Æ Æther

Freiwillig arbeiten: Geschlechtergeschichten
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Niklas Müller

Glaube verpflichtet

Der Kampf gegen die Prostitution war bei gläubigen Frauen um 1900 populär. Ihr ausserhäusliches Engagement sprengte christliche und geschlechtsspezifische Normen. Wie gingen Aktivist*innen mit diesen Widersprüchen um?

»Es ist sicher gut und nützlich, die Rechte der Frauen zu vertheidigen – aber sollte nicht dabei recht betont werden, daß das göttliche Gesetz gebietet: die Frau sei dem Manne unterthänig? Freilich, wenn der Mann diese Macht missbraucht, dann müssen die Gesetze schützend eintreten. Diese müssen aber doch von Männern des Rechts studirt und etablirt werden – denn solche Rechtsstudien können doch für Frauen kein Beruf sein? Wo fängt die Emanzipation der Frauen an? Welches ist die Linie, welche die Frau, die der Weiblichkeit treu bleiben will, nicht überschreiten darf? Die Frau soll schweigen in der Gemeinde, sagt das Wort Gottes – wo ist die Gemeinde? Wo hört sie auf? Sind Reden über einen Bibeltext nicht Predigten? Passen sie für Frauen?«1

Diese Worte schrieb eine protestantische Frau aus der Deutschschweiz 1892 in einem Leserinnenbrief, der im »Sprechsaal« der Zeitschrift Aufgeschaut! Gott vertraut! abgedruckt wurde. Die Zeitschrift war das Publikationsorgan der Schweizer Sektion des internationalen Vereins Freundinnen junger Mädchen, die einige Jahre zuvor ins Leben gerufen worden war.2 Die »Freundinnen« bezweckten durch praktische, meist unbezahlte Arbeit, junge Frauen vor den Gefahren der Prostitution zu bewahren. Sie werden heute der Sittlichkeitsbewegung zugeordnet, die wiederum zur frühen Frauenbewegung gezählt wird.3

Die Einsenderin stand Fragen der rechtlichen Emanzipation offensichtlich kritisch gegenüber. Das mag aus heutiger Sicht vielleicht überraschen und ihre Aussagen mögen dazu verleiten, ihre Position als nicht sehr progressiv anzusehen. Wollen wir aber den Stellenwert weiblicher Freiwilligenarbeit aufdecken, führen vorschnelle Urteile in die Sackgasse. Stattdessen sollte analysiert werden, wie sozial engagierte Frauen ihre ehrenamtliche Arbeit selbst bewerteten und legitimierten. Dazu bietet der eingangs zitierte Leserinnenbrief und die Antwort, die die Einsenderin darauf erhielt, einen geeigneten Ausgangspunkt. Obwohl ihr Name unbekannt ist und unklar bleibt, welche Rolle sie innerhalb der Bewegung einnahm, ermöglicht der Austausch in Aufgeschaut! Gott vertraut! einen wertvollen Einblick in die Gedanken- und Lebenswelt protestantischer Frauen, die in der frühen Sittlichkeitsbewegung aktiv waren. Wie reflektierten anonyme Aktivist*innen ihr Engagement? Wie versuchten sie, ausserhäusliche Tätigkeit zu rechtfertigen, die den engen Rahmen der protestantisch-bürgerlichen Geschlechterordnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts sprengte?

Moralisches Versagen oder gesellschaftliches Problem? Abolitionismus in der Schweiz

Die Sittlichkeitsbewegung in der Schweiz lässt sich auf die Ideen des Abolitionismus zurückführen.4 Gemeint ist damit in diesem Kontext nicht die Abschaffung der Sklaverei, sondern die Befreiung der Frauen »aus der sexuellen Versklavung durch die Männer«.5 Die Gründerin der abolitionistischen Bewegung war Josephine Butler, die sich in England gegen die in den 1860er-Jahren erlassenen Contagious Diseases Acts auflehnte. Diese sahen vor, dass sich Prostituierte – nicht aber Freier – zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten medizinischen Zwangsuntersuchungen unterziehen mussten. Gleichzeitig reglementierten und tolerierten sie die Prostitution nicht wie bis anhin nur in Hafenstädten und auf Militärbasen, sondern im gesamten Staatsgebiet.6

In England kämpften Arbeiter*innen und Bürgerliche gemeinsam gegen die Gesetze. Neben der religiös motivierten Forderung nach mehr Sittlichkeit war der Abolitionismus von Anfang an auch eine Bewegung für die Rechte der Frauen.

