Æ Æther

Rechtes Wissen: Konstellationen zwischen Universität und Politik
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Simon Kräuchi

Antiakademie im Cyberspace

In den Onlineforen der amerikanischen neuen Rechten versammeln sich Theoretiker*innen, die eine zweite, »dunkle« Aufklärung fordern. Der Antiakademismus, der dabei lautstark zu Tage tritt, ist allerdings nicht nur Produkt virtueller Abgeschiedenheit. Vielmehr lässt er sich an jene Institution zurückverfolgen, die die intellektuellen Unternehmer des »Dark Enlightenment« verteufeln: die Universität.

Ein junger Mann – bleiche Haut, kurz geschorene, braune Haare, schmale Statur – liegt auf dem Boden, in den Händen ein Mikrofon, in das er kaum zu identifizierende Laute röchelt. Begleitet wird das Schauspiel vom Wummern der Technomusik. Um ihn herum versammelt sich eine gebannte Menschenmenge: Es handelt sich um einen Vortrag im Rahmen der »Virtual Futures« Konferenz 1996 an der Universität Warwick, England.1

Mehr als zehn Jahre später – 2013 um genau zu sein – betritt eben jener Mann – sein Name ist Nick Land – mit einer radikalen, politischen Schrift die Bühne des Internets.2 Sein unter dem unheilverkündenden Titel »Dark Enlightenment« stehendes Werk unternimmt den Versuch, die Ansichten des Bloggers Mencius Moldbug zu systematisieren. Moldbug, der mit bürgerlichem Namen Yarvin Curtis heisst und sich unter anderem als Gründer des Silicon Valley-Startups Urbit hervorgetan hat, entwickelte auf seinem Blog ein politisches – reaktionär antidemokratisches – Programm mit dem Ziel, den vermeintlichen Niedergang der westlichen Zivilisation aufzuhalten. In diesem mit dem Namen »Neo-Reaction« versehenen Programm skizzierte Moldbug die Gründe, welche seiner Ansicht nach zum Umbau demokratischer Systeme in autoritäre Staaten drängten.3

Die Theorien von Land und Moldbug fanden schnell überschwänglichen Zuspruch in den Internetforen der amerikanischen Neuen Rechten – insbesondere bei jener Fraktion, die fortan als »Alt-Right« von sich reden machte. Wissenschafts- und technikaffin, gespickt mit Verweisen auf libertäres und soziobiologisches Gedankengut, lieferten die Theorien von Land bzw. Curtis einen intellektuellen Denkrahmen, innerhalb dessen die vermeintlichen Probleme der Gegenwart vorgeblich ›rational‹ diskutiert werden konnten.

Die zu Beginn nur im Abseits der Blogosphären zirkulierenden Theorien gelangten im Verlauf der letzten Jahre verstärkt an die Oberfläche: Spätestens seit der Wahl Donald Trumps wurde auch die breitere Medienöffentlichkeit auf die ›rechten‹ Kreise des Internets aufmerksam.4 Der Diskurs der Medien bemühte sich hauptsächlich darum, eine ideologische Verbindung dieser neuen bzw. ›alternativen‹ rechten Bewegung des Netzes – der »Alt-Right« – zum Silicon Valley nachzuweisen; auch die Begriffsschöpfung »Dark Enlightenment« und deren Ursprünge gerieten hierbei in den Fokus.5 Hauptfigur dabei: der bereits genannte Mencius Moldbug – der Silicon Valley Unternehmer und Programmierer. Die Spuren Nick Lands, der als zweitwichtigster Vordenker des »Dark Enlightenment« direkt nach Moldbug gehandelt wurde, führten über China (wo Land sich mittlerweile aufhielt) nach England: zur Cybernetic Culture Research Unit, kurz CCRU, eines kurzlebigen Kollektivs rebellischer Philosoph*innen, Künstler*innen und Musiker*innen, das sich im Dunstkreis der Universität Warwick formiert hatte. Die radikal ablehnende Kritik an den Institutionen demokratischer Gesellschaften à la »Dark Enlightenment« florierte, so scheint es, nicht zufällig in Räumen, die quer zu ›traditionellen‹ Produktionsorten des Wissens – konkret der Universität – stehen.

Abb.1: Virtual Futures '96: Datableed, Konferenz-Broschüre. Zu den Teilnehmer*innen zählte der Philosoph Nick Land: »A unique and exciting author, the UK's antidote to Californian cyberhippiedom«.

Ideen, wie sie von den Akteuren des »Dark Enlightenment« vertreten werden, präsentieren sich gerne als etwas, das am Rand der Gesellschaft – sei es auf Internetforen, in den Köpfen abgehobener Silicon Valley ›Denker‹ oder gegenkultureller Unternehmungen – entsteht und von aussen gegen diese in Stellung gebracht wird.6 Die Motivik allerdings ist nicht neu: Sie lässt sich bis in die 1990er Jahre zurückverfolgen. Und bereits damals wurde ein kritischer Diskurs um Technologie, Kapitalismus und antidemokratische Ideen geführt: eine »Kalifornische Ideologie« würde sich, so hiess es damals, immer weiter ausbreiten und eine Kombination von Individualismus, Elitismus, Tech-Gläubigkeit und Hyper-Kapitalismus predigen, dabei allerdings demokratische Institutionen und Solidarität untergraben – bis hin zu faschistoiden Tendenzen, die sich etwa in der Aufspaltung der Gesellschaft in eine »virtuelle«, global agierende Oberschicht und allen anderen manifestieren würde: »surplus-bodies«.7

Auch die CCRU – die para-universitäre Forschungseinheit, der Land ab 1995 angehörte, bevor er sich als Theoretiker von »Dark Enlightenment« selbstständig machte – kann zu dieser Welle gezählt werden. So erstaunt es umso mehr, dass der mediale Diskurs, der sich in den letzten Jahren um »Alt-Right«, »Dark Enlightenment« und dergleichen entfaltete, diesem Motiv des Antiakademismus bzw. dessen historischen Fäden relativ wenig Beachtung schenkte. Im Folgenden möchte ich diese Spur nachzeichnen. Der antiakademische Habitus des »Dark Enlightenment«, so lässt sich auf diesem Weg zeigen, ist dem universitären System keineswegs so äusserlich, wie es zunächst den Anschein hat. Vielmehr lässt er sich als Produkt sich verändernder Bedingungen der akademischen Wissensproduktion lesen.

