerksam machen, dass alle Menschen von AIDS betroffen sein konnten und nicht nur Homosexuelle und Drogenabhängige daran erkrankten.13

Abb. 2: Ein Panel des Österreichischen NAMES Project mit den Quilts für Reinhardt Brandstätter und Michael Handl.

ACT UP Österreich hat sich 1991 gegründet, um ebenso auf politische Versäumnisse in der AIDS-Bekämpfung aufmerksam zu machen. Die Gruppe bestand zum Großteil aus HIV-positiven Aktivist*innen, die schon länger in der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien und anderen Vereinen arbeiteten und aus deren Sympathisant*innen. Das Ziel des österreichischen Pendants unterschied sich vom US-amerikanischen Vorbild dahingehend, dass diese Gruppierung von den bisherigen Interessengruppen und deren Handeln enttäuscht waren und sich des Themas selbst annehmen wollten.14

Die Arbeit von Selbsthilfegruppen war meist weniger spektakulär. Freiwillige stellten sich etwa als buddies zur Verfügung und unterstützten Kranke bei alltäglichen Erledigungen, machten Besorgungen oder besuchten sie, die oft von Freund*innen und Familie wegen ihrer HIV-Infektion gemieden oder verlassen wurden, im Krankenhaus. In Österreich waren buddies ab 1986 im Rahmen der Österreichischen AIDS-Hilfe tätig; 1991 gründeten sie den eigenen Buddy-Verein. Durch die auch in Österreich steigenden Zahlen an Personen, die an AIDS verstorben waren, traten neue Formen der Trauerarbeit in den Fokus von Selbsthilfegruppen. Doch wie konnte man den »richtigen« Umgang mit der Trauer über den Tod von Angehörigen und Freund*innen finden?15 Der Soziologe Martin Dannecker zitierte in seinem 1991 erschienenen Buch Der homosexuelle Mann im Zeichen von Aids den Sexualforscher Volkmar Sigusch, der in Bezug auf den Aids-Komplex von einem »›Schwarzen Loch‹ im Kosmos der Seele« sprach.16 Er erklärte dieses damit, dass »von dieser Krankheit Menschen unseres Alters, aber auch sehr viel jüngere, plötzlich aus dem Leben gerissen werden, obwohl sie sexuell nichts anderes getan haben als das, was wir selber getan haben oder uns in waghalsigen Minuten vornahmen, irgendwann doch einmal zu tun.«17 Auf diese Ausnahmesituation kam auch Friedl Nussbaumer, der Gründer des NAMES Project Wien, in einem für diesen Beitrag geführten Interview zu sprechen:

»Das Problem war, dass du in einer anderen Welt bist und so einen Schmerz hast. Du begleitest jemanden beim Sterben – und noch dazu jemand relativ jungen. Mein Freund war Mitte zwanzig. Du hast in erster Linie Männer gehabt, die zwischen zwanzig bis fünfzig waren, also in einem Alter, in dem man normalerweise nicht stirbt.«18

Diese Unzeitigkeit des Todes und dessen Tabuisierung haben die schwule Community »radikal verändert« und dazu geführt, dass »sich (auch kollektiv) von AIDS durchzogene sinnstiftende Rituale und Selbstkonzepte herausgebildet« haben.19 Viele Aktivist*innen der ersten Stunde waren daher Betroffene, denn Selbsthilfebewegungen beruhten auf der Idee, dass Menschen mit AIDS an Entscheidungen, die sie selbst betrafen, beteiligt waren oder Beteiligung durch politischen Aktivismus einforderten.20

The NAMES Project

Trauerarbeit und politischer Aktivismus trafen sich im NAMES Project und bei der öffentlichen Präsentation des Quilts. Die National Mall vor dem Kapitol zählt zu den wichtigsten Plätzen der Vereinigten Staaten, nicht nur dass dort die Inaugurationen der neugewählten Präsidenten stattfinden; sie war auch der Ort für zahlreiche Demonstrationen, so auch für den ersten National March on Washington for Lesbian and Gay Rights am 14. Oktober 1979, der über 100.000 Teilnehmer*innen in die amerikanische Hauptstadt brachte. Als im Oktober 1996 der AIDS Memorial Quilt des NAMES Project ausgebreitet wurde, sollte verdeutlicht werden, dass hinter den nackten Opferzahlen Einzelschicksale stehen. Die Idee stammte vom langjährigen Gay-Rights-Aktivisten Cleve Jones aus San Francisco. Er bat Teilnehmer*innen des jährlich stattfindenden Fackelzugs, der an die Ermordung des schwulen Stadtrats Harvey Milk und von Bürgermeister George Moscone 1978 erinnerte, auf Plakaten Freund*innen und Geliebten zu gedenken, die an AIDS verstorben waren. Die mit persönlichen Erinnerungsstücken geschmückten Tafeln ließen Jones an die alte Handwerkstradition der Quilts denken, die als Steppdecken oder Patchwork-Arbeiten sowohl eine praktische Funktion (etwa als Bettdecken) als auch eine schmückende Funktion (als Wandbehang) haben konnten. Jones konnte nicht nähen, als er mit einer vagen Idee im Kopf im Hinterhof seines Hauses in San Francisco im Februar 1987 begann, für seinen wenige Monate zuvor verstorbenen Freund Marvin Feldman mit einer Spraydose das erste AIDS Memorial Panel zu gestalten. Das Gedenktuch hatte die Ausmaße eines Grabes (90x180cm), wie auf einen Grabstein schrieb er den Namen seines Freundes.. »I spent the whole afternoon thinking about Marvin. […] By the time I finished the piece, my grief had been replaced by a sense of resolution and completion.«21 Die Gestaltung des Panels wurde damit zu einem Stück persönlicher Trauerarbeit.

