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Was ist Universität? Zwölf Antworten aus Basel
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Marian Cramm

Geschlechtergeschichte auf die Strasse tragen

Engagierte Studentinnen trugen massgeblich zur Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in Basel bei. Das erarbeitete Wissen teilen und erweitern sie seit den 1990er Jahren im Rahmen des Vereins Frauenstadtrundgang mit der Öffentlichkeit.

Basel, Tramstation Uf dr Lyss an einem Frühlingsnachmittag am Anfang des 20. Jahrhunderts, zwei Frauen warten auf das Tram. Eine spricht die andere an: »Das Tram ist ja wieder mal verspätet! Das ist so mühsam. Dabei kommt heute mein Verlobter Johann zu uns zu Besuch. Wir wollen miteinander die bevorstehende Hochzeit besprechen.« Die andere, sie ist schwanger, antwortet: »Ja, auch ich bin pressant. Das Nachtessen kocht sich ja nicht von alleine. Und Willi hat keine Freude, wenn er nach Hause kommt und das Essen nicht auf dem Tisch steht.« Erstaunt erwidert die erste: »Kommen Sie denn von der Arbeit?! Eine Frau in ihren Umständen sollte doch gar nicht mehr arbeiten gehen!« Dabei deutet sie auf den Bauch ihrer Gesprächspartnerin. Diese antwortet: »Das wäre schön. Aber wir können uns das nicht leisten. Mein Mann verdient zu wenig. Und selbst mit meinem kleinen Verdienst reicht das Geld kaum. Ich weiss gar nicht, wie das gehen soll, wenn ich denn niedergekommen und Wöchnerin bin. Dann fällt ja mein Verdienst weg! Das Gesetz denkt einfach nicht an uns Arbeiterinnen. Es ist für Frauen wie Sie gemacht. Darf ich fragen, als was Sie arbeiten?« Die andere Frau antwortet, dass sie bei der Bank Sarasin als Bürofräulein arbeite und ihre Ausbildung an der Handelsabteilung der Töchterschule absolviert habe, aber zu Hause bleiben wolle, sobald sie geheiratet hat, um sich ein gemütliches Heim einzurichten. Darauf die andere, seufzend: »Ja, das stelle ich mir auch gemütlich vor. Aber da kommt ja schon das Tram. Einen schönen Abend noch!« – »Das wünsche ich Ihnen auch. Und alles Gute für die Niederkunft!«1

Dieses fiktive Gespräch zwischen einer jungen Frau aus dem Bürgertum und einer Arbeiterin wird beim Frauenstadtrundgang Basel bricht das Eis. Der lange Weg zum Frauenstimmrecht aufgeführt. Der Dialog soll die Lebensrealitäten von Frauen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten um 1900 nachvollziehbar machen. Das hier verhandelte Familienmodell, in dem eine Frau ihre Zeit unentgeltlich dem Ehemann und der Fürsorge und Erziehung der Kinder widmet, während der Mann einer bezahlten Arbeit nachgeht, konnte nur im Bürgertum gelebt werden. In Basel arbeiteten viele Frauen der Arbeiter*innenschicht in Seidenbandfabriken oder im Gewerbe, um ihre Familien finanziell über die Runden zu bringen.2 Dem gegenüber stand die im Eherecht implizite Erwartung an Frauen, nach der Hochzeit ihre Arbeitsstelle aufzugeben – bis 1987 durften Frauen in der Schweiz nur mit Einwilligung des Ehemanns ausserhäuslich erwerbstätig sein. Der fiktive Dialog veranschaulicht dem heutigen Publikum der Frauenstadtrundgänge, dass es damals wie heute keine einheitliche Kategorie der Frau gab und gibt, sondern weibliche Lebensrealitäten auch denjenigen der gesellschaftlichen Klasse Rechnung tragen. Solche spielerischen Darstellungen fiktiver Gespräche machen historische Realitäten im Stadtraum erfahrbar und berufen sich dabei auf Diskurse und Forschung aus akademischen Kontexten. Erkenntnisse aus der Geschichtswissenschaft werden hier im Stadtraum verortet und von Studierenden und jungen Wissenschaftler*innen einem ausserakademischen Publikum zugänglich gemacht.

Abb. 1: Zwei Stadtrundgangsleiterinnen inszenieren ein fiktives Gespräch zwischen zwei Frauen anfangs des 20. Jahrhunderts, 2021.