Die Idee einer »Anti-Versity«

Zur Einordnung lohnt es sich, zunächst noch beim »Dark Enlightenment« zu verweilen. Wie erwähnt sind die beiden wichtigsten intellektuellen Vertreter dieser Strömung – Mencius Moldbug und Nick Land – davon überzeugt, dass das westliche politische System – im Speziellen das U.S.-amerikanische – auf Täuschungen und Irrglauben beruht. Insbesondere behaupten sie in ihren Schriften, dass fundamentale Grundannahmen, auf denen moderne Demokratien beruhen – allen voran die Gleichheit der Menschen –, keine ›wissenschaftliche‹ Basis besitzen und deshalb haltlose Ideologien darstellen. Die Bewohner*innen dieser Demokratien würden solche fehlerhaften Grundprinzipien nur deshalb akzeptieren, weil wichtige ›liberale‹ Institutionen – Universitäten, aber auch Medien oder einflussreiche Prominente – den irrationalen Glauben des Universalismus praktizieren, verbreiten und somit über die Unhaltbarkeit der demokratischen Grundprinzipien hinwegtäuschen. Passend zum Begriff des Glaubens bezeichnet Moldbug diese Institutionen als »Cathedral«.

Anhand Richard Dawkins’ Buch The God Delusion (2006) entwickelte Moldbug im Blogbeitrag »How Dawkins got Pwned« [sic] 2007 den Gedanken, dass der Universalismus eine für die Gesellschaft schädliche Religion darstellt. Dawkins – ein Evolutionsbiologe, ›Atheist‹ und selbst notorischer Verfechter von ›Aufklärung‹ – behauptete in seinem Buch (gemäss der Interpretation von Moldbug), dass Religionen keine faktische Basis aufweisen und nur durch eine parasitäre Täuschung überleben können:

»First, a parasitic meme is not even parasitic if it is not delusional. It must contain some assertion which is alien to reason, which no sensible person would independently invent. The »God delusion«—a metaphysical construct [...] with no basis in reality—is a perfect example«.8

»Meme«, eine von Dawkins ursprünglich Ende der 1970er Jahre in Umlauf gesetzte quasi-darwinistische Metaphorik, die in Anlehnung an das Konzept des »Gens« die Replikation bzw. Verbreitung von Ideen verständlich machen sollte,9 bezeichnet hier die kleinste Einheit der sozialen Täuschung: eine nicht weiter spezifizierte Nachahmungshandlung, durch die ein menschliches Subjekt Träger*in einer parasitären delusion (wie eben jener des Universalismus) werden kann – Moldbug spricht in dem Zusammenhang auch von Viren. Anders als Dawkins, dessen Argument in The God Delusion auf theistische Religionen zielte, dehnt Moldbug seine Kritik auf das gesamte Moralsystem westlicher Gesellschaften aus.

Abb. 2: Schon in den 1990er Jahren wurde ein kritischer Diskurs um neue Technologien, Kapitalismus und antidemokratische Ideen geführt. So etwa von den Theoretiker*innen Arthur und Marilouise Kroker, hier im Interview mit der Zeitschrift monochrom (1996): »Einer von euch hat den seltsamen Ausdruck ›Liberaler Faschismus‹ erfunden. Könntet Ihr beschreiben, was Ihr damit meint?«

Um die Behauptung zu untermauern, dass der säkulare Universalismus so unvernünftig wie religiöser Glaube ist, nämlich im Konflikt mit wissenschaftlichen Tatsachen steht, wendet sich Moldbug dem von ihm sogenannten zentralen Grundsatz des Universalismus zu: »Let’s start with what might well be Universalism’s central belief, the principle of fraternism. Fraternism is the belief that all men men and women are created born equal [sic]«.10

Für Moldbug ist klar, dass diese Grundannahme nicht bestätigt werden kann. Er rekurriert hierzu auf genetische Forschung, die angeblich Unterschiede in Intelligenz und Gehirngrösse zwischen verschiedenen menschlichen ›Rassen‹ festgestellt habe und somit der von Moldbug ausgewiesenen Zentralthese des Universalismus – dass alle Menschen gleich geboren werden – widerspricht. Moldbug verknüpft hierbei den Anspruch auf Vernunft und Wahrheit mit positivistischer und statistischer Wissenschaft. Alles was von dieser nicht verifiziert oder erfasst werden kann, wird von ihm als sozialer Irrglaube abgetan. Auch moralische Vorstellungen hätten dementsprechend nur solange Gültigkeit, wie sie sich auf ›wissenschaftliche‹ Tatsachen berufen können. Dies, so triumphiert Moldbug, gelte für den Universalismus ganz sicher nicht. In seiner Weiterentwicklung der Ideen Moldbugs fasst Land diese Irrationalität der universalistischen Moral wie folgt zusammen: »If the facts are morally wrong, so much worse for the facts – that’s the only position that could possibly be adopted [inside the »Cathedral«], even if it’s based upon a mixture of wishful thinking, deliberate ignorance, and insultingly childish lies«.11

Was tun? Um die hegemoniale Stellung der »Cathedral« zu brechen, konzeptioniert Moldbug in seinen Schriften die Idee einer »Anti-versity« – das radikale Gegenstück der Universität, ein Freiraum jenseits aller ›Denkverbote‹. In dieser solle wirkliches wissenschaftliches Vorgehen praktiziert werden, ohne sich durch die moralistischen ›Lügen‹ der »Cathedral« ablenken zu lassen. Es wäre wohl übertrieben zu behaupten, dass die Diskussionen in den Onlineforen zu »Dark Enlightenment« bereits eine tatsächliche Institutionalisierung dieser Ideen darstellen würden. Im Diskurs der Online-Rechten sind sie dennoch der einzig verbleibende Raum, in dem die ›Wahrheiten‹ noch (oder wieder) zu Tage treten können – notwendigerweise, wie Nick Land schreibt, als thoughtcrime:

»The war on political incorrectness creates data-empowered, web-coordinated, paranoid and poly-conspirational werewolves, superbly positioned to take advantage of liberal democracy’s impending rendezvous with ruinous reality, and then play their part in the unleashing of unpleasantness that are scarcely imaginable (except by disturbing historical analogy). When a sane, pragmatic, and fact-based negotiation of human differences is forbidden by ideological fiat, the alternative is not a reign of perpetual peace, but festering of increasingly self-conscious and militantly defiant thoughtcrime, nourished by publicly unavowable realities, and energized by powerful, atavistic, and palpably dissident mythologies. That’s obvious, on the ›Net‹.«12

In seinen Schriften konzeptioniert Moldbug die Idee einer »Anti-versity« – das radikale Gegenstück der Universität, ein Freiraum jenseits aller ›Denkverbote‹.