Abb. 1: Titel des Aufgeschaut! Gott vertraut!

Auf Initiative von Josephine Butler entstand 1875 in Genf die Fédération abolitionniste internationale mit dem Ziel, abolitionistische Forderungen länderübergreifend zu koordinieren. Die Vereinigung stiess vor allem in der Romandie und in Frankreich auf Zuspruch. Die Mitglieder beklagten, dass in der Frage der Prostitution unterschiedliche Massstäbe für Männer und Frauen galten und forderten die Aufhebung dieser »Doppelmoral« durch die »Gleichstellung der Geschlechter«.7 Es wurde kritisiert, dass Prostituierte immer mehr kontrolliert wurden, während Freier keine rechtlichen Konsequenzen befürchten mussten.8 Damit trug die Vereinigung dazu bei, dass auch in der Schweiz Fragen nach Frauenrechten und Sexualmoral öffentlich diskutiert wurden.

Josephine Butler hatte vor allem Kontakt zu Westschweizer Frauenrechtlerinnen wie Marie Goegg, einer Vorreiterin im Kampf für Frauenrechte, die in den 1860er-Jahren mit ihren radikalen Forderungen nach der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Gleichstellung der Frauen für Aufsehen sorgte.9 Auch die ersten abolitionistischen Vereine wurden in der Westschweiz gegründet. Dazu gehörten die Dames de la fédération, die in Genf, La Chaux-de-Fonds, Le Locle und Vevey Lokalvereine unterhielten und sich von Anfang an dem Programm und der Zielsetzung der Fédération abolitionniste internationale verpflichteten.

Josephine Butler und ihre Anhängerinnen führten die Prostitution hauptsächlich auf die ökonomische Benachteiligung von Frauen zurück. Andere Aktivistinnen sahen darin hingegen ein Zeichen der allgemeinen Sittenverwahrlosung, also ein moralisches Problem, dem mit Kontrolle zu begegnen sei.10 Diese Position war vor allem in den Deutschschweizer Sittlichkeitsvereinen verbreitet, die in den 1880er-Jahren in Zürich, Bern und Basel gegründet wurden. Sie standen der abolitionistischen Idee zwar nahe und forderten ebenfalls die Abschaffung der Prostitution, setzten dabei aber auf Sittenstrenge und staatliche Repression. 1901 schlossen sich die lokalen Vereine im Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit zusammen. Dessen Gründung wurde und wird bis heute als Abspaltung der Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine von der internationalen abolitionistischen Bewegung interpretiert.

In der französischsprachigen Schweiz etablierte sich also eine emanzipative Sittlichkeitsbewegung, die der Prostitution begegnete, indem sie offen gleiche Rechte für Mann und Frau einforderte. In der Deutschschweiz versuchte die Sittlichkeitsbewegung der Prostitution hingegen mit Repression zu begegnen. Sie sahen in der Prostitution ein moralisches Problem, dem mit einer neuen Sittlichkeit entgegengetreten werden müsse.11 Hinzu kam noch ein weiterer Unterschied. Während die Fédération abolitionniste internationale, bedingt durch den relativ hohen Mitgliederbeitrag, einen exklusiven Zirkel interessierter Frauen ansprach, öffneten sich die Sittlichkeitsvereine auch engagierten Frauen, die nicht in der Lage waren, die jährlichen Mitgliedschaftsbeiträge auszurichten. Sie bauten also von Anfang an auf die freiwillige Arbeit ihrer Mitglieder, die zum Beispiel durch die Betreuung lediger Frauen versuchten, diese vor der Versuchung ausserehelichen Geschlechtsverkehrs zu bewahren, der von vielen christlichen Frauen als erster Schritt in die Prostitution gesehen wurde.