Abb. 3: Flyer der Selbsthilfeorganisation Buddy Verein, 1990er Jahre.

Durch die Stigmatisierung von AIDS waren nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Partner*innen und Angehörigen oft von traditionellen, bürgerlichen Formen der Trauer und Erinnerung ausgeschlossen. Aufgrund irrationaler Ängste vor Ansteckungen weigerten sich Bestattungsinstitute Verstorbene zu beerdigen. In anderen Fällen verweigerten die Herkunftsfamilien hinterbliebenen Partner*innen und Freund*innen aus der LGBTIQ-Community die Teilnahme an Begräbnisfeierlichkeiten, weil die wahren Gründe des Ablebens verschleiert werden sollten. Neue Wege mit Trauer und Verlust umzugehen und an die Verstorbenen zu erinnern mussten gefunden werden. Dabei stellte das kollektive Erinnern und Trauern einen wichtigen Prozess dar. In einer Studie zur Auswirkung von HIV/AIDS auf Communities in Südafrika heißt es:

»For communities to resist and take charge requires awareness raising, empowerment and community mobilisation that will give them the capacity to confront stigma and discrimination in relation not only to aids, but potentially also to other inequalities.«22

Ein Projekt wie das NAMES Project schafft Bewusstsein und ermächtigt die Betroffenen. Der kollektive Prozess prägt die Geschichte einer Gemeinschaft und wird zu einem wichtigen Bestandteil des sozialen Zusammenhalts in marginalisierten Gruppen. So betonte schon 1999 Dean Lewter in der Einleitung seiner Dissertation mit dem Titel AIDS Survivor Grief,

»that the international gay community has been somehow strengthened by this intense catastrophe and that, someday, we will be enhanced as a global community through our dealings with the AIDS disease, the dying process, and the continual varying perspectives of AIDS survivor grief.«23

Als Beleg seiner Thesen dienten ihm insbesondere das NAMES Project und internationale Gedenktage wie der Welt-AIDS-Tag und der AIDS-Memorial-Day, deren globale Bedeutung er auch durch die Darstellung von Events in England, Frankreich und Deutschland betonte.

Abb. 4: Michael Handl setzte sich mit der HOSI Wien um die Anerkennung Homosexueller als Opfer der NS-Verfolgung ein und war auch bei der Protestaktion am Albertinaplatz 1988 dabei.

Cleve Jones’ Idee der AIDS Memorial Quilts hatte begeisterte Aufnahme gefunden, im Juni 1987 wurde die NAMES Project Foundation gegründet und bereits im Oktober desselben Jahres wurde der Quilt mit 1’920 Panels erstmals auf der National Mall in Washington präsentiert.24 Für die Präsentation wurde ein eigenes Ritual entwickelt. Jeweils acht Tücher werden zu einem Quadrat zusammengenäht, das in einer vorgegebenen Form gefaltet wird. Dessen Entfaltung ist Teil des Gedenkakts, bei dem auch die Namen der an AIDS Verstorbenen verlesen werden, worauf auch der Name NAMES Project Bezug nimmt. Der Quilt erreichte in kürzester Zeit eine breite Öffentlichkeit und wurde damit nicht nur zum Erinnerungszeichen für die Verstorbenen, sondern machte auch auf das Versagen von Politik und Gesellschaft aufmerksam. Darüber hinaus sorgte der Quilt für ein die LGBTQ-Bewegung festigendes Wir-Gefühl, das auch Friedl Nussbaumer im Interview hervorhebt:

»Wir machten das, damit wir uns in der Trauerarbeit unterstützen und leichter zurechtkommen. […] der Sinn der Sache ist, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass es eben Kranke gibt, die an dieser Krankheit sterben. Dass es viele sind und dass es dazu Gesichter gibt, Namen [und] Lebensgeschichten und dass es wirklich jeden treffen kann.«25

International bekannt wurde das Gedenkprojekt durch den 1989 veröffentlichten und 1990 mit dem Oscar prämierten Dokumentarfilm Common Threads: Stories From The Quilt von Rob Epstein und Jeffrey Friedman, für den Hollywood-Star Dustin Hoffman als Erzähler gewonnen werden konnte. Der Film gab auch den Anstoß zur Gründung des österreichischen NAMES Projects. Vom Film emotional berührt, beschloss Friedl Nussbaumer gemeinsam mit Freund*innen und Aktivist*innen der HOSI Wien, auch in Österreich eine Gedenkinitiative nach Vorbild des NAMES Project auf die Beine zu stellen.26