Im »Netz« lassen sich dann auch durchaus Initiativen finden, solche »Anti-versities« in die Tat umzusetzen. Das Forum »Dark Enlightenment« auf Reddit (online seit Juni 2013) etwa stellt sich mit diesen Worten vor: »A place to discuss the terrible state of the modern world that has resulted from the progressive religion of egalitarianism. Topics: Dark Enlightenment, Neoreaction, Moldbug. ›In a time of universal deceit, telling the truth is a revolutionary act‹«.13 Es wird dort also die ›Wahrheit‹ angestrebt, die als revolutionärer Bruch mit der gegenwärtig hegemonialen, »progressiven Religion« des Egalitarismus betrachtet wird. Diese ›Wahrheit‹ soll aus dem Zustand herausführen, der durch egalitaristische Bemühungen herbeigeführt wurde. Konkret verorten die Vertreter*innen des »Dark Enlightenment« ihre Feinde etwa im von ihnen so bezeichneten »postmodernen« Lager. So besagt die erste Regel des Dark Enlightenment-Forums auf Reddit »1. No Post-Modern discourse«.14 Im Weiteren wird der verbotene postmoderne Diskurs wie folgt charakterisiert:

»[I]t relies primarily on deceptive argument tactics more concerned with winning over the crowd rather than the objective determination of truth. For example, claiming something is offensive and thus shouldn’t be discussed regardless of whether or not it is true«.15

Der »postmoderne Diskurs« erfüllt somit exakt die Rolle einer unwissenschaftlichen Religion, er ist der Diskurs der »Cathedral«: Aus moralischen oder sonstigen taktischen Gründen wird von der faktischen Realität abgelenkt, Sprech- und Denkverbote etabliert, und damit die ›Wahrheitsfindung‹ untergraben.

Abb. 3: Dark Enlightenment ›Memes‹.

Um diese objektive ›Wahrheit‹ trotz allem aufzuspüren, tauschen die Teilnehmenden in den Onlineforen entsprechend (vermeintlich objektive) Daten, Belege und Fakten aus – vorwiegend solche, die vom Irrglauben des Universalismus unterdrückt würden. Im Mittelpunkt steht dabei, wie schon bei Moldbug, die angeblich ›wissenschaftlich‹ erwiesene Ungleichheit der Menschen: Unter dem Euphemismus »Human Bio Diversity« – kurz HBD – werden etwa vermeintlich erwiesene genetisch-biologische Unterschiede zwischen Menschen-›Rassen‹ diskutiert, Indizien gesammelt, Diagramme geteilt usw.

Ein Beispiel aus dem (mittlerweile gelöschten) HBD-Reddit Subforum illustriert eingehend, wie sich dabei der bereits erwähnte statistische Positivismus als Basis aller objektiven ›Wahrheit‹ – oder in Moldbugs Terminologie: der Vernunft – durchsetzt. In einem Post mit dem Titel »U.S. ethnic gaps in reading & math as of 2019« ist bzw. war eine Website – pumpkinperson.com – verlinkt, auf der Testresultate von US-amerikanischen Schüler*innen nach Ethnie sortiert und zusätzlich in IQ-Punkte umgerechnet wurden. Den Kommentarspalten des Forums nach zu urteilen, wurden diese Resultate bzw. ›Berechnungen‹ als Belege für genetische Differenzen zwischen besagten Ethnien gewertet.16 Der Versuch, eine soziale Erklärung für die Daten zu liefern oder die zugrundeliegende Klassifikation ›Ethnie‹ zu hinterfragen, wäre im Kosmos von R/HBD ein unverzeihlicher postmoderner Akt, der über die Objektivität der Zahlen hinwegzutäuschen versucht – oder kurz, eine Lüge.

Das Programm von »Dark Enlightenment« erschöpft sich allerdings nicht im Aufzeigen der Ungleichheit der Menschen bzw. im Beweis für die Irrationalität des Universalismus: Der Ausbruch aus dessen »Gefangenschaft« stehe noch bevor. Insbesondere Land, der die »Cathedral« mehr noch als Moldbug mit (europäischer) Sozialdemokratie und Sozialismus in Verbindung bringt, konzipiert diesen Ausbruch dann auch weniger als Frage des besseren Arguments, sondern letztlich als Abwendung von der öffentlichen Debatte überhaupt. Bemüht wird stattdessen das »Refugium« anarcho-libertärer Entkopplung:

»More dialectics is more politics, and more politics means ›progress‹ – or social migration to the left. The production of public agreement only leads in one direction, and within public disagreement, such impetus already exists in embryo. It is only in the absence of agreement and of publicly articulated disagreement, which is to say, in non-dialectics, non-argument, sub-political diversity, or politically uncoordinated initiative, that the ›right-wing‹ refuge ›the economy‹ (and civil society more widely) is to be found«.17

Lands Vorstellung eines ökonomisch organisierten Austritts aus der Demokratie orientiert sich hier vordergründig an der politischen Theorie des deutsch-jüdisch-amerikanischen Ökonomen Albert O. Hirschman (1915–2012). Demnach können Individuen Kritik am Staat entweder durch »Voice« – alle Formen des artikulierten Widerstandes: Abstimmungen, Protest, Petitionen, Bürger*inneninitiativen und so weiter – oder durch »Exit« – Verlassen des Staatsgebietes – üben.18 Insofern für Land die Artikulation von Kritik immer nur zu einer Reproduktion der »Cathedral« führen kann, könne demnach nur ein politisches System, das auf die Strategie des »Exit« aufgebaut ist, eine von universalistischen Dogmen befreite Gesellschaft garantieren. Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass es nur noch Staaten geben soll, die wie Unternehmen konstruiert sind und zwischen denen die Bürger*innen wie Konsument*innen wählen können.19 An der Spitze dieser Unternehmensstaaten soll ein CEO-König – Frauen sind für diese Aufgabe gemäss »Dark Enlightenment« nicht geeignet – stehen, der dafür zu sorgen hat, dass sein Königreich für die Bürger-Konsument*innen möglichst attraktiv ist. (In den Onlinedebatten zu diesem Thema werden oftmals die grossen Technologiekonzerne als Vorbilder für diese Unternehmensstaaten gewählt: Elon Musk etwa ist ein beliebter Kandidat für das Amt des CEO-Königs.)

Überspitzt ausgedrückt macht den Kern von »Dark Enlightenment« also die Stilisierung eines souveränen, wissenden und heroischen Individuums aus, das sich aus den Fängen der »Cathedral« zu befreien weiss. Dieses Wissen könne sich das Individuum nicht innerhalb der akademischen Institutionen aneignen, sondern es müsse notwendigerweise aus diesen heraustreten. Auf der politischen Ebene spiegelt sich diese Haltung darin wieder, dass ›Politik‹ nicht als gesellschaftliches, kollektives Projekt verstanden wird, sondern vielmehr als quasi-marktwirtschaftlicher Prozess, an dessen Horizont ebenfalls der (individuelle) Exit steht.

