Æ Æther

Was ist Universität? Zwölf Antworten aus Basel
5
Felix Lüttge, Felix Vogel

Was war Universität? Medien, Architekturen, Kulturtechniken

Die Universität ist nicht nur eine Idee und ein Campus, ihre Geschichte nicht nur die Geschichte von Professor*innen und Bildungsreformen. Am Beispiel Basels stellt Æther #5 die Frage nach der Universität als Frage nach der Geschichte der Medien und Architekturen, des Personals und den Mikropolitiken, die unser akademisches Tun prägen.

»Ein redender Mund und sehr viele Ohren, mit halbsoviel schreibenden Händen – das ist der äußerliche akademische Apparat, das ist die in Thätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität.«1 Die Beschreibung der Universität durch Friedrich Nietzsche, vorgetragen 1871 auf Einladung der Akademischen Gesellschaft Basel, erfolgt als Analyse der akademischen Kommunikationssituation. Es ist in diesem fünften öffentlichen Vortrag Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten nicht der junge Professor der Philologie selbst, der spricht, sondern ein alter Philosoph, den Nietzsche in einer Erzählung aus seiner Studienzeit auftreten lässt. Er berichtet seinen Zuhörer*innen von einer Begegnung mit einem Greis, der auf einem Berg bei Bonn und mit Blick auf den Rhein ein Klagelied über den Niedergang der Universität anstimmt.

150 Jahre später geht es mit der Universität immer noch bergab. An die Stelle der »akroamatische[n] Lehrmethode«,2 über die sich Nietzsches emeritierter Eremit beklagt, sind in den Seuchensemestern der Jahre 2020 und 2021 »hybride Veranstaltungsformen«, »virtuelle Lehre«, »Online-Präsenz« und »Distanzunterricht« getreten. Dem plötzlich verordneten Umzug sämtlicher universitärer Veranstaltungen – vom Proseminar über die Disputation bis zur Antrittsvorlesung – aus Seminarräumen und Hörsälen in virtuelle Räume begegnen viele Universitätsangehörige skeptisch. Die universitäre Pandemieerfahrung wird als Verlustgeschichte erzählt, weil sich »Präsenz« oder »das Persönliche« nicht aus dem Analogen ins Digitale übersetzen liessen. Dabei werden althergebrachte kulturkritische Topoi bemüht, die man mit der Publizistin Kathrin Passig als »Standardsituationen der Technologiekritik« bezeichnen könnte.3

Das ist zwar nicht falsch, aber doch zu einfach. Dass Universitäten auch im dritten Digitalsemester weiterhin Softwarelizenzen erwerben statt gemeinsam in öffentliche digitale Infrastruktur zu investieren, ist nicht nur datenschutzrechtlich heikel, sondern auch deshalb, weil jede Software eigene Vorschriften mitbringt. Der Medienwissenschaftler Jan Distelmeyer hat ihren Einsatz deshalb als »programmatische Verhältnisse« beschrieben: »Der berühmte Satz ›Code is Law‹ ist dafür noch zu schwach, weil Code – solange er auf Rechnern läuft und nicht umgangen oder umprogrammiert wird – sowohl Gesetz als auch seine widerspruchslose Anwendung ist.«4 Universitäre Lehre behilft sich nicht einfach mit Videokonferenz-Software, sondern findet unter den technischen Bedingungen von Zoom, Microsoft Teams oder Webex statt. Die Regeln für ein Seminar in »Online-Präsenz«, die in einer Studienordnung oder auf dem Seminarplan stehen, gelten nur, solange sie den Community-Standards von Zoom nicht widersprechen.5 Dass das nicht trivial ist, zeigen die Zensurvorwürfe, die New Yorker Professor*innen und das amerikanische Justizministerium gegenüber Zoom erheben.6 Die Möglichkeitsbedingungen der Corona-Universität fallen zusammen mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Softwareunternehmen.

Während die digitale Notfalllehre die Debatten bestimmt, ist die Forschung in Bibliotheken und Archiven fast vollständig zum Erliegen gekommen. Der grösste Teil des akademischen Personals blickt mit stetig wachsender Sorge auf die eigene berufliche Zukunft. In der Schweiz arbeiten 80 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen in prekären Anstellungsverhältnissen, in Deutschland sind es 92 Prozent.7 Abschluss- und Qualifikationsarbeiten kommen wegen geschlossener Bibliotheken und Archive und wegen Schulen und Kitas im On/Off-Modus nicht voran, während Verträge auslaufen und Studiensemester weitergezählt werden.