Die Basler Frauenstadtrundgänge geben der Perspektive der Frauen- und Geschlechtergeschichte einen öffentlichen Ort. Akademisches Wissen wird unter Einbezug der Frage nach verständlicher Vermittlung aufgearbeitet, wodurch sie an der Schnittstelle zwischen Akademie und Öffentlichkeit operieren. Dabei ist es nicht allein der akademische Rahmen, der Form und Inhalte der Frauenstadtrundgänge prägte, vielmehr entwickelte sich eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen universitärer Forschung und öffentlichem Diskurs. 1990 organisierten acht Studentinnen des Historischen Seminars der Universität Basel den ersten Stadtrundgang, mit dem sie sich und ihrer Arbeit zu Themen der Frauen- und Geschlechtergeschichte »nicht nur innerhalb der Universität Gehör« verschaffen, sondern auch eine »breite Öffentlichkeit«, und das hiess vor allem »Personen, die keinen Zugang zur Universität haben«, erreichen wollten.3 Es gelang ihnen so, eine öffentliche Plattform zu schaffen für ihr Anliegen, die Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität zu institutionalisieren.

Vernetzt durch und für Frauengeschichte

Die Frauen- und Geschlechtergeschichte, wie sie heute in Forschung und Lehre zu finden ist, hat wiederum ihre eigene Geschichte.4 Der Blick auf die Entstehungsgeschichte des Vereins Frauenstadtrundgang zeigt, dass es massgeblich dem Engagement von aktivistischen und feministischen Frauennetzwerken zu verdanken ist, dass die Frauen- und Geschlechtergeschichte in den 1970/80er Jahren innerhalb der Universität Basel nach und nach Anerkennung fand. Engagierte Geschichtsstudierende und Historikerinnen erarbeiteten im Rahmen von Arbeitsgruppen für Frauengeschichte, auf Tagungen und im engen Austausch untereinander eine Public History, die beispielsweise die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen aufarbeitete, nachvollzog und dadurch sichtbar machte. Die Thematisierung von ökonomischen und sozialen Strukturen sowie der Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Geschlechtern ermöglichte es, die bis zu diesem Zeitpunkt zumeist von Männern betriebene Geschichtsschreibung infrage zu stellen. Dafür mussten in der Schweiz jedoch erst neue Räume und Netzwerke geschaffen werden, da Forschung zur Frauengeschichte innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft nur sehr schleppend anerkannt wurde – obwohl sie im englischsprachigen Raum in den 1970er Jahren bereits etabliert war.5

Regina Wecker, Assistentin, und Hans Rudolf Guggisberg, Professor für Neuere Allgemeine und Schweizergeschichte am Historischen Seminar der Universität Basel, boten im akademischen Jahr 1978/79 die ersten beiden offiziellen Seminare zum Thema Frauengeschichte an. Diese hatten englische Titel und deutsche Untertitel: »To Suffer and be still: Die Frau im 19. Jahrhundert« und »Her-Story: Die Frau in der amerikanischen Geschichtsforschung«.6 Die Forschungsliteratur für das Seminar hatte Guggisberg aus seinen Forschungsaufenthalten in den USA mitgebracht.7

Abb. 2: Auf einem Frauenstadtrundgang, um 1993.

Angeregt durch den Austausch in den ersten Seminaren zur Frauengeschichte formierte sich Anfang der 1980er Jahre die Arbeitsgemeinschaft Frauengeschichte, die sich in informellem Austausch mit theoretischer Literatur zur Geschlechtergeschichte befasste. Gleichzeitig setzte sie sich aktiv dafür ein, dass am historischen Seminar regelmässig Lehraufträge zur Frauengeschichte vergeben wurden. Vorlesungen und Seminare durften bis in die neunziger Jahre nur von habilitierten Personen gehalten werden. Die Auswahl an Schweizer Dozent*innen, welche auf dem Gebiet forschten, war dadurch sehr eingeschränkt, weshalb vor allem Lehrende aus Deutschland eingeladen wurden. Das erklärte Ziel der Arbeitsgruppe war die verstärkte Institutionalisierung von Frauengeschichte an der Universität Basel. Regina Wecker, auch Teil dieser Arbeitsgruppe, beschreibt im Rückblick, dass die Institutionalisierung im Rahmen eines Forschungsprojekts oder Lehrstuhls, der Schwerpunkte setzte oder Informationen bündelte, fehlte, dies jedoch das wachsende Interesse an der Frauengeschichte nicht aufhalten konnte:

»Das führte zu einer Vielfalt der Methoden, setzte innovative Kräfte frei und erlaubte Konzepte, Forschungsfragen und Projekte, die innerhalb der Ordinarienuniversitäten wenig Chancen auf Verwirklichung gehabt hätten. Es hiess aber auch, dass historische Forschung von Frauen fast immer durch fachfremde Arbeit finanziert werden musste.«8

1983 fand dann die erste Historikerinnentagung in Bern statt. Zunächst von Berner und Basler Historikerinnen gemeinsam organisiert, wurde sie später in Abständen von ein bis zwei Jahren abwechselnd in Basel, Bern und Zürich durchgeführt.10 Diese von Studierenden und Assistierenden organisierten Veranstaltungen hätten anfangs kaum Beachtung gefunden und seien belächelt worden, da sie quasi »von unten« organisiert worden seien, berichten ihre Initiantinnen.11 Dieser »Wurzelgrund für feministische Historikerinnen«12 war jedoch wichtig für die Debatten der Geschlechtergeschichte in der Schweiz: Die Historikerinnentagungen dienten als Vernetzungsplattform und ermöglichten es, Quellen und Hinweise zu aktuellen Forschungen auszutauschen.13

Öffentliche Wissenschaft

Das in den 1970er und 80er Jahren aufkommende Interesse an der Geschichte der Frauen im akademischen Rahmen ist mit den politischen Forderungen der neuen Frauenbewegung und dem damit einhergehenden Ruf nach einer Geschichte von Frauen verknüpft. Die amerikanische Historikerin Joan W. Scott beschreibt, wie historische Forschung auch als feministische Strategie verstanden werden kann. Feministische Geschichte liefert, so Scott, grundlegende Elemente für ein kritisches Handeln in der Gegenwart. Mithilfe der Vergangenheit lasse sich die Gewissheit der Gegenwart aufbrechen und mache der Gesellschaft auf diese Weise den Weg frei, eine andere Zukunft zu denken.14 Sie schreibt:

»Feministische Geschichte war nie vorrangig damit beschäftigt, die Erfahrung von Frauen in der Vergangenheit zu dokumentieren, auch wenn dies das sichtbarste Mittel war, mit dem wir unser Ziel verfolgt haben. Der Anlass dafür, in die Vergangenheit zu blicken, war der Wunsch die Gegenwart zu destabilisieren, die patriarchalen Institutionen und Denkweisen, die sich selbst als naturgegeben legitimieren, zu hinterfragen und das Undenkbare zu denken.«15

Abb. 3: Der erste Basler Frauenstadtrundgang im Ausstellungskatalog der Jubiläumsausstellung 100 Jahre Frauenstudium an der Universität Basel, 1990.

Diese Idee einer politisch engagierten Geschichtsschreibung, welche die Trennung zwischen einer vermeintlich objektiven, ›naturgegebenen‹ allgemeinen Geschichtsschreibung und dem öffentlichen Diskurs in Frage stellt, wurde zu dieser Zeit auch an anderen Orten verhandelt. Die Vermittlung von Geschichte an ein nichtwissenschaftliches Publikum wurde beispielsweise von der in den 1970er Jahren entstandenen Public History, einer Teildisziplin der amerikanischen Geschichtswissenschaft, ins Zentrum gesetzt und als Berufsfeld zunehmend professionalisiert.16 In Deutschland wurden ähnliche Fragen in den in den 1980er Jahren aufkommenden Geschichtswerkstätten diskutiert. Mit dem Ansatz, »Geschichte von unten« zu machen, verfolgten diese Geschichtsinitiativen das Ziel, bisher in der Geschichtsschreibung vernachlässigte gesellschaftliche Gruppen in den Blick zu nehmen und deren lokale und alltägliche Lebensweise zu erforschen.17 Die Forderung, nicht nur einem engen wissenschaftlichen Kreis neue Forschungsergebnisse vorzulegen, sondern diese einem breiten Publikum zugänglich zu machen, ging mit einem Anspruch an die Demokratisierung und Identitätsstiftung einer Gesellschaft und ihrer Geschichte einher. Die Spurensuche sollte dazu dienen, sich des historischen Kontextes seiner eigenen Biografie bewusst zu werden und Handlungsperspektiven für die gegenwärtige Gesellschaft zu bieten.18