Die Situation für Betroffene war in dieser Zeit schwierig, denn die Österreichische AIDS-Hilfe (ÖAH) war nach internen Querelen und Zwistigkeiten innerhalb der Community nur noch bedingt handlungsfähig. Michael Handl, HOSI Aktivist und selbst Betroffener, brachte es in einem Kommentar in dem Lambda-Nachrichten aus seiner Sicht auf den Punkt: »Die österreichische AIDS-Politik ist am Sand und wird – wenn’s so weitergeht – bald darunter begraben liegen.«27 Tatsächlich löste sich der Verein Österreichische AIDS-Hilfe (ÖAH) am 30. Juni 1991 auf. Zerrieben »zwischen dem Ministerium, das auf Kürzung bzw. Einsatz-Optimierung […] bestand, und den LandesstellenleiterInnen, die auf Budgethoheit pochten, hatte der ehrenamtlich tätige Vorstand […] keine große Lust mehr, die Sache weiterzuführen«,28 stellte der langjährige HOSI Wien Aktivist Kurt Krickler desillusioniert fest. Unabhängige Bundesländervereine wurden gegründet und der Einfluss der homosexuellen Funktionäre der ersten Stunde, insbesondere der HOSI Wien, zurückgedrängt. »Die Tendenz zur Enthomosexualisierung von AIDS […] nimmt auch in Österreich bedenkliche Ausmaße an«, hatte schon Michael Handl in seinem Kommentar im Herbst 1990 angemerkt.29 Der »heterosexuelle, nicht-HIV-positive Betriebsratsobmann, der den Kardinalfehler der ÖAH darin sieht, daß bei der Gründung und beim Aufbau der ÖAH die HOSI Wien so massiv beteiligt war«, hatte gewonnen.30

Abb. 5: Reinhardt Brandstätter.

Die Krise wurde dadurch verschärft, dass am 11. März 1991 die Schließung des AIDS-Pavillons Annenheim im Pulmologischen Zentrum auf der Baumgartner Höhe angeordnet worden war, was die Versorgung der Patient*innen erschwerte. Das Pflegepersonal hatte seit Monaten über die unerträglichen Arbeitsbedingungen geklagt und an personeller Unterbesetzung gelitten.31 Da nach der Übersiedlung der 1. Hautklinik vom alten ins neue Allgemeine Krankenhaus (AKH) auch die Auflösung der dortigen AIDS-Station geplant wurde, war die Wut von Betroffenen und Aktivist*innen verständlich: »Im modernsten Krankenhaus Österreichs wird kein Platz für AIDS sein«, resümierten sie frustriert.32 Der Zorn auf die Wiener Stadtregierung entlud sich, als ACT-UP-Aktivist*innen eine Pressekonferenz des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk, seines Stellvertreters Hans Mayr und des Wiener Gesundheitsstadtrats Sepp Rieder stürmten und medienwirksam ein Transparent mit der Forderung »Mehr Krankenschwestern für kranke Schwestern« platzierten.

Obwohl seit 1987 mit AZT das erste HIV-Medikament im Einsatz war, stellte sich die medizinische Versorgung als schwierig dar, weil unterschiedliche opportunistische Infektionen das ohnehin geschwächte Immunsystem innerhalb kürzester Zeit komplett lahmlegen konnten. Dazu kamen persönliche Verluste, die Friedl Nussbaumer in seinem Bestreben, das NAMES Project in Österreich zu verankern, bestärkten. Am 17. April 1992 war Reinhardt Brandstätter, Mitbegründer der HOSI Wien und AIDS-Aktivist der ersten Stunde, gestorben; am 19. Juni unterlag der Lebensgefährte von Friedl Nussbaumer dem Kampf gegen die Immunschwäche. Mit Brandstätter und Handl »verlor die HOSI Wien – und damit die gesamte österreichische Lesben- und Schwulenbewegung – innerhalb kurzer Zeit zwei ihrer profiliertesten und engagiertesten Mitstreiter.«33

Abb. 6: Erste Präsentation des Österreichischen NAMES Project am 1. Dezember 1992 in der UNO City Wien.

Mit der Erstellung der einzelnen Panels sollte in einer Gesellschaft Platz für den Schmerz über den Verlust von Angehörigen geschaffen werden. Mit der Gestaltung des Gedenktuchs konnte persönliche Trauerarbeit geleistet werden, und da diese oft in einer Gruppe von Trauernden erfolgte, fand man auch Gleichgesinnte, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. »Durch das gemeinsame Arbeiten an Gedenktüchern wird scheinbar nicht verkraftbarer Schmerz mit anderen geteilt; das erleichtert, ihn zu überwinden.«34