Abb.1: Gartenhofseite des Kollegiengebäudes der Universität Basel, aus einem Album von Carl Friedrich Meyer (nach 1938).

Dass die digitale Übertragung und das Prozessieren von Videobildern, in denen sich die akademische Pandemierealität abspielt, nicht störungsfrei verlaufen und diese Störungen – verpixelte Kacheln, audio delays, eingefrorene Bilder – häufig unterhalb der bewussten Wahrnehmung von Computernutzer*innen liegen, ist die physiologische Erklärung für das Phänomen der »Zoom fatigue«; dass zwischen Seminarraum und Geburtstags- oder Trauerfeier kein ästhetischer Unterschied mehr besteht, weil sie alle im selben medialen Dispositiv der digitalen Kachelwand stattfinden, eine soziale. So ist die Klage über »Zoom fatigue« – die Erschöpfung nach der Teilnahme an Videokonferenzen – auch nicht nur von Professor*innen zu hören, sondern ebenso von Studierenden aus der zweiten Generation der digital natives.8 Im Vorschlag von Universitätsleitungen, Einführungsvorlesungen als Podcasts zu produzieren, kommt die »akroamatische Lehrmethode« zu sich selbst.

Wer unter Pandemiebedingungen über Universitätsgeschichte nachdenkt, kommt um eine Beschäftigung mit der Corona-Universität nicht herum. Man muss sich dabei nicht auf die Seite der Kulturkritik oder des Techno-Optimismus schlagen, sondern kann sich die universitären »Corona-Massnahmen« auch epistemologisch zunutze machen und das Unselbstverständlichwerden der Universität, dem wir seit März 2020 ausgesetzt sind, zum Anlass nehmen, Forschungsfragen zu stellen. Aus der Zustandsbeschreibung gilt es also, methodisches Kapital zu schlagen. Darin, was in die virtuelle Universität hinübergerettet und was als verzichtbar angesehen wird; darin, wofür – und für wen – Geld ausgegeben und darin, wo und an wem gespart wird, lässt sich nicht nur erkennen, wie es um die Universität im 21. Jahrhundert bestellt ist, sondern auch, was immer schon, mehr oder weniger offenkundig, zur Universität gehörte oder eben nicht. Dass das studentische Leben, das sich nicht nur im Hörsaal, sondern auch in Mensen, beim Unisport, in Clubs und Kneipen und in WGs und Lesegruppen abspielt, seit Beginn der Pandemie ebenso suspendiert ist wie Bekanntschaften und Kollegialitäten; dass studentische Jobs in grosser Zahl gekündigt wurden und geschlossene Mensen Entlassungen des Kantinenpersonals zur Folge hatten, provoziert – zumindest im Rahmen eines Seminars zur Universitätsgeschichte wie es diesem Heft zugrunde liegt – sozial- und kulturhistorische Fragestellungen nach den Vergangenheiten dieser Phänomene und der Politischen Ökonomie der Universität. Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass die Covid-19-Krise zwar zu Einschnitten an Universitäten geführt hat, deren Folgen kaum absehbar sind, dabei aber nur Prozesse beschleunigt hat, die vorher bereits eingeleitet worden waren.