Format Frauenstadtrundgang

Während die Forschung zur Frauen- und Geschlechtergeschichte allmählich Fahrt aufnahm, formierte sich Ende 1989 der Verein Frauenstadtrundgang Basel. Seine Geschichte beginnt mit einer Gruppe von acht Historikerinnen und Geschichtsstudentinnen, die anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Frauenstudiums an der Universität Basel einen ersten Rundgang konzipierten. Die Gründung des Vereins ist eng mit den Aktivitäten der beiden AGs Frauengeschichte verschränkt. Die regelmässige Thematisierung von Frauengeschichte in den von den AGs initiierten Lehrangeboten motivierte Studierende, diese auch in Seminar- und Lizentiatsarbeiten zu vertiefen.

Abb. 4: Gaby Sutter als Stadtrundgangsleiterin, um 1993.

Heute beschreibt Gründungsmitglied Brigitta Gerber den Austausch in diesen Seminaren als sehr belebend und erinnert sich an den Enthusiasmus bei der Begegnung mit »wirklich neuem Wissen«.19 Nachdem erste Forschungsergebnisse vorlagen, entstand das Bedürfnis, die neuen Erkenntnisse auch ausserhalb der Universität zu vermitteln.20 Während die AG Frauengeschichte ihren Fokus auf die wissenschaftliche Ausbildung im Bereich der Frauen- und Geschlechtergeschichte legte, ging es mit dem neu gegründeten Frauenstadtrundgang darum, die neuartigen Erkenntnisse nach aussen zu tragen.

Die Idee für das Format eines Frauenstadtrundgangs geht auf den Kölner Frauengeschichtsverband zurück. Irene Franken und Gwen Edith Kiesewalther, Initiantinnen der ersten Kölner Stadtrundfahrt, stellten auf der 5. Schweizerischen Historikerinnentagung 1988 ihre Erfahrungen und Erkenntnisse vor. In ihren Ausführungen, vorgetragen in betroffenem Tonfall, der ihren Beitrag deutlich von den anderen abhebt, wird ersichtlich, wogegen sie mit ihrem Format ankämpfen: den Ausschluss der Frauen aus der Geschichtsschreibung.21 Dieses Anliegen führen sie auf ihre persönlichen Erfahrungen in verschiedenen Frauenprojekten zurück:

»Der Ausschluss von Frauen aus der Geschichtsschreibung (wie auch aus vielen anderen öffentlichen Bereichen) bzw. die verzerrte und einseitige Darstellung von Frauen in der Geschichte macht es Frauen heute schwer, eine positive Einstellung zu ihrem Geschlecht und damit ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Durch unsere Arbeit wurden wir Zeuginnen dafür, dass Frauen geradezu ausgehungert sind nach Bildern und Vorbildern.«22

Solche Vorbilder galt es mit den Stadtrundfahrten zu erschaffen. Ihre persönliche Erfahrung spielte auch eine zentrale Rolle für das Vermittlungsformat. Dazu schreiben die Autorinnen verallgemeinernd, dass unterhaltsame, szenische Vermittlungsformen »gerade für Frauen besonders angemessen« seien, »haben wir doch alle unsere Vorurteile gegen eine Geschichtsschreibung, in der wir nicht vorkommen, zu überwinden, was vielen Frauen generell die Lust an der Geschichte verbaut hat.«23 Die Autorinnen formulieren mit ihrem »lokalen, sinnlichen und unmittelbaren Zugang« neue und kritische Ansprüche an die bisher »männerorientierte Geschichte«.24 Ihre Ansprüche an neue Vermittlungsformate leiten sie dabei aus einer binären Geschlechterkonstruktion ab. Intersektionale Perspektiven, welche in Basel später auch Teil der Vermittlungsarbeit werden, bleiben hier noch aussen vor. Das ein Jahr später vorgelegte Grundlagenkonzept der Baslerinnen greift die beschriebenen Ansprüche auf: »Die heutige Geschichtsschreibung gibt ein einseitiges, geschlechtsspezifisches Menschenbild wieder. Die wissenschaftlichen Prämissen einer männlich dominierten Geschichte sollen über Bord geworfen werden.«25 Auch in ihren Augen ist »diese Art von Geschichte für Frauen äusserst uninteressant«,26 da diese durch die herrschende, männliche Perspektive davon ausgeschlossen würden. Daraus resultierte ihre Motivation, vor allem Führungen von Frauen für Frauen zu planen.