Bei der Ausbreitung des Quilt sollten die Bedürfnisse der Betroffenen öffentlich sichtbar gemacht werden und durch politischen Aktivismus die Situation für Erkrankte erleichtert werden. Im Mittelpunkt der Arbeit vom NAMES Project Wien stand dabei auch die Bekämpfung der Stigmatisierung von Homosexuellen.35 Die Initiative wurde getragen von Personen, die Menschen durch AIDS verloren hatten. Ihr Ziel war es das Schweigen zu durchbrechen, indem sie ihre Liebe zu den Verstorbenen in den Panels zum Ausdruck brachten. »AIDS sollte auch in Österreich ein Gesicht, einen Namen bekommen, das Stigma und den Schrecken verlieren.«36 Da er und Michael Handl, wie es Friedl Nussbaumer in seinem Interview ausdrückte, »an vorderster Front«37 in der HOSI Wien politisch aktiv waren, war es für ihn nach dem Tod seines Lebensgefährten klar, dass er seinen Schmerz mit politischem Aktivismus, Bewegungsarbeit und Community-Building verbinden musste. Seit Oktober hatten sich dafür ca. fünfzehn Personen regelmäßig in der Werkstatt des Szene-Schneiders Peter Holub getroffen, um an den Erinnerungstüchern zu arbeiten.38 In diesem geschützten Umfeld konnten sich die Betroffenen in ihrer Trauer unterstützen und ein Panel unter Anleitung der Projektleiter*innen und Werkstattmitarbeiter*innen gestalten. Die Tücher wurden individuell gestaltet und waren mit Lieblingsbildern oder -objekten der Verstorbenen geschmückt. So auch beim Panel, das Friedl Nussbaumer für seinen Lebensgefährten hergestellt hat. Auf einem blauen Tuch sind der Name Michael Handl und seine Lebensdaten in schwarzer Schrift zu lesen, wobei der Vorname einen Großteil des Tuches einnimmt und im Vordergrund steht. Der Anfangsbuchstabe des Vornamens ist links mit weißen Punkten und Stickern geschmückt, oberhalb mit einem schwarzen Balken, der mit zwei rosa Winkeln auf das politische Engagement des Verstorbenen verweist, und in der Mitte mit zwei verbundenen Herzen die Liebesbeziehung der beiden versinnbildlicht.39 Der Nachname ist in einem Balken unter dem Vornamen geschrieben. Im rechten oberen Teil ist ein gelbes Männchen auf rotem Herz zu sehen, das von gelben Sternen umrahmt ist. Friedl Nussbaumer beschreibt das Männchen als den kleinen Prinzen aus dem Kinderbuch Le Petit Prince von Antoine de Saint-Exupery, das Michael Handls Lieblingsbuch war.40

Abb. 7: In der Werkstatt von Peter Holub bei der Arbeit an den Quilts (1992).

Ein weiteres Beispiel stellt das Panel für Reinhardt Brandstätter dar, das von seinem Lebensgefährten Kurt Krickler gestaltet wurde. Die Lebensdaten und der Name des Verstorbenen wurden in roten Kleinbuchstaben auf ein hellrosa Tuch genäht, wobei auch hier der i-Punkt des Vornamens durch einen rosa Winkel ersetzt wurde, der für die Schwulenbewegung steht, die dieses ursprüngliche Symbol der NS-Verfolgung in den 1970er Jahren aufgriff und zu einem Zeichen des politischen Stolzes uminterpretierte.41 Ein Kondom, das über das »d« seines Familiennamens gestülpt ist, steht für sein Engagement in der AIDS-Bewegung. Auch hier steht der Name des Verstorbenen im Vordergrund und nimmt einen Großteil des Tuches ein. Eine schwarze Katze mit weißer Fliege, die an das von Kurt Krickler und Reinhardt Brandstätter geliebte Tier erinnert, und zwei verbundene Herzen sind Ausdruck der Verbundenheit des Paares, die über den Tod des einen hinausgeht.

Am 1. Dezember 1992 fand die erste öffentliche Präsentation der österreichischen Quilts in der Eingangshalle der UNO-City statt, bei der auch der damalige Gesundheitsminister Michael Ausserwinkler anwesend war. Noch am selben Tag wurde der Quilt im Rahmen des Fackelzugs am Welt-Aids-Tag zum Abschluss am Platz vor der Piaristenkirche im 8. Bezirk gezeigt. Unter den Titeln »Lebenszeichen« und »A Promise To Remember«42 wurden in den Folgejahren in regelmäßigen Beiträgen in den Lambda Nachrichten Briefe und Erinnerungstexte an Verstorbene veröffentlicht,43 von Juni bis Oktober 1999 wurde im Vereinslokal der HOSI Wien die Gedenkausstellung With Love and Respect44 gezeigt, bei der ebenso an einzelne AIDS-Opfer erinnert wurde. Insgesamt wurden für das NAMES Project Österreich zwölf Quilt Quadrate aus 96 Tücher mit mehr als 360 Namen angefertigt.45 Fast der gesamte Quilt wurde in Österreich letztmalig bei der 18. Internationalen AIDS-Konferenz, die vom 18. bis 23. Juli 2010 in Wien stattfand, präsentiert.

Von der Trauerarbeit zum Erinnerungsprojekt

Mit der Kombinationstherapie wurde die Immunschwächeerkrankung behandelbar und eine neue Phase in der Geschichte von AIDS eingeleitet. Durch die neuen Therapiemöglichkeiten ging die Sterberate drastisch zurück, zumindest in Staaten mit guter Gesundheitsversorgung sowie bei Menschen, die sich die lange sehr teuren Medikamente leisten konnten.46 In einer 2005 mit dem Titel »Abschied von Aids« gehaltenen Rede resümierte Dannecker: »Inzwischen lässt sich für die westlichen Industrieländer sagen, dass eine HIV-Infektion nicht mehr gleichbedeutend mit Aids ist«, was lange Jahre einem Todesurteil gleichkam.47 Damit veränderte sich auch die Bedeutung von Trauerprojekten wie dem NAMES Project oder von Gedenktagen wie dem Welt-AIDS-Tag oder dem AIDS-Memorial-Day.