Die Entgrenzung der Universität zeigt sich nicht nur darin, dass in Videokonferenzen Studierende aus ihren WG-Zimmern in die Küchen der Dozierenden senden. Sie ist auch dort festzustellen, wo die Lehre nicht nur ohne den IT-Service der Universität undenkbar geworden, sondern auch auf den Tech-Support von Firmen wie Zoom angewiesen ist. In den Callcentern der Softwareunternehmen werden Programme von Leuten am Laufen gehalten, die uns davor schützen, uns mit dem Coronavirus anzustecken, während ihre eigenen Arbeitsorte auf den Philippinen zu Ansteckungsherden werden.9 Unter Pandemiebedingungen wird das Digitale erfahrbar als Effekt von Infrastrukturen und der akademische Apparat als Medienverbund, der er immer schon gewesen ist. Damit stellen sich Fragen nach den Bestandteilen der analogen Bildungsmaschine und nach denen, die sie gewartet und gestürmt haben [Abb. 1].10 Nicht zuletzt wirft der Verlust klassischer »Präsenzformate«, die vor der Covid-19-Pandemie einfach »Veranstaltungen« hiessen, Fragen auf nach den Medien und Kulturtechniken akademischer Präsenz. Das Klischee des Professors, der in einer Vorlesung etwas in den Raum stellt und »die Welt […] in und durch seine Rede als Thema gegenwärtig« werden lässt, ist zwar schal, weil es jeder studentischen Erfahrung widerspricht, lenkt den Blick aber auf die Bedingungen, unter denen solche Präsentationen möglich werden.11 Diese reichen vom Projektor, der Bilder aus Museen im Hörsaal präsentieren kann, bis zu den vieldiskutierten Anwesenheitslisten und vom Schreibakt der Immatrikulation [Abb. 2], der aus einer Maturandin eine Studentin macht, bis zu arbeitsrechtlichen Fragen der Kernarbeitszeit und der Pendeluniversität.12

Abb. 2: Immatrikulationsfeier, 20. Mai 1964.

Wissensarchitekturen

Mit der Pandemie verstärken sich also Tendenzen im Bildungssektor, die nun zu einer tatsächlichen Krise herangewachsen sind, die auch eine Raumkrise ist. Gemeint sind damit nicht nur die vermeintliche Enträumlichung durch die Auslagerung der Lehre in die digitale Sphäre, die eher eine Verlagerung in vormals als »privat« markierte Räume darstellt, oder Abstandsregeln, durch die überfüllte Hörsäle unvorstellbar erscheinen, sondern vor allem die ökonomischen und ästhetischen Folgen der virtuellen Lehre, die sich von Inzidenzzahlen und Hygienekonzepten unabhängig zu machen drohen. Im Blog von n+1 hat Simon Torracinta bereits im Mai 2020 davon berichtet, dass fehlende Mieteinnahmen, hervorgerufen durch fernbleibende Studierende, US-amerikanische Universitäten in eine finanzielle Schieflage bringen. Es zeige sich nun deutlich, was Universitäten eigentlich seien: »Most schools are closer to sprawling conglomerates: an equity fund, a real estate empire, a private hospital, a football team, an apparel company, a brand licensing agency, and an event space, with a little teaching on the side.«13 Auf Schweizer Universitäten lässt sich dieser Befund nicht ohne Weiteres übertragen, aber auch hier wird die Frage aufkommen, ob weiterhin teure Liegenschaften unterhalten oder gemietet werden müssen, wenn vieles auch in den digitalen Raum ausgelagert werden kann. Die ästhetische Folge, die im Kern auf einem ökonomischen Kalkül beruht, wird durch die Pandemie ebenfalls nur verstärkt: Photogene Universitätsbauten werden zu Faktoren, die Studierende anziehen sollen. Eine Studie des Beratungsunternehmens Vector Consulting über Digitalisierungsvorhaben australischer Hochschulen als Reaktion auf Covid-19 zeichnet das Bild einer Zukunft der Universitätsarchitektur, deren Aufgabe darin bestehe, »›Instagram-worthy‹ experiences« zu ermöglichen.14 Der von den Telekommunikationsunternehmen Cisco (das mit Webex eine viel genutzte Alternative zu Zoom anbietet) und Optus in Auftrag gegebene Bericht prognostiziert, dass es in Zukunft einen geringeren Bedarf an Hörsälen geben werde und Universitäten sich stärker um die Reduzierung von Betriebskosten bemühen würden.

Abb. 3: Abbildung aus dem Festbericht über die Einweihung des neuen Kollegienhauses. Erstattet im Auftrage der Universität von Paul Roth, Basel 1939.

46 Prozent der befragten Hochschulen erwägen dem Bericht zufolge, Gebäude zu verkaufen, um Ressourcen für digitale Infrastrukturen freizusetzen. Glaubt man dieser Prognose, dann ist die Aufgabe der Universitätsarchitektur der Zukunft nicht mehr die, Wissen zu ordnen oder zu ermöglichen (aber natürlich auch: einzuschränken), sondern in den sozialen Medien gut auszusehen.