Programm und Praxis der Sittlichkeitsbewegung

Die historische Forschung hat erst in den 1980er-Jahre begonnen, sich mit der Sittlichkeitsbewegung auseinanderzusetzen. Dabei interessierte sie sich hauptsächlich für die Ziele und Aktivitäten der Fédération und ihre emanzipativen Forderungen. Dass in der Deutschschweiz hingegen der Prostitution mit Sittenstrenge und einem »moralischen Rigorismus« begegnet wurde, stellt für die Historikerin Beatrix Mesmer eine »gründliche Umfunktionierung« der ursprünglichen Ziele dar.12 Diese Argumentation suggeriert, dass die Orientierung an Religion und Moral im Kampf gegen die Prostitution die Forderung nach gleichen Rechten für Frauen ausschliesst. Auch andere Historikerinnen folgten dieser Linie.13 Damit verstärkte die historische Forschung das Bild einer zweigeteilten abolitionistischen Bewegung in der Schweiz mit einem emanzipativen, der Fédération nahestehenden französischsprachigen Teil und einem moralischen, von Sittlichkeitsvorstellungen geprägten deutschsprachigen Teil. So hält etwa Mesmer fest, dass die Mitglieder des Verbands deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit nicht für mehr Rechte für Frauen, sondern für weniger Rechte für Männer kämpften.14

Historiker*innen, die dieser Argumentationslinie folgen, stützen ihre Forschung vor allem auf gedruckte Quellen der Sittlichkeitsbewegung. Konzentriert man sich aber nur auf Vereinspublikationen, wird die praktische Arbeit tausender Mitglieder ignoriert, die den Verband Vereine zur Hebung der Sittlichkeit bis 1912 zur grössten Frauenorganisation der Schweiz machten.15 Wie bereits erwähnt, konnte die Sittlichkeitsbewegung auch Frauen ausserhalb der gutsituierten bürgerlichen Kreise erreichen. Dabei war die freiwillige Arbeit, die diese Frauen leisteten, der zentrale Drehpunkt. Im Gegensatz zu den Publikationen der Zentralorgane hatte die freiwillige Arbeit einen konkreten und realen Einfluss auf die individuellen Lebenswelten der Akteurinnen. Möchte man also Rückschlüsse einer sozialen Bewegung und deren Zielsetzungen auf die Protagonistinnen ziehen, muss die Freiwilligenarbeit beziehungsweise die Art und Weise, wie sich Aktivist*innen darüber äusserten, Teil der Analyse sein. Der eingangs zitierte Leserinnenbrief und der darauffolgende Austausch in der Zeitschrift ermöglicht, den Fokus weg von den programmatischen Inhalten und hin zu den konkreten Praktiken der in der Sittlichkeitsbewegung engagierten Frauen zu richten.

Geschlecht, Glaube und Freiwilligkeit

Wie das freiwillige Engagement legitimiert wurde, zeigt die Antwort, welche die Einsenderin in der nächsten Ausgabe erhielt:

»Wir sind keineswegs emanzipationssüchtig, aber des vollen Glaubens, dass die einzige Macht der Frau und Waffe der Frau ist: der Wandel, die Sanftmuth. Wohl der Frau und dem Zeitalter, wenn die Frau in ihrer Stille bleiben und ihres Wirkungskreises ruhig walten kann. Wenn aber die Zeiten so sind, daß ungleich größere Uebel allgemein, als beunruhigte Weiblichkeit oder beleidigte Convenienz es sein können; wenn die Frau in Tausenden ihres Geschlechts sich furchtbar mißhandelt sieht und das andere Geschlecht läßt es nicht nur zu, sondern betrachtet das als durchaus berechtigte Sachlage und verhältnißmäßig nur ganz wenige Stimmen erheben sich dagegen – da muß die Frau getrieben von dem edelsten Gefühl der Schwesternliebe thun, was ihr zu thun schwer genug wird, sie muß ihre Natur verleugnen, um einem höheren Befehl zu gehorchen – sie muß hervortreten! […] Die Reinheit und Heiligkeit ihrer Motive wird die ächte Weiblichkeit ungetrübt erhalten und sie zur Erfüllung jeder gegebenen Pflicht stählen.«16

Abb. 2: Eine Stimme in der Wüste (1875), eine der wichtigsten Publikationen Jospehine Butlers.