Abb. 5: Zwei Stadtrundgangsleiterinnen als römische Frauen verkleidet, Augusta Raurica, 1998.

Die Zusammenarbeit in der Gruppe, das gemeinsame Interesse für marginalisierte Themen und deren spielerische Aufarbeitung, hat den Beteiligten »auch einfach enorm Spass gemacht!«27 So blickt Gaby Sutter, welche sich in den 1990er Jahren in den beiden AGs Frauengeschichte engagierte und an der Ausarbeitung des zweiten Rundgangs beteiligt war, auf die Zeit zurück. Sie beschreibt, wie die Vereinsmitglieder als Abwechslung zum teilweise eher trockenen Zuhören, Lesen und Diskutieren von Texten im Studium unterschiedliche Vortragsstile und kreative Umsetzungen ausprobierten.28 Mithilfe von Requisiten wie Bildern, Gerichtsakten, Briefen und Tondokumenten wurden die Rundgänge belebt, und mittels Kostümen und Accessoires schlüpften die Leiter*innen in unterschiedliche Rollen.

Der Erfolg des Formats und die gemeinsame Begeisterung für die Themen zeigen eine Geschichtsschreibung, welche die Wissenschaftlerinnen in ihren Interessen bestätigte und auch zur Weiterverfolgung der Themen motivierte. Die gegenseitige Unterstützung und Motivation hatte hier direkten Einfluss auf ihre weitere Forschung und somit auch auf die Diversifizierung der Geschichtsschreibung. Gleichzeitig konnte durch die ausserakademische Vermittlung das öffentliche Interesse für Frauen- und Geschlechtergeschichte geweckt werden.29

Der erste Basler Frauenstadtrundgang 1990, der sich Frauenarbeit zum Thema nahm, beleuchtete an verschiedenen Stationen das Leben der Beginen im Mittelalter, als Hexen angeklagte Frauen im 16. und 17. Jahrhundert, Dienstbotinnen um 1900, Fabrik- und Heimarbeiterinnen, Sexarbeit sowie hausierende Sandverkäuferinnen.30 Alles Themen, die von den damaligen Studierenden an der Universität Basel erforscht wurden. Dass die Stadtführerinnen sich für Arbeit als Schwerpunktthema entschieden, ist insofern nicht erstaunlich, als die ersten akademischen Forschungen im deutschsprachigen Raum sich ebenfalls damit befassten. So waren die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen auch das Thema der ersten Historikerinnentagung 1983 in der Schweiz.31 Die damals erarbeiten Inhalte der Frauenstadtrundgänge lassen sich in der Quergängerin nachlesen, einer 1991 herausgebrachten Publikation, die aufgrund der grossen Nachfrage nach einer Dokumentation des Rundgangs damals gedruckt wurde.

Abb. 6: Cover der ersten Publikation des Vereins zum Thema Arbeit, 1991.

Durch die wissenschaftliche Dokumentation hebt sich der Frauenstadtrundgang von anderen Formen der Geschichtsvermittlung wie Living History und Reenactment ab, da der Anspruch an wissenschaftliche Fundiertheit und der aktuelle Stand der Forschung wichtige Merkmale der Rundgänge und der Publikationen darstellen. Ausserdem machten die Vereinsaufgaben eine praktische Auseinandersetzung in der Zusammenarbeit mit Verlagen und Grafiker*innen, Fundraising, Koordination sowie Teamarbeit nötig.32 Der Blick auf die Karrieren ehemaliger Mitglieder – als freischaffende Historikerinnen, im Museumsbereich, als Vermittlerinnen – zeigt, dass der Frauenstadtrundgang durchaus auch in der Entwicklung ausserakademischer Praxisfelder für Historikerinnen seine Spuren hinterlassen hat.33

Die Anliegen

Das übergeordnete Anliegen der Frauennetzwerke, in denen Forschungsergebnisse besprochen, theoretische Literatur diskutiert und für die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte gekämpft wurde, war es, Frauen aus ihrer historischen Unsichtbarkeit zu holen. Auch die direkte Betroffenheit der Studentinnen, die sich in der Geschichte nicht repräsentiert sahen, führte dazu, sich über den akademischen Rahmen hinaus für die Frauen- und Geschlechtergeschichte zu engagieren.