Wenn zwischen dem Frühjahrsemester 2020 und dem Frühjahrsemester 2021 die Frage danach, wo Universität stattfindet, nur mit »auf Zoom« korrekt beantwortet werden konnte, lässt sich unter nicht-pandemischen Bedingungen schwerer eine Antwort darauf finden. Doch nicht nur »auf Zoom« bedeutet in jeder Situation und für alle Beteiligten etwas anderes, sondern auch die Frage nach dem Ort der analogen Universität wird dadurch verkompliziert, dass die Universität Basel – wie die meisten traditionellen kontinentaleuropäischen Universitäten – nicht über einen zusammenhängenden Campus verfügt, sondern sich über die gesamte Stadt verteilt. Konkret sind es etwa 100 Liegenschaften, die auf fünf Standorte konzentriert sind. Die Architekten Herzog & de Meuron bezeichnen diese Form der Ausbreitung über die gesamte Stadt in einer von der Universität Basel in Auftrag gegebenen Studie zur räumlichen Neustrukturierung ihrer Bauten als »sozialistisches Modell«, das »die Gefahr der Unsichtbarkeit [der Universität]«15 berge. Das Basler Architekturbüro behält diese Struktur in seinem Vorschlag bei, entwickelt aber räumliche Strategien der Verdichtung, die die einzelnen Orte besser miteinander verknüpfen sollen. Neben dieser Neustrukturierung des Vorhandenen zu einem »Stadtcampus« schlagen Herzog & de Meuron vor, den Stadtteil St. Johann zum »Quartier des Wissens«16 auszubauen. Dieser Vorschlag ist in zweifacher Hinsicht geradezu paradigmatisch für den Stellenwert der Universität in der Stadt Basel und der Wissensgesellschaft allgemein: Einerseits – und das erwähnt die Studie auch explizit – befände sich die Universität Basel damit in unmittelbarer Nähe zum Novartis Campus, womit die vielfältigen Beziehungen zwischen Universität und Pharmaindustrie ausgebaut werden könnten. Andererseits – und da reiht sich die Studie in zahlreiche andere Universitätsplanungen der letzten Jahrzehnte ein – würde die Universität damit zu einer Akteurin in der Aufwertung ganzer Stadtviertel.

Abb. 4: Studierendenkörper mit Merchandise.

War das St. Johann-Quartier lange ein industriell geprägtes Arbeiter*innenquartier am Rand der Stadt, befindet es sich – nicht zuletzt durch die Ansiedlung von Projekten wie dem Novartis Campus – seit einiger Zeit im Prozess der Aufwertung, zu dem auch das Architekturbüro nicht nur durch Auftragsarbeiten beiträgt: Das Büro von Herzog & de Meuron erstreckt sich über einen ganzen Block des Stadtteils. Die Umstrukturierung des St. Johann ist damit als Symptom der Wissensgesellschaft zu verstehen, die sich auch städtebaulich und architektonisch manifestiert.

Educating Talents since 1460

Übernahm lange Zeit die Architektur die offensichtlichste Funktion der repräsentativen Aussenwirkung von Universitäten (auf einer anderen Ebene war selbstverständlich das Prestige der Professor*innen dafür verantwortlich, das aber auch angemessen ästhetisch gewürdigt werden musste [Abb. 3]), wird das Image der Universität seit etwa einem Jahrzehnt vermehrt auch mit anderen Mitteln erzeugt und verbreitet: In Form von Kampagnen in den sozialen Medien, mittels Merchandise und Werbebroschüren [Abb. 4]. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von der Korporatisierung der Universitäten über den umkämpften Bildungsmarkt, auf dem die Budgets der Hochschulen auch unabhängig von Studiengebühren an die Studierendenzahlen gekoppelt sind, bis zur zunehmenden Trennung von Forschung und Lehre durch die Etablierung von Exzellenzclustern oder Nationalen Forschungsschwerpunkten, die sich nach aussen auch irgendwie darstellen müssen. Gerade in der Auseinandersetzung mit den Ephemera universitärer Selbstdarstellung ist vielleicht etwas darüber zu erfahren, was Universität ist.