CCRU und Virtual Futures

Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass es nur noch Staaten geben soll, die wie Unternehmen konstruiert sind.

Woher nun aber stammen solche Denkgebäude? Eine Spur führt, wie bereits angedeutet, ins England der 1990er Jahre, konkret an die Universität Warwick: Dort hat Nick Land, damals Lehrbeauftragter für Kontinentale Philosophie, gemeinsam mit der Kulturtheoretikerin Sadie Plant, die zuvor am Centre for Contemporary Cultural Studies der Universität Birmingham unterrichtet hatte, die Cybernetic Culture Research Unit, kurz CCRU, 1995 gegründet. Ziel dieser Research Unit war es, einen Ort für interdisziplinäre Forschung zu etablieren – an der Schnittstelle von Plants bzw. Lands damaligen Interessen: Kybernetik und »cyber-theory«, Kunst, Literatur, elektronische Musik »plus chaos, complexity and connection theory«.20

Die Forschung der CCRU drehte sich – wie der Name schon vermuten lässt – um die technologischen und kulturellen Sphären des in den 1990er Jahren vielbeschworenen, kommenden digitalen Zeitalters. Die CCRU bemühte sich dabei um eine neue Perspektive auf die untersuchten Phänomene: weg vom ›Humanismus‹ der klassischen Kulturwissenschaften hin zu einem Verständnis technischer Objekte als eigenständiger Akteure. So sahen Plant und Land nicht nur die entstehende Sphäre des Digitalen, sondern etwa auch die globale Zirkulation von Drogen wie Kokain, MDMA und »other software diseases« als Syndrom kapitalistischer Beschleunigung.21

Für Land waren es die synthetisch-maschinellen Akkumulationsprozesse des Kapitals, die sich so verselbstständigten und die humanistische Sphäre – das »Human Security System« – unterwanderten und aktiv veränderten.22 Auf der Ebene der Methode wurde diese Eigenständigkeit der Objekte und Prozesse an der CCRU zudem insofern forciert, als soziale oder diskursive Gefüge, anders als in den ›klassischen‹ Kultur- und Sozialwissenschaften, nicht als Erklärungsgrundlage herangezogen wurden. Vielmehr wurde versucht, die – meist als technisch verstandene – Realität der Objekte möglichst ›direkt‹ darzustellen.

Ein 1996 in der von der CCRU herausgegebenen »Abstract Cultures«-Pamphletserie erschienener Essay illustriert diese Herangehensweise. Kodwo Eshun, ein CCRU-Mitglied, erläuterte dort am Beispiel »black music« seinen Ansatz, möglichst unmittelbar – ohne Rückgriff auf biographische und soziale Faktoren – auf das Untersuchungsobjekt zuzugreifen.23 Eshun selbst präsentierte sich dabei nicht als Autor oder Musikwissenschaftler, sondern als »Konzept-Ingenieur«. Dementsprechend verstand er auch sein eigenes Werk nicht als ein literarisches Erzeugnis oder Forschungsresultat, sondern als cut&paste Maschine – ein Sampler. In Eshuns Musikstudien äusserte sich dies etwa in der Bevorzugung des »Vinyls«, der materiellen Existenz der Musik, als Untersuchungsgegenstand – gegenüber dem »sozialen Hintergrund« der Kunstschaffenden als kulturellen Bedingungen des Kunstwerks: »My aim is to suspend all of that, absolutely«.24

Abb. 4: Virtual Futures 1995: Cyberevolution, Konferenz-Broschüre.

Diese Ideen kommen auf der Ebene der Darstellungsform mit gravierenden Unterschieden zur traditionellen wissenschaftlichen Produktion einher. Beispielsweise wurde der elliptische Stil von Land als Weg gesehen, die besagte Realität der Objekte zu kommunizieren – weg vom Zeichen und Symbol der Kultur und des Sozialen hin zu Code und Maschine: »Recording devices. Copiers. Faxes. Samplers. K-stammer (((re)re)reruns) cross-cut by orphan drift. Repeat infection. All hype hype hype hype hype hype hype hype hypervirus strains are plastic and interoperative«.25

Neben der Ellipse als Annäherung an den abgehackten ›Klang‹ einer maschinellen Welt wurde mit computercode-artigen Satzkonstruktionen als Gegenstück zum literarischen Zeichen gearbeitet – Versuche, okkult-abstrakte Gedankengänge in mathematischer Sprache darzustellen:

»AxS:000 Oedipus. Pure (Oedipal (figure made out of (nothing but))) time-distortion.

AxS:0001 Closed fate (-loop (multi-linear)) nightmares.

AxS:0002 Altitude times Spin produces a chronometric read-out«.26

Betrachtet man dieses Experimentieren mit Darstellungsformen im Zusammenhang mit den oben skizzierten Forschungsgebieten, liegt der Schluss nahe, dass man an der CCRU hoffte, durch mathematisierte und technisierte Sprache einen adäquateren Zugang zu den Untersuchungsgegenständen herzustellen. Dies verdeutlicht, wie für die CCRU-Denker*innen jene maschinelle und digital-technische Welt – eine Welt der Codes, Zahlen und virtueller Prozesse – als realer oder ontologisch fundamentaler fungiert als die soziale Welt des Symbolischen – etwas, was bereits in Lands Gegenüberstellung von technischem Kapitalismus und dem von ihm sogenannten »Human Security System« angedeutet ist.