Der Anspruch, die erarbeiteten Erkenntnisse nicht nur innerhalb des akademischen Rahmens mit anderen Historiker*innen zu teilen, sondern einem breiten Publikum zugänglich zu machen, war auch mit dem Bedürfnis der Historiker*innen verknüpft, sich ein »ausser-universitäres, wissenschaftliches Bestätigungsfeld« zu schaffen.34 »Das Projekt versteht sich als Beitrag zur Förderung von Frauen in Kultur und Wissenschaft, insbesondere den Historischen Wissenschaften« – so ist es in den Vereinsstatuten von 1991 formuliert.35 Mit dem Frauenstadtrundgang wurde ein Verein gegründet, aus dem zum einen wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgehen und zum anderen universitätspolitische Anliegen in die Öffentlichkeit getragen werden können. Dafür wurden bewusst die Grenzen der Universität überschritten. Schon beim ersten Rundgang 1990 wurde aktiv die Presse eingeladen, mit der Absicht, auch mit Medienpräsenz eine öffentliche Plattform für die Anliegen der AG Frauengeschichte zu schaffen. Die Frauenstadtrundgängerinnen suchten ausserdem den direkten Kontakt zur Politik: Für Basler Politiker*innen gab es etwa eine Spezialführung des ersten Rundgangs.36 Es ging dem Frauenstadtrundgang nicht darum, der Universität den Rücken zu kehren, sondern Mittel zu suchen, um aus einer anderen Position ihre Anliegen einzubringen. Regina Wecker wurde schliesslich 1993 auf die erste aus einem Bundesprogramm finanzierte Assistenzprofessur für Frauen- und Geschlechtergeschichte berufen. Dass diese jedoch erst im Jahr 1997 in eine ausserordentliche Professur umgewandelt wurde, zeigt, wie langsam die Universität den Forderungen nachkam.

Auch wenn heute ähnliche Vereine in der ganzen Schweiz, unter anderem in Zürich, Luzern, Winterthur und Aarau,37 Frauenstadtrundgänge anbieten, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlecht immer noch ein öffentlich umkämpftes Feld – ebenso die immer wieder angegriffenen Gender Studies, die seit 2001 an der Universität Basel studiert werden können. Die Geschichte des Vereins Frauenstadtrundgang Basel zeigt das Potenzial, welches im Operieren an der Schnittstelle von Akademie und Öffentlichkeit, hier mit Fokus auf den Transfer von kritischem wissenschaftlichem Wissen zu Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Gesellschaft, steckt.

Marian Cramm studiert Kulturtechniken an der Universität Basel. Sie ist Mitglied im Verein Frauenstadtrundgang Basel.

Abb. 7: Verschiedene Flyer auf dem Cover des Jahresberichts 2004.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Yvonne Siemann, 26.06.2021.

Abb. 2: Thomas Kneubühler, um 1993.

Abb. 3: Historisches Seminar (Hg.): D’ Studäntin kunnt. 100 Jahre Frauen an der Uni Basel, Basel (1991), S. 13.

Abb. 4: Thomas Kneubühler, um 1993.

Abb. 5: Unbekannt, 1998, Archiv des Frauenstadtrundgangs Basel.

Abb. 6: Verein Frauenstadtrundgang Basel (Hg.): Quergängerin 1: Arbeit, Basel: AZ Verlag (1991), Cover.

Abb. 7: Verein Frauenstadtrundgang Basel, Jahresbericht 2004, Cover.

Literatur
  1. 1

    Der Sprechtext ist der Station »Biografien von Frauen innerhalb des Konzepts der sog. Geschlechtscharaktere« des Frauenstadtrundgangs Basel bricht das Eis. Der lange Weg zum Frauenstimmrecht entnommen. Die Station wurde 2006 im Auftrag der Vereinigung für Frauenrechte Basel erarbeitet.

  2. 2

    Vgl. dazu: Eleonora Heim, Lena Heizmann: »Arbeiter*innen und moralisch-bürgerliche Ansprüche«, in: Verein Frauenstadtrundgang Basel (Hg.): Auf Abwegen: Frauen im Brennpunkt bürgerlicher Moral, Basel: Christian Merian Verlag (2021), S. 23–55.