Das früheste auffindbare Zeugnis einer Werbeaktion der Universität Basel ist knapp 100 Jahre alt. Es ist der Entwurf einer Zeitungsannonce [Abb. 5]. Äusserst nüchtern sind dort die Fakultäten, mögliche Abschlüsse und Immatrikulationsdaten aufgelistet. Angepriesen – wenn dies überhaupt der richtige Begriff ist – werden unter anderem die »reichhaltige Universitätsbibliothek«, »erstklassige Sammlungen« sowie eine »Studenten-Krankenkasse-Unfallversicherungs- und Unterstützungskasse«. Was Universität ist, folgt man dieser Annonce, ist eher bürokratischer Natur.17

Anders in der aktuellen »Porträt«-Broschüre, die die Abteilung Kommunikation und Marketing18 2018 herausgab: Junge Leute blicken in Petrischalen, halten einen Globus, zeigen auf Folien oder sitzen in einem lauschigen Innenhof, den man für ein Café halten könnte, wenn man nicht wüsste, dass er zum Deutschen Seminar gehört. Wir erfahren etwas über die beiden an der Universität Basel tätigen Nobelpreisträger, über die »grossen Geister«, die »hier lernten und lehrten« (alles Männer) und über die Platzierung der Universität Basel in Hochschulrankings: »Unsere Tops«. All das ist zwar bunter, aber die Bilder, Zahlen und Diagramme sind nicht weniger generisch als die Auflistung von Abschlüssen in der früheren Zeitungsannonce [Abb. 6]. Die Rede von »Exzellenz«, dem »Flagship-Charakter« von Forschungsprogrammen, von »Think Tanks«, »strategischem Potenzial«, »interdisziplinären Lösungsansätzen«, »gegenseitige[r] Inspiration und produktive[m] Wettstreit« und »regionale[n] und internationale[n] Schwerpunkte[n]« findet sich in ähnlicher Form in nahezu jeder Selbstdarstellung einer Universität.19 Durch die kurzen Texte der Broschüre zieht sich ein zentrales Leitthema: »Wissen zum Nutzen der Gesellschaft«.20 Das ist eine auf den ersten Blick kaum abzulehnende Forderung, die jedoch gerade in ihrer Konsensualität kritisches Potenzial einbüsst.

Abb. 5: Inseratsentwurf der Universität Basel, nach 1927.

Die Kritik der Universität darf jedoch nicht vergessen, dass Universitäten immer auch Refugien eines besseren Kommenden bieten.21 Schon vor 70 Jahren liess Max Horkheimer seine eigenen pessimistischen Ausführungen zur Lage der Universität nicht unwidersprochen. Die schwindende Lesekompetenz der Studierenden, die bis heute ein darling der Kulturkritik ist, machte ihm ebenso Sorgen wie die »Radiosucht«, die heute »Internetsucht« heisst.22 Aber er beliess es nicht dabei:

»Es ist an uns, das, was an Formen der Lehre noch gegenwärtig ist, daran zu wenden, daß das Bewußtsein derer, für die wir die Verantwortung tragen, weiter reiche als ein Zustand, der uns allesamt in Funktionäre verwandeln möchte. […] Was wir unsren Studenten übermitteln können, damit sie nicht die Vernunft verraten, das ist keineswegs bloß rational. Wir können ihnen nicht beweisen, warum sie sich nicht zu Angestellen machen lassen sollen […]. Aber wir können durch die lebendige und unausdrückliche Differenz ausdrücken, daß die satanische Notwendigkeit doch auch ein Schein ist, ein von Menschen Gemachtes, das von Menschen hinweggenommen werden kann […].«23

Dafür, dass Kritik und Reflexion dabei nicht auf der Strecke bleiben, haben wir, die wir als Forscher*innen und als Lehrende und Studierende ebenfalls Universität sind, Sorge zu tragen. Denn was Universität ist, haben wir selbst in der Hand.