Seit 1988 wird jährlich am 1. Dezember der Welt-AIDS-Tag begangen, dessen Ziel es war und ist, die Öffentlichkeit für die AIDS-Epidemie zu sensibilisieren und an die Toten zu erinnern. Der Welt-AIDS-Tag wurde vom Global Programme on AIDS der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf ins Leben gerufen. Zum Welt-AIDS-Tag in Wien fand viele Jahre lang ein Fackelzug statt, der in einem ökumenischen Gottesdienst endete. 2017 dürfte der letzte stattgefunden haben, denn danach lassen sich im Internet keine Spuren mehr finden. Die rote AIDS-Schleife, 1991 von der New Yorker Künstlergruppe Visual AIDS bei der Verleihung der Tony-Awards in Los Angeles präsentiert und lange Zeit ein sichtbares Zeichen der Solidarität mit Betroffenen, ist heute nur mehr wenig präsent. Die auf der linken Brustseite getragene Stoffschleife fand durch Stars aus der Kulturszene weltweite Verbreitung, heute dient sie noch als politisches Zeichen vager Solidarität. Selbst das österreichische Parlament trägt regelmäßig die rote Schleife. Zur Welt-Aids-Konferenz im Juli 2010 erstmals gehisst, wurde sie zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember als »regelmäßiges politisches Statement«48 installiert. Auch die Stadt Wien hisst seit Jahren jährlich die rote Schleife am Rathaus, das bis 2019 auch der Austragungsort des berühmten Life Balls war, der die mediale Aufmerksamkeit auf HIV und AIDS lenkte.49

Abb. 8: Eine aktuelle Statistik aus dem jährlich erscheinenden Bericht »HIV/AIDS in Austria: 42nd Report of the Austrian HIV Cohort Study« (2022) lässt die deutliche Abnahme der Todesrate von 154 im Jahr 1995 auf 65 im Jahr 1997 erkennen.

Das NAMES Project habe heute »schon ein bisschen etwas Historisches«, bekennt Friedl Nussbaumer, wobei der Quilt auch ein »wichtiges Element der Erinnerungskultur«50 der LGBTIQ-Community darstellt. Nach der letzten Gesamtpräsentation 2010 wurden in den Folgejahren nur mehr einzelne Panels des Quilts zum AIDS-Memorial-Day, der seit Anfang der 1990er Jahre auch in Österreich regelmäßig begangen wurde, ausgelegt. Ende Mai stattfindend, lud dieser Gedenktag eher zu öffentlichkeitswirksamen Aktionen ein, als der Welt-AIDS-Tag im Dezember. Auch der AIDS-Memorial-Day stand anfangs stark unter dem Moment der persönlichen Betroffenheit. So wurde er 1994 in Zusammenarbeit von Aidshilfe Wien, NAMES Project, Kulturverein Berggasse und Buchhandlung Löwenherz groß begangen. Im Sigmund-Freud-Park vor der Votivkirche wurde der Quilt entfaltet, im Café Berg lasen tagsüber bekannte Persönlichkeiten wie der TV-Moderator Alfons Haider oder der Volkstheater-Schauspieler Robert Hauer-Riedl autobiografische Texte von an AIDS Erkrankten. In der gleich daneben befindlichen Buchhandlung fand parallel der Day Without Books statt, eine aus den USA übernommene Aktion, bei der die Bücher von Autor*innen und Künstler*innen, die an AIDS verstorben waren, in braunes Packpapier eingeschlagen wurden, um den Verlust zu versinnbildlichen.

In den 2000er Jahren, als die direkte Betroffenheit abnahm, verband die Aidshilfe als Veranstalterin die alljährliche Trauerkundgebung mit der Idee eines längerfristigen Gedenkens. So wurde zum AIDS-Memorial-Day 2004 am Naschmarkt-Parkplatz in der Nähe der Falco-Stiege ein Ahornbaum gepflanzt, der als Zeichen der Erinnerung an die an den Folgen von AIDS Verstorbenen gedenken sollte. Unter dem Ehrenschutz der Bezirksvorsteherin des 6. Bezirks moderierte Alfons Haider »die Veranstaltung und las besinnliche Texte, ein Streicherquartett spielte auf, die Gedenktafel wurde enthüllt und mehrere Quilts des Names Project Wien wurden feierlich aufgebreitet.«51 Im Jahr darauf wurde mit einer Zierkirsche erneut im 6. Bezirk im Bereich Magdalenenstraße der Helene-Heppe-Park eingeweiht, der an die an AIDS verstorbene Politikerin der Grünen und AIDS-Aktivistin erinnert.52 2006 folgte eine Baumsetzung am Rochusmarkt im 3. Bezirk, 2007 die Einweihung eines AIDS-Memorial bei der Wallfahrtskirche Maria Grün im 2. Bezirk in der Nähe des Lusthauses im Wiener Prater. Um eine mit roten Geranien bepflanzte AIDS-Schleife wurden Steine mit den Vornamen von Verstorbenen aufgelegt. Diese Gemeinde, vom sich zu seiner Homosexualität bekennenden Pater Clemens Kriz geleitet, ist das spirituelle Zentrum der Wiener AIDS-Community. Noch zweimal erfolgten Baumpflanzungen, 2008 im Joseph-Strauß-Park im 7. Bezirk und 2009 in der Nähe der U3-Station Ottakring, Ecke Thaliastraße/Huttengasse im 16. Bezirk. Danach wurde die Idee, in jedem Wiener Gemeindebezirk einen Baum in Erinnerung an die Opfer von AIDS zu pflanzen, fallen gelassen. Der AIDS-Memorial-Day wurde in den Folgejahren nur noch mit einer Gedenkveranstaltung in Maria Grün begangen. Mit Ausnahme des Helene-Heppe-Parks, des Memorials in Maria Grün und der Baumpflanzung in Ottakring sind die restlichen Erinnerungszeichen heute aus dem Stadtbild verschwunden. Die Gedenktafeln fielen Vandalismus zum Opfer und wurden nicht wieder aufgestellt, sodass die Widmung der einzelnen Bäume heute nicht mehr nachvollziehbar ist.