  3. 3

    AG Frauengeschichte Stadtrundgang, »Grundlagenkonzept zum Stadtrundgang Juni 1990«, 25. November 1989, Archiv des Verein Frauenstadtrundgang Basel, o.S.

  4. 4

    Vgl. dazu: Anne-Lise Head-König: »Geschlechtergeschichte«, in: Historisches Lexikon der Schweiz HLS, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027814/2021-01-26/ (26. Januar 2021).

  5. 5

    Regina Wecker: »Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 41 (1991), S. 308–319, hier S. 308f.

  6. 6

    Regina Wecker: »Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 41 (1991), S. 308–319, hier S. 309.

  7. 7

    Interview mit Regina Wecker, geführt von Marian Cramm am 8. Dezember 2020.

  8. 8

    Regina Wecker: »Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 41 (1991), S. 308–319, hier S. 310.

  9. 9

    Vgl. Bettina Vincenz, Regina Käslin Scherrer, Elisabeth Joris: »Die Schweizerische HistorikerInnentagung – Wurzelgrund für feministische Historikerinnen: Interview«, in: Rosa: Die Zeitschrift für Geschlechterforschung 24 (2002), S. 8–12, hier S. 8.

  10. 10

    1987 wurde die Historikerinnentagung von der AG Frauengeschichte in Basel ausgerichtet. Vgl. dazu: Arbeitsgruppe Frauengeschichte Basel (Hg.): Auf den Spuren weiblicher Vergangenheit: Beiträge der 4. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich: Chronos (1988).

  11. 11

    Bettina Vincenz, Regina Käslin Scherrer, Elisabeth Joris: »Die Schweizerische HistorikerInnentagung – Wurzelgrund für feministische Historikerinnen: Interview«, in: Rosa: Die Zeitschrift für Geschlechterforschung 24 (2002), S. 8–12, hier S. 9.

  12. 12

    Bettina Vincenz, Regina Käslin Scherrer, Elisabeth Joris: »Die Schweizerische HistorikerInnentagung – Wurzelgrund für feministische Historikerinnen: Interview«, in: Rosa: Die Zeitschrift für Geschlechterforschung 24 (2002), S. 8–12, hier S. 9.

  13. 13

    Vgl. Bettina Vincenz, Regina Käslin Scherrer, Elisabeth Joris: »Die Schweizerische HistorikerInnentagung – Wurzelgrund für feministische Historikerinnen: Interview«, in: Rosa: Die Zeitschrift für Geschlechterforschung 24 (2002), S. 8–12, hier S. 9.

  14. 14

    Vgl. Joan W. Scott: »Geschichte der Feministinnen«, in: L’homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 14/2 (2003), S. 317–336, hier S. 327.

  15. 15

    Vgl. Joan W. Scott: »Geschichte der Feministinnen«, in: L’homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 14/2 (2003), S. 317–336, hier S. 333.

  16. 16

    Vgl. dazu Simone Rauthe: »Public History in den USA«, in: Wolfgang Hardtwig, Alexander Schug (Hg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart: Franz Steiner Verlag (2009), S. 372–380.

  17. 17

    Vgl. Etta Grotrian: »Geschichtswerkstätten und alternative Geschichtspraxis in den achtziger Jahren«, in: Wolfgang Hardtwig, Alexander Schug (Hg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart: Franz Steiner Verlag (2009), S. 243–255, hier S. 244.

  18. 18

    Vgl. Etta Grotrian: »Geschichtswerkstätten und alternative Geschichtspraxis in den achtziger Jahren«, in: Wolfgang Hardtwig, Alexander Schug (Hg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart: Franz Steiner Verlag (2009), S. 243–255, hier S. 245.

  19. 19

    Interview mit Brigitta Gerber, geführt von Marian Cramm am 14. Dezember 2020.

  20. 20

    Interview mit Gaby Sutter, geführt von Marian Cramm am 1. Dezember 2020.

  21. 21

    Vgl. Gwen Edith Kiesewalter: »Touristin in der eigenen Stadt – Historische Stadtrundfahrten für Frauen in Köln. Ein Erfahrungsbericht«, in: Regula Ludi, Ruth Lüthi, Regula Rytz (Hg.): Frauen zwischen Anpassung und Widerstand. Beiträge der 5. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich: Chronos (1990), S. 123–131, hier S. 123.