Selbstbeobachtung und -distanzierung

Die wenigsten der hier erwähnten Geschichten können wir in diesem Heft erzählen, doch sie haben die Seminardiskussionen geprägt, aus denen es hervorgegangen ist. Im Herbstsemester 2020 und im Frühjahrsemester 2021 haben wir – das Projektseminar »Was ist Universität? Architektur, Geschichte, Medien« – zuerst im Seminarraum, dann auf Exkursionen an die Universität Basel, unserem Lern- und Arbeitsplatz, später in Videokonferenzen und immer wieder im Staatsarchiv Basel-Stadt, wo das Basler Universitätsarchiv beheimatet ist, über die Geschichte und Theorie der Universität gesprochen, gelesen und schliesslich geforscht. So unterschiedlich wie die Fächer, die auf unseren Diplomen stehen (werden) – Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Geschichte, Germanistik, Geographie, Geschlechterforschung, Urbanistik, Kulturtechniken –, waren die Fragen, die wir an die Bestände des Universitätsarchivs gestellt haben. Das eigene Fach, der eigene Ort im Kosmos »Universität«, die Faszination für bestimmte universitäre Orte haben das initiale Erkenntnisinteresse bestimmt. Dass wir damit irgendwie auch über uns selbst lasen, sprachen und forschten, machte, während wir bereits zu Profis des social distancing geworden waren, die Schreib- und Forschungswerkstatt auch zu einer Übung in Selbstdistanz.

Die Vermittlung von Innen- und Aussenperspektive auf die Universität, der Befund, dass Autor*innen von Universitätsgeschichten immer auch ihre Akteur*innen sind, hat unsere Diskussionen über zwei Semester ebenso geprägt wie die nunmehr naheliegende Frage nach Ein- und Ausschlüssen. Sie basiert auf der Beobachtung, dass nicht nur Aufnahme- und Abschlussprüfungen Zugänge zur Universität regulieren, sondern dass die Universität beständig Ausschliessungen produziert, dass sie, mit einem Wort des Wissenschaftssoziologen Thomas Gieryn, boundary work betreibt.24

Im Blick auf diese Ausschlusstechniken und in der Konfrontation mit immer neuen Widerständigkeiten, die daran arbeiteten, sie zu unterlaufen, wurde beständig unklarer, wer, was oder wo »die Universität« eigentlich ist. Diese Ausgabe von Æther bietet zwölf sehr spezifische Antworten auf diese Fragen, die zeigen, dass Universitäten zugleich schwerfällig sind, weil sie auf Traditionen beharren, und agil, weil zahlreiche Prozesse überhaupt erst von ihnen ausgelöst werden. Die Frage nach der Geschichte der Universität ist damit auch eine nach ihrer Zukunft.

Abb. 6: Broschüre der Universität Basel.

Auch dieses Heft ist Universität und wäre ohne institutionelle und persönliche Unterstützung nicht zustande kommen. Dass es erscheinen kann, verdanken wir der grosszügigen Förderung durch Markus Krajewski und Ralph Ubl und durch das Seminar für Medienwissenschaft und das Kunsthistorische Seminar der Universität Basel; wir verdanken es auch Jacqueline Dubach, Barbara Hufft, Daniela Steinebrunner und Susanne Zacherl. Wie so oft sind auch hier die Mitarbeiter*innen der Universitätsbibliothek anonym geblieben, die Seminarlektüren gescannt haben; gleiches gilt für die vielen Mitarbeiter*innen des Staatsarchivs Basel-Stadt, die Akten heraussuchten und bereitstellten. Maja Egli hat einen Semesterapparat in der Bibliothek des Kunsthistorischen Seminars eingerichtet. Susanna Burghartz hat lange mit uns über Zugänge zur Universitätsgeschichte gesprochen und ihre Expertise zu derjenigen Basels mit uns geteilt. Besonderer Dank gilt Hermann Wichers vom Staatsarchiv Basel-Stadt, der uns mit grosser Hilfsbereitschaft und Fachkenntnis den Weg in und durch die Akten des Universitätsarchivs gewiesen hat. Wir danken weiterhin Sophie Bürgi, Brigitta Gerber, Sabine Gisiger, Susanne Grulich Zier, Martin Stingelin, Sabine Strebel, Gaby Sutter, Regina Wecker, Sandro Zanetti und unserer Lektorin Birgit Lulay. Nicht zuletzt gilt unser Dank Ines Barner, Zohra Briki, Nils Güttler, Niki Rhyner und Max Stadler von Æther, die unseren Band in ihre Reihe aufgenommen haben.