Die anonyme Autorin dieser Replik und die Einsenderin scheinen sich darüber einig zu sein, dass eine bürgerlich protestantische Geschlechterordnung als Idealzustand anzusehen ist: Frauen müssen keiner Lohnarbeit nachgehen und können sich aus politischen Belangen heraushalten. Dass Frauen überhaupt ehrenamtlich tätig werden müssen, wird hier mit nicht näher beschriebenen gesellschaftlichen Umständen begründet, die ihren Einsatz im Kampf gegen die Unsittlichkeit erfordern. Da dieser Kampf ein Kampf für »das göttliche Gesetz […] der wahren Freiheit« darstellt, weist er heilige Motive auf und legitimiert damit das Heraustreten der Frauen aus der ihnen zugedachten Rolle.17 Damit ist der Widerspruch jedoch nicht für alle Mitglieder aufgelöst, wie die Einsenderin des Leserinnenbriefs in ihrer Replik auf das Antwortschreiben klarstellte:

»Auch darin fühle ich eins mit der andern lieben Freundin, daß es Verhältnisse gibt, wo die Frau selbstvergessen ihre Natur verleugnen, reden, helfen muß, wie sie kann. – Aber wahr ist auch, daß nicht Jede dazu berufen ist und prüfen sollte sich Jede: Wo ruft Gott mich? […] Das schließt wahrlich nicht aus und darf nicht ausschließen, daß Jede die Berufung hat, das Wohl ihres ganzen Geschlechtes zu Herzen zu nehmen.«18

Auf die Frage »Wo ruft Gott mich?« schienen viele Schweizerinnen um die Jahrhundertwende in der christlichen Nächstenliebe eher eine Antwort gefunden zu haben als im Aufstellen politischer Forderungen nach Gleichberechtigung. Die religiöse Prägung war für viele Frauen zentral. Aktivistinnen der Deutschschweizer Sittlichkeitsbewegung verstanden ihr Engagement offensichtlich in erster Linie als gelebtes Christentum.19

Diese Legitimierung der Freiwilligenarbeit machte das Ausbrechen aus der bürgerlichen Frauenrolle zu einer Notwendigkeit im Kampf gegen die Unsittlichkeit. Das »Verleugnen der weiblichen Natur« bedeutet zwar noch keine Gleichberechtigung, das Aufbrechen bürgerlicher Geschlechterrollen kann aber durchaus als erster Schritt in eine solche Richtung verstanden werden. Paradoxerweise wird die faktische Übertretung herrschender Geschlechternormen durch das Heraustreten aus dem privaten weiblichen Bereich in der Antwort auf den Leserinnenbrief mit einer natürlichen Geschlechterdifferenz gerechtfertigt. Das Engagement der Frauen im Kampf gegen die Missstände wird hier als von Gott auferlegte weibliche Pflicht dargestellt, quasi als öffentliche Aufgabe der Frau.

Wie bereits erwähnt, wissen wir nicht, welche Rolle die Einsenderin in der Bewegung innehatte und wie sie zum Verein Freundinnen junger Mädchen stand. Vielleicht rühren die Fragen in ihrem Leserinnenbrief daher, dass sie Bibelstunden für »gefallene Mädchen«, also unverheiratete Mütter, mitorganisierte, um sie vor der Prostitution zu bewahren. Vielleicht half sie bei der Durchführung sittlicher Sonntagsveranstaltungen für ledige Frauen, die aus anderen Regionen angereist waren, um eine Stelle als Dienstmädchen anzunehmen, damit diese ihre freien Tage nicht mit angeblicher Schundliteratur, Kino oder gar im Wirtshaus verbrachten. Vielleicht war sie auch nur Mitglied einer der zahlreichen angebundenen Kollektenvereine, die die finanziellen Mittel für die Sittlichkeitsvereine sammelten.20

Was auch immer die Rolle unserer Einsenderin war, klar ist, dass ihr freiwilliges Engagement begründungsbedürftig war und somit keine Selbstverständlichkeit darstellte. Wenn die herrschenden Geschlechternormen bereits das Erklären einer Bibelpassage als für Frauen unpassend definierten, muss jegliches Engagement von Frauen in der Sittlichkeitsbewegung, ja selbst die blosse Beteiligung am Diskurs, als Heraustreten aus der ihnen zugedachten Rolle verstanden werden. Die konkrete Freiwilligenarbeit wird hier zum ersten Schritt der Emanzipation, auch wenn diese inhaltlich gar nicht eingefordert, teils sogar abgelehnt wurde. Sozial engagierte Frauen richteten ihre Praktiken zwar an den Normvorstellungen einer bürgerlichen Geschlechterordnung aus, zugleich bot ihnen ihr freiwilliges Engagement aber Möglichkeiten zur Überwindung ebendieser Normvorstellungen.