Diese Weltsicht blieb für die CCRU dann auch nicht nur Ausgangspunkt theoretischer Untersuchungen, sondern beinhaltete eine Lebenshaltung – in Verbindung mit jener fundamentaleren Realität des Technischen. Mit dem Begriff »cyberpositive« wird diese Haltung umschrieben: eine Haltung, die die Aufhebung des »Human Security Systems« – also der menschlichen Scheinrealität – durch die Prozesse des maschinell beschleunigten Kapitalismus begrüsst. Die Zerstörung des »Human Security Systems« durch die maschinellen Kräfte des Kapitalismus wurde dabei weitestgehend als eine Befreiung des Individuums von den Fesseln der Gesellschaft – in manchen Fällen sogar des Menschseins – betrachtet. 1996 formulierte Land diesen Gedankengang unter anderem als prophetische Spekulation über den in naher Zukunft eintreffenden Zusammenbruch des akademischen Bildungssystems durch die im »Meltdown« entfesselten Kräfte des digitalen Kapitalismus:

»The meltdown of metropolitan education system in the near future is accompanied by a quasi-punctual bottom-up takeover of academic institutions, precipitating their mutation into amnesiac cataspace-exploration zones and bases manufacturing cyberian soft-weaponry«.27

Die Nähe zum Antiakademismus des späteren Cathedral-Diskurses scheint evident, allerdings verwies die antiakademische Wissenschaft der CCRU tendenziell in andere Richtungen: nicht Exit-Fantasien, Hyper-Rationalismus und CEO-Könige standen im Mittelpunkt der Theoriearbeit, sondern die Herstellung kreativ-hedonistischer »exploration zones«. Basierend auf den oben skizzierten Ideen wurde an der Universität Warwick eigens eine Konferenzreihe ins Leben gerufen: Die eingangs erwähnten »Virtual Futures« Tagungen. Abgehalten wurde dieses »Laboratorium« drei Mal: 1994, 1995 und 1996. Der cyber-theoretischen Vision eines materiell verfassten, experimentell zu erfahrenden Wissens folgend, war die Tagung nicht als rein akademische geplant: neben Vorträgen und Diskussionen wurden auch Kunstinstallationen, Filmvorführungen und Technopartys für eine technisch-sinnliche Gesamterfahrung mobilisiert.28 Dementsprechend reichen auch etwa die zum Tagungsband der »Virtual Futures 1996«-Konferenz beitragenden Personen von Stephan Pfohl – Professor für Soziologie am Boston College, USA – bis hin zu Stelarc – ein Performance-Künstler, der (laut Tagungsprogramm) durch Eingriffe am eigenen Körper aufzeigte, »the extent to which the body is being transformed, & may yet be eclipsed, by the influence of new technology«.29 Dazwischen fanden sich Personen mit einem universitären Hintergrund, wie etwa Eric Cassidy – damals Philosophiestudent an der Universität Warwick –, nicht zuletzt aber auch Personen aus der Kunst- und Kulturszene, darunter Manuel De Landa – ein von der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari inspirierter Autor und Videokünstler aus New York –, oder VNS Matrix – eine Gruppe cyberfeministischer Aktivistinnen aus Australien.

Für die Tagung von 1995 – Motto: »Cyberevolution« – wurden die neuen Formen der Wissensproduktion, die bei »Virtual Futures« entwickelt werden sollten, wie folgt beschrieben:

»We have gathered you here this weekend to bury the 20th century & begin work on the 21st. We are children of the 21st century & live already in the future unknown, uncovering every day vast new landscapes for exploration. We will not know the results of the tumultuous global changes we are undergoing and creating for a hundred years or more, if we can survive them, but we are less interested in knowledge than in experiencing these changes. ›So far philosophers & artists have only interpreted situations; the point now is to transform them, to create situations worthy of our desires.‹ Any post-nietzschean, post-marxist or post-wittgensteinian philosophy is based on experimentation, & so we offer ourselves up to you as your laboratory for the weekend. And you are our lab rats…«30

Nicht die Aufhäufung und Vermehrung von Wissen, sondern das Erleben und das Erschaffen einer zukünftigen Welt sollte hier geleistet werden. Hierzu wurden etwa »Experimente« angestellt (wie Nick Lands eingangs beschriebene Lecture-Performance), was durchaus als ein Verweis auf positivistische Praktiken der Erkenntnisgewinnung verstanden werden kann, wozu auch die erwähnten Schreibpraktiken (Zahlen, Codes, Diagramme) gezählt werden können. Die bekundete Absicht allerdings lag auf dem aktiven Eingreifen in die zukünftige Welt, nicht nur dem Nachvollziehen und Interpretieren der Umgestaltungen. Die neue Form des Wissens sollte damit jene Prozesse beschleunigen, die zu einer noch rasanteren Umgestaltung der Welt führen – verstanden als maschinisierter, digitaler Kapitalismus –, wobei selbst die Auflösung des ›Menschen‹ in Kauf genommen wurde (Stichwort: Post-Humanismus).31

Abb. 5: »The zeros and ones of machine code seem to offer themselves as perfect symbols of the orders of Western reality, the ancient logical codes which make the difference between on and off, right and left, light and dark, form and matter, mind and body, white and black, good and evil, right and wrong, [...]«. Buchseite aus Sadie Plant: zeros + ones: Digital Women and the New Technoculture (1997)

Die Zielsetzung, aktiv in die Produktion einer zukünftigen Kultur einzugreifen führte (neben anderen Gründen) schlussendlich dazu, dass die CCRU von der Universität abwanderte. Bereits im Jahr 1997 kehrte Sadie Plant der Universität Warwick wieder den Rücken, um eine Karriere ausserhalb des akademischen Feldes zu verfolgen. Und bald schon verliessen auch Nick Land und die restlichen CCRU-Mitglieder die Räumlichkeiten der Universität Warwick – gemäss offizieller Darstellung, weil Sadie Plant nie die Formulare ausgefüllt hatte, die notwendig gewesen wären, um die CCRU zu einem permanenten Institut der Universität Warwick zu machen.32 Die Mitglieder der CCRU zeigten sich allerdings nicht sonderlich betrübt über den Abgang von der Universität, vielmehr sahen sie darin die Chance, sich aus der Starre der Institution zu befreien und ihren Forschungen so intensiver nachgehen zu können.33

Die Abwanderung der CCRU erfolgte, wenn auch nicht immer ganz freiwillig, parallel zur Verabschiedung klassischer akademischer Laufbahnen durch die CCRU-Mitglieder: Sadie Plant etwa, die britischen Medien damals als avantgardistisches »It girl for the 21st century« galt, sollte später Studien im Auftrag privatwirtschaftlicher Akteure verfassen – zum Beispiel für Motorola.34 Mark Fisher – ein weiteres, mittlerweile verstorbenes Mitglied der CCRU – beschritt einen ähnlich prekären Lebensweg. Nach seiner Zeit bei der CCRU arbeitete er unter anderem als Lehrer, Journalist – zum Beispiel für die Musikzeitschrift The Wire – und freischaffender Autor bzw. Blogger unter dem Pseudonym »k-punk«.35 Andere Mitglieder der CCRU – so etwa Steve Goodman alias Kode9, der Betreiber des Technolabels Hyperdub – kombinierten ihre Theoriearbeit ebenfalls mit Kulturschaffen. Die theoretische Aufgabe, die Kultur der Zukunft zu produzieren, nicht (nur) zu erforschen, mündete für viele (ehemalige) Mitglieder der CCRU in Karrieren innerhalb der Kreativindustrie.36