Mit der Einführung der Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) konnte die Zahl der Neuinfektionen insbesondere in der noch immer stark betroffenen Gruppe der MSM (Männer, die Sex mit Männern haben) deutlich gesenkt werden.53 In Deutschland wird diese vorbeugende Behandlung zielgruppenspezifisch beworben und als Teil der Gesundheitsvorsorge seit 2019 auf Kosten der Gesundheitskassen angeboten. In Österreich ist Anfang der 2020er Jahre nicht in Sicht, dass die PrEP als Krankenkassenleistung angeboten wird.

Abb. 9: Flyer des NAMES Project Wien.

Seit Mitte der 2010er Jahre wird das Ende von AIDS medial diskutiert. So verkündete die Schauspielerin Charlize Theron am Life Ball 2015, dass »das Ende von Aids zum Greifen nahe ist.«54 2021 wurde bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNO) nach schwierigen Verhandlungen eine für die Mitgliedsstaaten nicht bindende Übereinkunft beschlossen, die vorsah, HIV/AIDS bis 2030 als Gesundheitsgefahr zu eliminieren.55

Doch bereits 2022 musste die Hoffnungen von UNAIDS nach unten korrigiert werden, weil in einigen der hauptbetroffenen Staaten die Infektionszahlen wieder steigen.56

Fazit

Glich Aids in den 1980er Jahren noch einem Todesurteil, wurde spätestens ab Einführung der Kombinationstherapie die Differenzierung zwischen Infektion und Erkrankung immer wichtiger. Damit änderte sich auch der Blick der Gesellschaft auf AIDS, sodass auch der Begriff »positiv leben«, der lange Zeit mit Überleben konnotiert wurde, eine andere Bedeutung erhielt. Die Normalisierung von AIDS änderte auch die Gedenkkultur, die sich aus Betroffenheit, Angst und Wut entwickelt hat und von diesen Emotionen gespeist wurde. AIDS wurde wieder unsichtbarer. Doch auch wenn die Krankheit nicht mehr lebensbedrohlich ist, bleibt die »Diagnose HIV […] immer noch ein Schock, darüber zu sprechen Tabu.«57

Abb. 10: AIDS-Memorial bei der Wallfahrtskirche Maria Grün (2020).

Weil in der Gesellschaft kaum über AIDS gesprochen wird, halten sich die Vorurteile gegenüber der Krankheit hartnäckig. Betroffene sind oftmals noch von Diskriminierung betroffen. Dank der guten therapeutischen Möglichkeiten können Betroffene aus dem »globalen Norden« heutzutage sehr gut mit der Erkrankung leben. Aber eine HIV-Infektion ist nach wie vor oft mit Scham verbunden, weil sie in den meisten Fällen auf sexuellem Weg übertragen wurde. Hier wirken noch immer dieselben Mechanismen wie in der Frühzeit von AIDS. Nur heute werden sie nicht mehr öffentlich debattiert, heute steht auch keine Community mehr hinter den Betroffenen, denn auch in der LGBTIQ-Community ist HIV aus dem Sichtfeld geraten. »Memo ist HIV-positiv und lebt ein ganz normales Leben« ist der Titel eines 2021 erschienen Artikels der Online-Zeitschrift Moment der links-liberalen Denkfabrik Momentum Institut. Tatsächlich? Ganz normal?

Katharina Kührner studiert Geschichte und Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaften im Master an der Universität Wien.

Andreas Brunner ist Co-Leiter von QWIEN, LGBTIQ-Aktivist, Ausstellungskurator und Autor zahlreicher Beiträge zur queeren Geschichte Österreichs.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Washington Post (12. Oktober 1996), Wien: QWIEN Archiv © Andreas Brunner.

Abb. 2: Friedl Nussbaumer, Ein Panel des Österreichischen AIDS Memorial Quilts (1992) NAMES Project © Friedl Nussbaumer.

Abb. 3: Buddy Verein, Flyer Buddy Verein (1990er Jahre), Wien: QWIEN Archiv.

Abb. 4: Michael Handl (um 1990) © Jürgen Ostler.

Abb. 5: Reinhard Brandstätter (um 1990) HOSI Wien.

Abb. 6: Friedl Nussbaumer, Erste Präsentation des Österreichischen Quilts (1. Dezember 1992) NAMES Project © Friedl Nussbaumer.