Fazit

Im späten 19. Jahrhundert die politische, gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung der Geschlechter zu fordern, erscheint in jedem Fall äusserst mutig und fortschrittlich. Diese Frauen sind für ihren Einsatz zu bewundern. Jedoch sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten, dass fortschrittliche Abolitionistinnen auf männliche Politiker angewiesen waren. Diese mussten ihre Forderungen überhaupt erstmals annehmen und in den politischen Prozess einbringen. Die Forderungen der Frauen konnten noch so radikal und fortschrittlich sein, sie waren letztlich Bittstellerinnen und auf das Wohlwollen von Politikern angewiesen, für die kaum eine Notwendigkeit bestand, auf politisch rechtlose Mitbürgerinnen einzugehen. Jede Petition, jede politische Initiative gelangte irgendwann an die Barriere der real existierenden Geschlechterordnung und konnte diese, wenn überhaupt, nur mithilfe der Männer überwinden.

In der Deutschschweizer Sittlichkeitsbewegung erschlossen sich Frauen hingegen neue alternative Handlungsräume mit Praktiken, die auf den ersten Blick nicht gegen die herrschenden Geschlechternormen verstiessen. Denn ihr Engagement war als von Gott auferlegte, weibliche Pflicht konnotiert. Der Eindruck einer Dichotomie zwischen einem emanzipativen und einem moralisch-repressiven Teil der Sittlichkeitsbewegung mag auf einer programmatischen Ebene ihre Berechtigung haben.

Auf die Frage »Wo ruft Gott mich?« schienen viele Schweizerinnen um die Jahrhundertwende in der christlichen Nächstenliebe eher eine Antwort gefunden zu haben als im Aufstellen politischer Forderungen nach Gleichberechtigung.

Der tatsächliche Einfluss auf die Emanzipation der Frau sollte aber kritisch hinterfragt werden. Dass sich Frauen wie die vorgestellte Leserin bei der Bekämpfung der Prostitution auf die christliche Nächstenliebe konzentrierten, bedeutet nicht unbedingt, dass sie egalitäre Forderungen ablehnten. Innerhalb der Bewegung existierte eine grosse Bandbreite an Meinungen, welche Rolle die weiblichen Mitglieder im Kampf gegen die Prostitution und für die Rechte der Frau einnehmen sollten. Während die einen vor allem die Männer und den Staat in der Pflicht sahen, erschlossen andere durch ihr eigenes freiwilliges Engagement – bewusst oder unbewusst – neue Handlungsräume und somit Alternativen zur bestehenden Geschlechterordnung. Ein religiös begründeter weiblicher Pflichtgedanke rechtfertigte das faktische Heraustreten aus der privaten Rolle und die damit verbundene Verstrickung in offensichtliche Widersprüche.

Es zeigt sich, dass Bewegungen nicht ausschliesslich anhand ihrer offiziellen Programmatik bewertet werden sollten. Nicht die Programmatik, sondern die konkrete freiwillige Tätigkeit ist der hauptsächliche Berührungspunkt der Mitglieder mit einer Bewegung. Diese Freiwilligenarbeit und die damit verbundenen internen Debatten zu untersuchen, eröffnet ganz neue Perspektiven auf die frühe Frauenbewegung in der Schweiz.

Niklas Müller studiert im Master Empirische Kulturwissenschaften und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich.

Die konkrete Freiwilligenarbeit wird hier zum ersten Schritt der Emanzipation, auch wenn diese inhaltlich gar nicht eingefordert, teils sogar abgelehnt wurde.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Aufgeschaut! Gott vertraut! Organ für den Verein der Freundinnen junger Mädchen und für Werke christlicher Frauenthätigkeit 1887–1947 (o.V.) (Dossier), Band 1, Heft 1 (1887), Gosteli-Stiftung – Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, 111:31.

Abb. 2: Josephine Butler: Eine Stimme in der Wüste (1875), Cover.