Wurden, wie gesehen, an der CCRU derartige Schnittstellen zur Welt jenseits der Universität geradezu avantgardistisch kultiviert, so lagen die Karrieren der ehemaligen CCRU-Mitglieder dennoch im Trend. In den 1980er und 1990er Jahren wurden, nicht zuletzt in Grossbritannien, zunächst unter Margaret Thatcher, dann unter Tony Blair, verstärkt wirtschaftliche Ansprüche an die universitäre Ausbildung gestellt und die Universitäten neoliberalen Vorgaben entsprechend umgestaltet: Nicht mehr die Ausbildung von Nachwuchsforschenden, sondern die Ausbildung von Arbeitskräften für die Privatwirtschaft stand im Zentrum der Lehrtätigkeit – wobei Privatwirtschaft zusehends als Sache des ›tertiären‹ Sektors verstanden wurde (Finanzindustrie, Kreativindustrie, usw.).37 Diese Neuausrichtungen wurden an der Universität Warwick vergleichsweise früh forciert: bereits 1970 titelte der Historiker E.P. Thompson: Warwick University Ltd: Industry, Management and the Universities; in den 1980er Jahren galt Warwick bezeichnenderweise als Thatchers »favourite university«.38 Die Universität Warwick bot durchaus ein Klima, in dem sich Vorstellungen von proprietärer, an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausgelegte ›Wissensproduktion‹ fruchtbar entwickeln konnten.

Die zu Beginn angesprochene Konstellation von Kapitalismus, Technologie und Antiakademismus erscheint im Dunstkreis der CCRU als Kombination von Cyberspace-Ideologie und (kultur-)industrieller Produktion, die ihren Anfang im akademischen Rahmen nahm, sich aber zunehmend zu dessen Gegenentwurf entwickelte: als Verknüpfung von individualistischem Antiakademismus mit einer affirmativen Haltung gegenüber techno-kapitalistischen Prozessen – »cyberpositive«. Die an der CCRU unter grossem Aufwand zelebrierte Loslösung von traditionelleren akademischen Produktionsformen des Wissens unterstreicht dies ebenso wie – auf theoretischer Ebene – die Absage der CCRU-Denker*innen an die ›humanistische‹ Kultur, die damit einhergehenden Institutionen und in gewissem Sinne auch an die Politik als Ort der gesellschaftlichen Verhandlung. In Erwartung eines hyperkapitalistischen meltdown war die Befreiung des Individuums scheinbar nur noch in der Auflösung von Gesellschaft zu suchen, nicht in deren kollektivem Ausbau. So attestierte der Musikjournalist Simon Reynolds der CCRU 1999 denn auch einen »humanely ambivalent«, einen menschlich wie politisch ambivalenten, Standpunkt. Plant etwa (so Reynolds) »ha[d] come to believe that the privatisation and anti-welfare policies pursued by the Conservative government in the 1980s really did constitute ›a revolution‹. She talks approvingly of the end of ›the dependency culture‹, arguing that this helped catalyse the Nineties upsurge of British pop culture, fashion and art.«39

Abb. 6: Warwick University Ltd (1970): »[...] it became apparent«, so der Klappentext, »that what was wrong was not a close relationship with ›industry‹ but a particular kind of subordinate relationship with industrial capitalism«.

Schluss: Antiakademie und Universität

Das an der CCRU hergestellte Wissen war dennoch und offensichtlich nicht ›rechts‹: es führte von den dortigen Aktivitäten und Theorien, dies zeigen nicht zuletzt die deutlich anders gelagerten Karrieren Lands ehemaliger Mitstreiter*innen, kein direkter Weg ins »Dark Enlightenment«. Die beiden hier herausgearbeiteten Konstellationen – die Konvergenz von Kulturwissenschaft und Kreativindustrie im England der 1990er Jahre, die ›neoreaktionären‹ Tendenzen der letzten Jahre – weisen wichtige Unterschiede, allerdings auch entscheidende Gemeinsamkeiten auf. In beiden Fällen steht bzw. stand an zentraler Stelle eine dezidiert antiakademische Haltung, die sich gegen vermeintlich überkommene, humanistische und universalistische Werte richtet(e). Den Beteiligten an der CCRU schwebte dabei noch eine idealisierte, marktförmig organisierte Cyber-Zukunft vor; im Ideenuniversum des »Dark Enlightenment« dagegen erscheint das existierende Gesellschaftssystem – den Vorgaben der »Cathedral« gemäss – als irrational egalitär, die Realität ›natürlicher‹ Hierarchien und Differenzen leugnend. Versprach meltdown im CCRU-Verständnis noch und nicht zuletzt neue und ›post-humane‹ Erfahrungsräume, verheisst die Aussicht auf CEO-Könige und »Exit« heute eine autoritär, antidemokratisch und rassistisch verfasste Gesellschaftsordnung.

Beiden Konstellationen ist ebenfalls eigen, dass sie, obwohl die Universität als Inbegriff des bestehenden Systems abgelehnt wird, trotz allem Formen des Wissenserwerbs praktizieren und letztendlich einem heroisch-positivistischem Wissenschaftsverständnis nachhängen. So spielt etwa bei beiden Herangehensweisen die Zahl als Chiffre von ›Realität‹ eine zentrale Rolle: Bei »Dark Enlightenment« ist es Wissen, das aus Statistik gewonnen wurde; im Fall der CCRU waren es Codes, Diagramme und mathematisch-technische Darstellungen, die der Wirklichkeit von Objekten und Prozessen näher kommen sollten als Hermeneutik und Sprache. Ebenfalls grenzen sich beide Herangehensweisen gegen ›soziale‹ Erklärungen der Dinge oder Fakten ab – haben in Universalismus und Humanismus sogar einen gemeinsamen Feind. Wiederum gilt es hier allerdings Unterschiede zu beachten. So wird bei »Dark Enlightenment« ›Wissen‹ viel stärker mit ›klassischem‹ (naturwissenschaftlichem) Faktenwissen gleichgesetzt – nicht aber mit universitär-disziplinärem Konsens, der die ›Fakten‹ über die Ungleichheit der Menschen leugne; die CCRU hingegen pflegte ein Wissensverständnis, das sich stärker an damals neuartigen Trendwissenschaften (wie Chaos- und Komplexitätstheorie) sowie an künstlerischen Erfahrungen orientierte – Erleben, nicht ›Rationalismus‹ war die Devise.