  22. 22

    Gwen Edith Kiesewalter: »Touristin in der eigenen Stadt – Historische Stadtrundfahrten für Frauen in Köln. Ein Erfahrungsbericht«, in: Regula Ludi, Ruth Lüthi, Regula Rytz (Hg.): Frauen zwischen Anpassung und Widerstand. Beiträge der 5. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich: Chronos (1990), S. 123–131, hier S. 123ff.

  23. 23

    Gwen Edith Kiesewalter: »Touristin in der eigenen Stadt – Historische Stadtrundfahrten für Frauen in Köln. Ein Erfahrungsbericht«, in: Regula Ludi, Ruth Lüthi, Regula Rytz (Hg.): Frauen zwischen Anpassung und Widerstand. Beiträge der 5. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich: Chronos (1990), S. 123–131, hier S. 125.

  24. 24

    Gwen Edith Kiesewalter: »Touristin in der eigenen Stadt – Historische Stadtrundfahrten für Frauen in Köln. Ein Erfahrungsbericht«, in: Regula Ludi, Ruth Lüthi, Regula Rytz (Hg.): Frauen zwischen Anpassung und Widerstand. Beiträge der 5. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich: Chronos (1990), S. 123–131, hier S. 125.

  25. 25

    Vgl. AG Frauengeschichte Stadtrundgang, »Grundlagenkonzept zum Stadtrundgang Juni 1990«, 25. November 1989, Archiv des Verein Frauenstadtrundgang Basel, o.S.

  26. 26

    Vgl. AG Frauengeschichte Stadtrundgang, »Grundlagenkonzept zum Stadtrundgang Juni 1990«, 25. November 1989, Archiv des Verein Frauenstadtrundgang Basel, o.S.

  27. 27

    Interview mit Gaby Sutter, geführt von Marian Cramm am 1. Dezember 2020.

  28. 28

    Interview mit Gaby Sutter, geführt von Marian Cramm am 1. Dezember 2020.

  29. 29

    Beispielsweise wurden die Frauenstadtrundgänge bereits 1990 im Basler Stadtbuch erwähnt: Brigitta Gerber, Katharina Huber: »Der Frauenstadtrundgang: zur Geschichte von Frauen in Basel«, in: Basler Stadtbuch 111 (1990), S. 152–154.

  30. 30

    Verein Frauenstadtrundgang Basel: Quergängerin 1: Arbeit, Basel: AZ Verlag (1991), S. 3.

  31. 31

    Der Tagung in der Schweiz ging eine in Deutschland voraus. Vgl. Barbara Duden, Gisela Bock: »Arbeit aus Liebe. Liebe als Arbeit«, in: Frauen und Wissenschaft: Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin: Courage-Verlag (1977), S. 118–199.

  32. 32

    Bereits nach einem Jahr richtete der Verein eine Koordinationsstelle ein, welche durch ein vom Arbeitsamt finanziertes 100%-Pensum besetzt werden konnte, das sich die ersten Mitglieder untereinander aufteilten.

  33. 33

    Vgl. dazu Alexandra Bloch Pfister: »Ausseruniversitäre Geschichtspraxis in der Schweiz«, in: Wolfgang Hardtwig, Alexander Schug (Hg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart: Franz Steiner Verlag (2009), S. 425–438.

  34. 34

    Brigitta Gerber, Katharina Huber: »Der Frauenstadtrundgang: zur Geschichte von Frauen in Basel«, in: Basler Stadtbuch 111 (1990), S. 152–154, hier S. 152.

  35. 35

    Vgl. AG Frauengeschichte Stadtrundgang, »Statutenneuerung 1991: I. Zweck und Ziel, Art. 3«, 5. August 1991, Archiv des Verein Frauenstadtrundgang Basel, o.S.

  36. 36

    Vgl. Martina Lichtensteiner, Maya Natarajan: »Erstmals öffentlich angeboten: ein Frauenstadtrundgang in Basel, in: Mireille Othenin-Girard, Anna Gossenreiter, Sabine Trautweiler (Hg.): Frauen und Öffentlichkeit. Beiträge der 6. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich: Chronos, 1991, S. 239–243.

  37. 37

    Vgl. Eva Bachmann: »Von Nonnen, Hexen, Dienstmädchen und Patrizierinnen: Frauenstadtrundgänge in der Schweiz«, in: Traverse: Zeitschrift für Geschichte 22 (2015), S. S. 7–16.