Literatur
  1. 1

    »Sprechsaal V«, in: Aufgeschaut! Gott vertraut! Organ für den Verein der Freundinnen junger Mädchen und für Werke christlicher Frauenthätigkeit 1887–1947 (Dossier), Band 1, Heft 5 (1892), Gosteli-Stiftung – Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, AGoF, 111:31.

  2. 2

    Elisabeth Joris: »Freundinnen junger Mädchen« (FJM), in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016501/2022-06-09/.

  3. 3

    Elisabeth Joris: »Frauenbewegung«, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016497/2022-12-06/.

  4. 4

    Elisabeth Joris: »Sittlichkeitsbewegung«, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016444/2013-01-24/.

  5. 5

    Elisabeth Joris: »Sittlichkeitsbewegung«, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016444/2013-01-24/.

  6. 6

    Dominique Puenzieux: Medizin, Moral und Sexualität: Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhöe in Zürich 1870-1920, Zürich: Chronos (1994), S. 110f.

  7. 7

    Elisabeth Joris: Brave Frauen, aufmüpfige Weiber: Wie sich die Industrialisierung auf Alltag und Lebenszusammenhänge von Frauen auswirkte, Zürich: Chronos (2001), S. 443.

  8. 8

    Elisabeth Joris: »Sittlichkeitsbewegung«, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016444/2013-01-24/.

  9. 9

    Beatrix Mesmer: Ausgeklammert – Eingeklammert: Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel: Helbing & Lichtenhahn (1988), S. 90.

  10. 10

    Beatrix Mesmer: Ausgeklammert – Eingeklammert: Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel: Helbing & Lichtenhahn (1988), S. 158–160.

  11. 11

    Sabina Jenzer: »In Begleitung von weissbeschuhten und stark parfümierten Mädchen«. Die Deutschschweizer Vereine zur Hebung der Sittlichkeit und ihr Blick auf die (potentielle) Prostituierte, in: Ariadne 55 (2009), S. 34–39.

  12. 12

    Beatrix Mesmer: Ausgeklammert – Eingeklammert: Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel: Helbing & Lichtenhahn (1988), S. 159.

  13. 13

    Esther Hürlimann zufolge werden Verbände wie der Verein der Freundinnen junger Mädchen erst seit den 1980er-Jahren zu der Frauenbewegung gezählt, während sie vorher, wenn überhaupt, als christliche Wohlfahrtsorganisation wahrgenommen wurden. Esther Hürlimann: Das Fräulein vom Bahnhof: Der Verein Freundinnen junger Mädchen in der Schweiz, Zürich: Hier und Jetzt (2021), S. 81.

  14. 14

    Beatrix Mesmer: Ausgeklammert – Eingeklammert: Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel: Helbing & Lichtenhahn (1988), S. 167.

  15. 15

    Elisabeth Joris: »Sittlichkeitsbewegung«, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016444/2013-01-24/.

  16. 16

    »Sprechsaal V«, in: Aufgeschaut! Gott vertraut! Organ für den Verein der Freundinnen junger Mädchen und für Werke christlicher Frauenthätigkeit 1887-1947 (Dossier), Band 1, Heft 6 (1892), Gosteli-Stiftung – Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, AGoF, 111:31.

  17. 17

    »Sprechsaal V«, in: Aufgeschaut! Gott vertraut! Organ für den Verein der Freundinnen junger Mädchen und für Werke christlicher Frauenthätigkeit 1887-1947 (Dossier), Band 1, Heft 6 (1892), Gosteli-Stiftung – Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, AGoF, 111:31.

  18. 18

    »Sprechsaal V«, in: Aufgeschaut! Gott vertraut! Organ für den Verein der Freundinnen junger Mädchen und für Werke christlicher Frauenthätigkeit 1887-1947 (Dossier), Band 1, Heft 8 (1892), Gosteli-Stiftung – Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, AGoF, 111:31.

  19. 19

    Vgl. Doris Brodbeck: Hunger nach Gerechtigkeit: Helene von Müllinen eine Wegbereiterin der Frauenemanzipation, Zürich: Chronos (2000).

  20. 20

    Vgl. Esther Hürlimann: Das Fräulein vom Bahnhof: Der Verein Freundinnen junger Mädchen in der Schweiz, Zürich: Hier und Jetzt (2021) und Sara Janner: Mögen sie Vereine bilden: Frauen und Frauenvereine in Basel im 19. Jahrhundert, Basel: Helbing & Lichtenhahn (1995).