Nicht zuletzt zeichnen sich beide Strömungen – die »cyber-theory« der CCRU sowie Theoriegebäude wie dasjenige des Softwareentwicklers Curtis Yarvin – durch ihre Affinität zu techno-libertären Ideologien aus: Die erwähnte Kritik an der »Californian Ideology« erschien nicht zufällig Mitte der 1990er Jahre auf der Bildfläche. Als diese Kritik am digitalen Kapitalismus im Zuge der Wahl Präsident Trumps nach 2016 neuen Aufwind erlebte, erwachte auch das Interesse an den neu-rechten Internetszenen, die Trump, wie etliche Silicon Valley-Unternehmer auch, tatkräftig unterstützten. Schnell wurden diese Onlineaktivist*innen – die »Alt-Right« – auf ihre Verbindungen zur Tech-Szene hin untersucht. Zum Konglomerat der Ideen, das so ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet, gehörten nicht zuletzt die Visionen des »Dark Enlightenment« und der Anklang, den diese im Milieu des Silicon Valley fanden und finden.40 Der antiakademische Gestus, mit dem erstere in Erscheinung treten, passt auch ins Bild, das letzteres von sich projiziert.41 Allerdings: dieser antiakademische Impetus – das zeigt die Geschichte der CCRU bzw. dies zeigen Karrieren wie die des Philosophen Nick Land – ist der heutigen, unternehmerischen Universität keineswegs äusserlich. Die Rhetorik von »Anti-versity«, »Cathedral« und dergleichen ist insofern als das zu lesen, was es ist: als ideologischer Diskurs, der seine Entstehungsbedingungen geschickt verhüllt.

Simon Kräuchi studiert »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.

Die Kritik an der »Californian Ideology« erschien nicht zufällig Mitte der 1990er Jahre auf der Bildfläche.

Abbildungsverzeichnis

Abb.1: Virtual Futures '96: Datableed, Konferenz-Broschüre, https://www.virtualfutures.co.uk/conferences (CC BY-NC-ND 4.0).

Abb. 2: Johannes Grenzfurthner, Matthias Brandstetter: »Kroking the Code: Interview mit Arthur und Marilouise Kroker«, in: monochrom 4/5 (1996), S. 47–54, hier S. 48.

Abb. 3: Dark Enlightenment / Nick Land Memes, eigene Collage.

Abb. 4: Virtual Futures '95: Cyberevolution, Konferenz-Broschüre, https://www.virtualfutures.co.uk/conferences (CC BY-NC-ND 4.0).

Abb. 5: Sadie Plant: zeros + ones: Digital Women and the New Technoculture, London: Fourth Estate (1997), S. 34.

Abb. 6: E.P. Thompson (Hg): Warwick University Ltd.: Industry, Management and the Universities, Harmondsworth: Penguin Books (1970), Cover.

Literatur
  1. 1

    Andy Beckett: »Accelerationism: How a Fringe Philosophy Predicted the Future We Live In«, in: The Guardian (11. Mai 2017), https://www.theguardian.com/world/2017/may/11/accelerationism-how-a-fringe-philosophy-predicted-the-future-we-live-in/ (hier und im Folgenden: Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen vom Autor dieses Beitrags.)

  2. 2

    Nick Land: »The Dark Enlightenment« (2013), https://www.thedarkenlightenment.com/the-dark-enlightenment-by-nick-land/. Zur Datierung des Manifestes vgl. Andrew Jones: »From NeoReactionary Theory to the Alt-Right«, in: Christine Battista, Melissa Sande (Hg.): Critical Theory and the Humanities in the Age of the Alt-Right, Cham: Palgrave (2019), S. 101–120.

  3. 3

    Mencius Moldbug: »Unqualified Reservations by Mencius Moldbug« (undatiert), https://www.unqualified-reservations.org/. Vgl. etwa Andrew Jones: »From NeoReactionary Theory to the Alt-Right«, in: Christine Battista, Melissa Sande (Hg.): Critical Theory and the Humanities in the Age of the Alt-Right, Cham: Palgrave (2019), S. 101–120.

  4. 4

    Vgl. Angela Nagle: Kill All Normies: The Online Culture Wars From Tumblr and 4chan to the Alt-Right and Trump, Winchester: Zero Books (2017).

  5. 5

    Siehe etwa Olivia Goldhill: »The Neo-Fascist Philosophy That Underpins Both the Alt-Right and Silicon Valley Technophiles«, in: Quartz (18. Juni 2017), https://qz.com/1007144/the-neo-fascist-philosophy-that-underpins-both-the-alt-right-and-silicon-valley-technophiles/; Dylan Matthews: »The Alt-Right Is More than Warmed-over White Supremacy. It’s That, but Way Way Weirder«, in: Vox (18. April 2016), https://www.vox.com/2016/4/18/11434098/alt-right-explained/; Rosie Gray: »The Anti-Democracy Movement Influencing the Right«, in: The Atlantic (10. Februar 2017), https://www.theatlantic.com/politics/archive/2017/02/behind-the-internets-dark-anti-democracy-movement/516243/.

  6. 6

    Zu diesem Topos, siehe etwa Adrian Daub: Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche, Frankfurt am Main: Suhrkamp (2020).

  7. 7

    Richard Barbrook, Andy Cameron: »The Californian Ideology«, in: Mute 1(3) (September 1995), https://www.metamute.org/editorial/articles/californian-ideology/; ähnlich argumentierten etwa Arthur Kroker, Michael A. Weinstein: Data Trash. The Theory of the Virtual Class, New York: St. Martin’s Press (1994), hier S. 63.

  8. 8

    Mencius Moldbug: »How Dawkins Got Pwned | Chapter 1: A Really Ugly Bug«, in: Unqualified Reservations by Mencius Moldbug (26. September 2007), https://www.unqualified-reservations.org/2007/09/how-dawkins-got-pwned-part-1/ .

  9. 9

    Zur Geschichte des Konzepts siehe Jeremy Burman: »The Misunderstanding of Memes: Biography of an Unscientific Object, 1976–1999«, in: Perspectives on Science 1/20 (2012), S. 75–104.

  10. 10

    Mencius Moldbug: »How Dawkins Got Pwned | Chapter 3: Manitou and the Zeitgeist«, in: Unqualified Reservations by Mencius Moldbug (11. Oktober 2007), https://www.unqualified-reservations.org/2007/10/how-dawkins-got-pwned-part-3/.

  11. 11

    Nick Land: »Obnoxious observations« (3. Mai 2012), https://oldnicksite.wordpress.com/2012/05/03/the-dark-enlightenment-part-4b/.

  12. 12

    Ebd.

  13. 13

    »R/Dark Enlightenment: The place to discuss Neoreaction and Mencius Moldbug«, https://www.reddit.com/r/DarkEnlightenment/.

  14. 14

    Ebd.