Auch das ist, wie gesagt, Universität. Zoom-Konferenzen werden genauso wenig wieder verschwinden wie SARS-CoV-2. Aber auch Hörsäle werden wieder überquellen und Studierende und Dozierende in Seminarräumen streiten. Refugien eines besseren Kommenden werden weiter geschaffen werden. Bangemachen gilt nicht.

Felix Lüttge unterrichtet Medienwissenschaft an der Universität Basel. Felix Vogel ist Professor für Kunst und Wissen an der Universität Kassel.

Aber auch Hörsäle werden wieder überquellen und Studierende und Dozierende in Seminarräumen streiten. Refugien eines besseren Kommenden werden weiter geschaffen werden.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Staatsarchiv Basel-Stadt, AL 45, 9-20-1.

Abb. 2: Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-2465 2.

Abb. 3: Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD 15, 455.

Abb. 4: © Universität Basel, Foto: Niklaus Spoerri.

Abb. 5: Staatsarchiv Basel-Stadt, Universitätsarchiv I 17a.

Abb. 6: Universität Basel, Kommunikation & Marketing (Hg.): Portrait Universität Basel, Basel 2018, S. 8–9.

Literatur
  1. 1

    Friedrich Nietzsche: »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge«, in: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. Kritische Studienausgabe I, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinaro, München: dtv (1988), S. 641–752, hier: S. 740.

  2. 2

    Friedrich Nietzsche: »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge«, in: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. Kritische Studienausgabe I, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinaro, München: dtv (1988), S. 739. ›Akroamatisch‹ heissen in der Spätantike diejenigen Texte, die »zum Hören [also zur Vorlesung, FL/FV] bestimmt« waren, sowie aus Vorträgen an der Akademie entstandene Lehrschriften des Aristoteles. Die Gattung ist damit älter als die Institution der Universität. Das wusste der Altphilologe Nietzsche, dem auch bewusst gewesen sein dürfte, dass eine Universität, die daran zugrunde ginge, dass studentische Ohren an professorale Münder gekoppelt werden, sich nie nicht im Niedergang befunden hätte.

  3. 3

    Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik, Berlin: Suhrkamp (2013).

  4. 4

    Jan Distelmeyer: »Programmatische Verhältnisse. Wer oder was lebt in Zoom? Fragen an die neue Normalität von Videokonferenzen«, in: Cargo 13/49 (2021), S. 28–34, hier S. 29.

  5. 5

    »Community Standards«, https://zoom.us/de/community-standards (2020).

  6. 6

    »NYU Professors Accuse Zoom of Censoring Political Speech«, in: Artforum, https://www.artforum.com/news/nyu-professors-accuse-zoom-of-censoring-academic-political-speech-84276 (27. Oktober 2020); Drew Harwell, Ellen Nakashima: »Federal prosecutors accuse Zoom executive of working with Chinese government to surveil users and suppress video calls«, in: Washington Post, https://www.washingtonpost.com/technology/2020/12/18/zoom-helped-china-surveillance/ (19. Dezember 2020).

  7. 7

    Thomas Hildbrand: Next Generation. Für eine wirksame Nachwuchsförderung, Bern: Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (2018) (= Swiss Academies Reports 13/1), S. 15; Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021. Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, Bielefeld: wbv (2021), S. 29.

  8. 8

    Manyu Jiang: »The Reason Zoom Calls Drain Your Energy«, in: BBC,https://www.bbc.com/worklife/article/20200421-why-zoom-video-chats-are-so-exhausting (22. April 2020); Geert Lovink: »The anatomy of Zoom fatigue«, in: Eurozine, https://www.eurozine.com/the-anatomy-of-zoom-fatigue/ (2. November 2020).

  9. 9

    Maddy Thompson: »COVID-19 and the Philippines’ outsourcing industry«, https://blogs.lse.ac.uk/seac/2020/09/22/covid-19-and-the-philippines-outsourcing-industry/ (18. Mai 2021).

  10. 10

    Hierzu Bettina Vismann: »Eine Gebäudeunterhaltung«, in: Morten Paul, Felix Vogel (Hg.): Architekturen unserer Arbeit, Hamburg: adocs (2016) (= Grundlagenforschung 2), S. 96–98; Cheryce Kramer, Helmut Müller-Sievers: »Netzwerk Stanford«, in: Friedrich Kittler, Manfred Schneider, Samuel Weber: Diskursanalysen 2. Institution Universität, Opladen: Westdeutscher Verlag (1990), S. 167–173; Craig Steven Wilder: Ebony and Ivy. Race, Slavery, and the Troubled History of America’s Universities, New York: Bloomsbury Press (2013).