Abb. 7: Friedl Nussbaumer, In der Werkstatt von Peter Holub bei der Arbeit an den Quilts (1992) NAMES Project © Friedl Nussbaumer.

Abb. 8: AIDS Statistik Österreich 2021, in: Robert Zangerle, Austrian AHIVCOS Cohort Study: HIV/AIDS in Austria: 42nd Report of the Austrian HIV Cohort Study (31.05.2022), S. 9.

Abb. 9: Flyer NAMES Projekt, Wien: QWIEN Archiv.

Abb. 10: Peter Hiller, AIDS-Memorial bei der Wallfahrtskirche Maria Grün (2020) © Peter Hiller.

Literatur
  1. 1

    Amy Goldstein: »When AIDS Hits Home«, in: Washington Post (12. Oktober 1996), S. A1.

  2. 2

    »The History of the QUILT«, https://www.aidsmemorial.org/quilt-history.

  3. 3

    Jesse McKinley: »Fight Over Quilt Reflects Changing Times in Battle Against AIDS«, in: New York Times (31. Jänner 2007), S. A16.

  4. 4

    Der Spiegel (1. Dezember 1991), Titelblatt.

  5. 5

    Die Kombinationstherapie wird auch je nach Zusammensetzung des Medikamentencocktails Anti Retrovirale Therapie (ART) oder Hoch Aktive Anti Retrovirale Therapie, kurz HAART, genannt.

  6. 6

    Martin Reichert: Die Kapsel: Aids in der Bundesrepublik, Berlin: Suhrkamp (2018); Henning Tümmers: AIDS: Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland, Göttingen: Wallstein (2017).

  7. 7

    Sebastian Haus-Rybicki: Eine Seuche regieren: AIDS-Prävention in der Bundesrepublik 1981–1995, Bielefeld: Transcript (2021).

  8. 8

    Alois Unterkircher (Hg.): In the Name of Love! AIDS-Gedenktücher als Zeichen von Trauer und Protest, Ingolstadt: Deutsches Medizinhistorisches Museum (2021).

  9. 9

    Magdalena Beljan: »Aids-Geschichte als Gefühlsgeschichte«, in: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte 65/46 (6. November 2015), S. 25–31.

  10. 10

    Kaposi-Sarkom ist eine nach dem Wiener Mediziner Moriz Kaposi (1837–1902) benannte, seltene Form von Hautkrebs, die mit ihren charakteristischen dunklen Flecken zum medialen Schreckensbild von AIDS wurde. Zum othering vgl. Sebastian Haus-Rybicki: Eine Seuche regieren: AIDS-Prävention in der Bundesrepublik 1981–1995, Bielefeld: Transcript (2021), insbesondere »Teil I: Eine Krankheit der Anderen (1981–1986)«, S. 35–165.

  11. 11

    Siehe Beitrag von Nike Kirnbauer in diesem Band.

  12. 12

    Zu den Kunstaktionen von ACT UP vgl. Douglas Crimp, Adam Rolston: Aids Demographics, Seattle: Bay Press (1990).

  13. 13

    Zu ACT UP in den USA vgl. Sarah Schulman: Let The Record Show: A Political History of ACT UP New York, 1987-1993, New York: Farrar, Straus and Giroux (2021).

  14. 14
  15. 15

    Magdalena Beljan: »Aids-Geschichte als Gefühlsgeschichte«, in: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte 65/46 (6. November 2015), S. 25–31.

  16. 16

    Zitiert nach Martin Dannecker: Der homosexuelle Man im Zeichen von Aids, Hamburg: KleinVerlag (1991), S. 96.

  17. 17

    Zitiert nach Martin Dannecker: Der homosexuelle Man im Zeichen von Aids, Hamburg: KleinVerlag (1991), S. 96, Sigusch war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Textes 1989 noch keine fünfzig Jahre alt.

  18. 18

    Interview mit Friedl Nussbaumer, geführt von Katharina Kührner am 3. Februar 2022.

  19. 19

    Patrick Henze-Lindhorst: AIDS als kollektives Trauma: Über die eine Verbundenheit schwuler Generationen, Berlin: Querverlag (2022), S. 42.

  20. 20

    Michael Callen, Dan Turner: »Geschichte der Selbsthilfe-Bewegung von Menschen mit AIDS«, in: Andreas Salmen (Hg.): ACT UP: Feuer unterm Arsch: Die AIDS-Aktionsgruppen in Deutschland und den USA, Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe (1991), S. 914, hier S. 9; zur Entwicklung in der BRD in den 1980er Jahren vgl. Dieter Telge: »Krise als Chance: AIDS-Selbsthilfebewegungen in Wechselwirkung mit schwulen Emanzipationsbestrebungen«, in: Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hg.): Zwischen Autonomie und Integration: Schwule Politik und Schwulenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren, Hamburg: Männerschwarm (2013), S. 153160.

  21. 21

    Cindy Ruskin: The Quilt: Stories From The Names Project, New York: Pocket Books (1988), S. 18.

  22. 22

    Janet Frohlich: »The Impact of AIDS on the Community«, in: S. S. Abdool Karim, Q. Abdool Karim (Hg.): HIV/AIDS in South Africa, 2. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press (2010), S. 373392, hier S. 378.