  15. 15

    Ebd.

  16. 16

    »R/HBD – U.S. Ethnic Gaps in Reading & Math as of 2019«, https://www.reddit.com/r/HBD/comments/exkx4a/us_ethnic_gaps_in_reading_math_as_of_2019/, (zugegriffen am 24. April 2020).

  17. 17

    Nick Land: »Obnoxious observations« (3. Mai 2012), https://oldnicksite.wordpress.com/2012/05/03/the-dark-enlightenment-part-4b/.

  18. 18

    Vgl. Albert O. Hirschman: Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, MA: Harvard University Press (1970).

  19. 19

    Zu derartigen Visionen vgl. etwa Stephan Trüby: »Das Faustrecht der Freiheit. Anarchokapitalistische Fantasien in der zeitgenössischen Architektur«, in: Geschichte der Gegenwart (28. März 2021), https://geschichtedergegenwart.ch/das-faustrecht-der-freiheit-anarchokapitalistische-fantasien-in-der-zeitgenoessischen-architektur/ ; und Florian Keller: »Wahrhaft souverän wird demnach sein, wer keine Steuern mehr zahlt«, in: woz (11. Februar 2021), https://www.woz.ch/-b3a1.

  20. 20

    Simon Reynolds: »Renegade Academia: The Cybernetic Culture Research Unit [1999]«, in: Energy Flash (3. November 2009), http://www.energyflashbysimonreynolds.blogspot.com/2009/11/renegade-academia-cybernetic-culture.html.

  21. 21

    Sadie Plant, Nick Land: »Cyberpositive [1994]«, in: Robin MacKay, Armen Avanessian (Hg.): #Accelerate. The Accelerationist Reader, Falmouth: Urbanomic (2014), S. 303–313, hier S. 311.

  22. 22

    Nick Land: »Meltdown [1996]«, in: Robin MacKay, Ray Brassier (Hg.): Fanged Noumena: Collected Writings 19872007, Falmouth: Urbanomic (2011), S. 441–460.

  23. 23

    Kodwu Eshun: »Motion Capture«, in: abstract culture: swarm 1 (1996), online: http://www.ccru.net/swarm1/1_motion.htm .

  24. 24

    Ebd.

  25. 25

    Nick Land: » Hypervirus [1995]«, in: Robin MacKay, Ray Brassier (Hg.): Fanged Noumena: Collected Writings 19872007, Falmouth: Urbanomic (2011), S. 383–390, hier S. 386.

  26. 26

    »Flatlines«, in: CCRU (Hg): Writings 19972003: CCRU, Falmouth: Urbanomic (2017), S. 101–119, hier S. 101.

  27. 27

    Nick Land: »Meltdown [1996]«, in: Robin MacKay, Ray Brassier (Hg.): Fanged Noumena: Collected Writings 19872007, Falmouth: Urbanomic (2011), S. 441–460, hier S. 459.

  28. 28
  29. 29

    Vgl. Joan Broadhurst Dixon, Eric J. Cassidy (Hg.): Virtual Futures: Cyberotics, Technology and Posthuman Pragmatism, London: Routledge (1998); zitiert ist das Tagungsprogramm »Virtual Futures ’95: Cyberevolution«, online auf: http://danohara.co.uk/hyperprogramme.html/.

  30. 30

    Vgl. »Virtual Futures ’95: Cyberevolution«, online auf: http://danohara.co.uk/hyperprogramme.html/.

  31. 31

    Das CCRU-Umfeld gilt gemeinhin dann auch als Ursprungsszene des sogenannten Akzelerationismus. Vgl. z.B. Robin MacKay, Armen Avanessian (Hg.): #Accelerate. The Accelerationist Reader, Falmouth: Urbanomic (2014).

  32. 32

    Vgl. Simon Reynolds: »Renegade Academia: The Cybernetic Culture Research Unit [1999]«, in: Energy Flash (3. November 2009), http://www.energyflashbysimonreynolds.blogspot.com/2009/11/renegade-academia-cybernetic-culture.html.

  33. 33

    CCRU (Hg): Writings 19972003: CCRU, Falmouth: Urbanomic (2017), S. 7.

  34. 34

    Ann Treneman: »Interview: Sadie Plant: It Girl for the 21st Century«, in: Independent (11. Oktober 1997), https://www.independent.co.uk/life-style/interview-sadie-plant-it-girl-for-the-21st-century-1235380.html; und vgl. Sadie Plant: »On the Mobile: The Effects of Mobile Telephones on Social and Individual Life«, Motorola (2001).

  35. 35

    Fishers gesellschaftskritische Schriften haben mittlerweile – vorwiegend in linken Kreisen – grössere Beachtung gefunden. Vgl. Simon Hammond: »k-punk at Large«, in: New Left Review 118 (2019), S. 37–66.

  36. 36

    Land selbst verschlug es, wie erwähnt, zunächst nach Taiwan, dann nach China, wo er sich als Journalist durchschlug. Siehe Andy Beckett: »Accelerationism: How a Fringe Philosophy Predicted the Future We Live In«, in: The Guardian (11. Mai 2017), https://www.theguardian.com/world/2017/may/11/accelerationism-how-a-fringe-philosophy-predicted-the-future-we-live-in/.

  37. 37

    Vgl. dazu etwa Casey Brienza: »Degrees of (Self-)Exploitation: Learning to Labour in the Neoliberal University: Degrees of (Self-)Exploitation«. Journal of Historical Sociology 29(1) (2016), S. 92–111; James Vernon: »The Making of the Neoliberal University in Britain«, in: Critical Historical Studies 5(2) (2019), S. 267–80.

  38. 38

    Siehe Simon Reynolds: »Renegade Academia: The Cybernetic Culture Research Unit [1999]«, in: Energy Flash (3. November 2009), http://www.energyflashbysimonreynolds.blogspot.com/2009/11/renegade-academia-cybernetic-culture.html.

  39. 39

    Ebd.

  40. 40

    Bei Mencius Moldbug handelt es sich freilich nur um einen Akteur innerhalb dieser Szene. Vgl. etwa Gideon Lewis-Kraus: »Slate Star Codex and Silicon Valley’s War Against the Media«, in: The New Yorker (9. Juli 2020), https://www.newyorker.com/culture/annals-of-inquiry/slate-star-codex-and-silicon-valleys-war-against-the-media/ ; Thomas Meaney: »Trumpism After Trump«, in: Harper’s Magazine (Februar 2020), https://harpers.org/archive/2020/02/trumpism-after-trump/.

  41. 41

    Adrian Daub: Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche, Frankfurt am Main: Suhrkamp (2020).