  11. 11

    Jan Masschelein, Maarten Simons: Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich (2010), S. 56–60.

  12. 12

    Hierzu William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago: The University of Chicago Press (2006); Rembert Hüser: »Dreitagebart«, in: Merkur 71 (2017), S. 38–51, 44–58; Reinhold Martin: Knowledge Worlds. Media, Materiality, and the Making of the Modern University, New York: Columbia University Press (2021).

  13. 13

    Simon Torracinta: »Extinction Event. Given what is to come, schools of every kind are now at risk«, in: n+1, https://nplusonemag.com/online-only/online-only/extinction-event/ (28. Mai 2020).

  14. 14

    Vector Consulting: The Tipping Point for Digitisation of Education Campuses (3. Dezember 2020), S. 7. Online: https://2.cdn.optusdigital.com/content/dam/optus/documents/enterprise/accelerate/tipping-point-report_final_nov20.pdf

  15. 15

    Herzog & de Meuron Architekten Basel: Die Universität in Der Stadt. Eine städtebauliche Studie für Basel, Basel (2003), o.S.

  16. 16

    Herzog & de Meuron Architekten Basel: Die Universität in Der Stadt. Eine städtebauliche Studie für Basel, Basel (2003), o.S.

  17. 17

    Inserat Universität Basel, nach 1927, Staatsarchiv Basel-Stadt, Universitätsarchiv I 17a, o.S.

  18. 18

    Das Ressort »Kommunikation und Marketing« der Universität Basel existiert seit 2009, bis dahin war der Adjunkt des Rektors für die Kommunikation mit den Medien zuständig. Ab wann dies zum festen Aufgabengebiet der Universität Basel gehörte, lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren. Die älteste Spur, die sich im Staatsarchiv findet, ist ein Brief zur Einstellung des (vermutlich ersten) Pressechefs im Jahr 1970. Darin ist die Rede von der »Herausgabe eines dringend nötigen Informationsblattes, das Oeffentlichkeit, universitätsintern, übrige Schweiz. Hochschulen, in mannigfaltiger Weise orientieren sollte[.]« Brief an R. Stickelberger, 25. Mai 1970, Staatsarchiv Basel-Stadt, Universitätsarchiv I 17c, o.S.

  19. 19

    Die Universität Zürich wirbt damit, »Spitzenforschung an sieben Fakultäten« zu bieten; die Tübinger Universität versteht sich als »Innovativ. Interdisziplinär. International«; der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, formuliert im Grusswort der Imagebroschüre kurioserweise, dass die Universität an die Aufgaben »Der Forschung – Der Lehre – Der Bildung […] immer wieder erinnert werden« müsse. Siehe Universitätsleitung der Universität Zürich (Hg.): Die Universität Zürich, Zürich 2016; Der Präsident der Universität Hamburg (Hg.): Universität Hamburg. Der Forschung. Der Lehre. Der Bildung, Hamburg 2020; Der Rektor der Universität Tübingen (Hg.): Eberhard Karls Universität Tübingen. Innovativ. International. Disziplinär. Seit 1477, Tübingen o.J.

  20. 20

    Universität Basel, Kommunikation & Marketing (Hg.): Portrait Universität Basel, Basel 2018, S. 2.

  21. 21

    Max Horkheimer: »Fragen des Hochschulunterrichts«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, Frankfurt am Main: S. Fischer (1985/1952), S. 391–498, hier S. 407.

  22. 22

    Max Horkheimer: »Fragen des Hochschulunterrichts«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, Frankfurt am Main: S. Fischer (1985/1952), S. 391–498, hier S. 397.

  23. 23

    Max Horkheimer: »Fragen des Hochschulunterrichts«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, Frankfurt am Main: S. Fischer (1985/1952), S. 391–498, hier S. 407f.

  24. 24

    Thomas F. Gieryn: »Boundary-Work and the Demarcation of Science from Non-Science: Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists«, in: American Sociological Review 48:6 (1983), S. 781–795.