  23. 23

    Dean W. Lewter: AIDS Survivor Grief: Varying Perspectives, (Dissertation, Texas Tech University 1991), https://ttu-ir.tdl.org/bitstream/handle/2346/18124/31295013633523.pdf?sequence=1.

  24. 24

    »The History of the QUILT«, https://www.aidsmemorial.org/quilt-history.

  25. 25

    Interview mit Friedl Nussbaumer, geführt von Katharina Kührner am 3. Februar 2022.

  26. 26

    Interview mit Friedl Nussbaumer, geführt von Katharina Kührner am 3. Februar 2022.

  27. 27

    Michael Handl: »Silence=Death. Action=Life. AIDS≠Österreichische AIDS-Hilfe«, in: Lambda Nachrichten 12/4 (19.Oktober 1990), S. 57, hier S. 5. Alle Ausgaben der Lambda-Nachrichten sind online als pdf-Datei abrufbar unter https://lambdanachrichten.at/.

  28. 28

    Kurt Krickler: »Die Österreichische AIDS-Hilfe löst sich auf«, in: Lambda-Nachrichten 13/2 (1991), S. 2325, hier S. 23.

  29. 29

    Michael Handl: »Silence=Death. Action=Life. AIDS≠Österreichische AIDS-Hilfe«, in: Lambda-Nachrichten 12/4 (1990), S. 57, hier S. 7.

  30. 30

    Kurt Krickler: »Die Österreichische AIDS-Hilfe löst sich auf«, in: Lambda-Nachrichten 13/2 (1991), S. 2325, hier S. 24.

  31. 31

    Kurt Krickler: »AIDS-Notstand in Wien«, in: Lambda-Nachrichten 13/2 (1991), S. 2528, hier S. 25.

  32. 32

    Kurt Krickler: »AIDS-Notstand in Wien«, in: Lambda-Nachrichten 13/2 (1991), S. 2528, hier S. 26.

  33. 33

    Dieter Schmutzer: »Der Tod ist groß: Zum Ableben von Reinhardt Brandstätter und Michael Handl«, in: Lambda-Nachrichten 14/3 (1992), S. 5.

  34. 34
  35. 35

    Interview mit Friedl Nussbaumer, geführt von Katharina Kührner am 3. Februar 2022.

  36. 36
  37. 37

    Interview mit Friedl Nussbaumer, geführt von Katharina Kührner am 3. Februar 2022.

  38. 38

    Friedl Nussbaumer: »Geschichte(n) vom Names Project Wien«, in: Lambda-Nachrichten 15/1 (1993), S. 2629.

  39. 39

    Vgl. dazu den Beitrag von Livia Suchentrunk in diesem Band.

  40. 40

    Interview mit Friedl Nussbaumer, geführt von Katharina Kührner am 3. Februar 2022.

  41. 41

    Vgl. den Beitrag von Sarah Kresser in diesem Band.

  42. 42

    Der Titel nahm Bezug auf die Publikation von Joe Brown (Hg.): A Promise to Remember: The Names Project Book Of Letters, New York: Avon Books (1992).

  43. 43

    Vgl. z. B. Lambda Nachrichten 18/2 (9. April 1996), S. 4852.

  44. 44

    »With Love and Respect«, in: Lambda-Nachrichten 21/3 (1999), S. 710.

  45. 45

    Fast alle Gedenktücher sind abrufbar unter: https://www.namesproject.at/pages/tuecher.html.

  46. 46

    »HIV/AIDS in Austria: 42nd Report of the Austrian HIV Cohort Study« (2022), S. 9, https://aids.at/wp-content/uploads/2022/06/42_Kohortenbericht_Maerz_2022_oeffentlich.pdf.

  47. 47

    Martin Dannecker: »Abschied von Aids«, in: ders.: Fortwährende Eingriffe: Aufsätze, Vorträge und Reden zu HIV und AIDS aus vier Jahrzehnten, Hamburg: Männerschwarm (2019), S. 155161, hier S. 157.

  48. 48

    »Hohes Haus trägt wieder Rote Schleife«, https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2010/PK0956/.

  49. 49

    Siehe Beitrag von Katharina Pagitz in diesem Band.

  50. 50

    Interview mit Friedl Nussbaumer, geführt von Katharina Kührner am 3. Februar 2022.

  51. 51

    NAMES Project Wien: Präsentationen, https://www.namesproject.at/pages/praesent.html.

  52. 52
  53. 53

    Marco Mrusek: »PrEP reduziert Neuinfektionen«, in: CME 16 (2019), S. 33, https://doi.org/10.1007/s11298-019-7228-1.

  54. 54

    Jutta Kroisleitner: »Charlize Theron, Schauspielerin«, in: Der Standard, https://www.derstandard.at/story/2000013818217/charlize-theron-schauspielerin (2015).

  55. 55

    »UNO verabschiedet Erklärung zur Aids-Bekämpfung«, in: ORF.at, https://orf.at/stories/3216561/ (9. Juni 2021).

  56. 56

    »UNAIDS: Fortschritte bei der HIV-Bekämpfung geraten ins Stocken«, https://unric.org/de/280722-aids/ (28. Juli 2022).

  57. 57

    Jana Reiniger: »Memo ist HIV-positiv und lebt ein ganz normales Leben«, in: Moment, https://www.moment.at/story/wie-leben-menschen-mit-hiv-in-oesterreich (3. August 2021).