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Archive des Aktivismus: Schweizer Trotzkist*innen im Kalten Krieg
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Nicolas Hermann

Kühlschrank-Unternehmer und antikapitalistischer Aktivist

Hans Stierlin, der Gründer und langjährige Geschäftsführer der grossen Kühlschrankfirma Sibir, war engagierter Trotzkist. In seinem Nachlass sind aber fast keine Spuren davon zu finden.

Während des Zweiten Weltkriegs arbeitet der junge Hans Stierlin als Forschungsingenieur in einer Fabrik und leistet regelmässig monatelang Aktivdienst. Als ob er damit nicht genug beschäftigt wäre, gelingt ihm zu dieser Zeit eine Innovation, die den Alltag vieler Schweizer Haushalte verändern wird und sein künftiges Leben bestimmen soll: Er perfektioniert die sogenannte Absorptionstechnik. Mit ihr entwickelt er einen geräuschlosen Kühlschrank, der noch dazu energieeffizienter und günstiger produzierbar ist als die handelsüblichen Geräte. Bereits 1944 gründet Stierlin die Sibir Kühlapparate GmbH (kurz: Sibir) und bringt einen kleinen, unspektakulären, dafür aber sehr günstigen »Volkskühlschrank« auf den Markt – einen »Kühlschrank für jedermann«.1

Der »eiskalte« Revolutionär

Der »Volkskühlschrank« wurde ab den 1950er Jahren zum Kassenschlager. Die Sibir produzierte ihr Produkt in Schlieren massenweise und wurde zur Schweizer Marktführerin. Damit trug sie einen grossen Teil dazu bei, dass der Kühlschrank auch in der Schweiz vom Luxusgut zum als lebensnotwendig erachteten Standard avancierte. Diese »eiskalte Revolution«2 wirkte sich massgeblich auf das Schweizer Konsumverhalten aus. Die Sibir spielte dabei eine so wichtige Rolle, dass die Marke zu dieser Zeit gar zum Synonym für »Kühlschrank« wurde.3 Was aber damals nur den wenigsten Kühlschrankbesitzer*innen bekannt war: Hans Stierlin, der seit der Gründung über vierzig Jahre lang Sibir-Chef und damit zentraler Akteur dieser »eiskalten Revolution« war, schwebte politisch eine ganz andere Revolution vor. Stierlin war nämlich seit seiner Jugend überzeugter Trotzkist. Besonders aktiv war er in den 1950er Jahren, als er zum Kern des Sozialistischen Arbeiterbundes (SAB) gehörte. Auch nachdem sich der SAB Ende der 1960er Jahre aufgelöst hatte, blieb Stierlin politisch interessiert und engagiert, wenn er auch keiner Organisation mehr angehörte.

Stierlin war also ein trotzkistischer Unternehmer. Er führte ein Unternehmen, das zu den schweizweit ersten gehörte, die auf Massenproduktion und Fliessbandarbeit nach fordistischem Vorbild setzten,4 und generierte so jährlich Millionen von Franken – gleichzeitig vertrat er aber antikapitalistische Positionen. Er musste als Unternehmer den Regeln des kapitalistischen Marktes folgen und reproduzierte diese damit – doch eigentlich befürwortete er die Planwirtschaft. Obwohl diese Doppelrolle in ihren Grundsätzen widersprüchlicher kaum sein könnte, gab es auch Synergien: Auch trotzkistische Organisationen brauchten Geld, und da war ein Kühlschrankunternehmen eine willkommene Quelle. Ausserdem kann auch ein Betrieb wie die Sibir als politisches Handlungsfeld betrachtet werden, in welchem der Unternehmer Stierlin einen Spielraum hatte, gemäss seiner Weltanschauung zu handeln. Er konnte Einfluss auf seine Angestellten nehmen, eine spezifische Betriebskultur fördern und ein bestimmtes Image nach aussen tragen.

Abb. 1: Obwohl Hans Stierlin im Alter von 28 Jahren zum Unternehmer wurde, blieb er dem Trotzkismus treu. Hier ist er als ungefähr Dreissigjähriger zu sehen.

Jeder Betrieb ist als mikropolitisches Handlungsfeld zu sehen und in der Sibir dürfte aufgrund der sehr eindeutigen und zur Unternehmerrolle kontrastierenden politischen Einstellung Stierlins die betriebliche Mikropolitik besonders aufschlussreich sein.5 Wollte Stierlin mit der Sibir die Arbeiterschaft agitieren? Wollte er aufzeigen, wie man es besser macht und so das kapitalistische Wirtschaftssystem von innen umkrempeln?

Der sechzehnjährige Hans Stierlin hätte diese Fragen sicher bejaht: Nach einem Praktikum in einer jurassischen Fabrik formulierte er 1932 in einem Schulaufsatz den Traum, dereinst »[…] eine riesengrosse, für das Wohl der Arbeiter sorgende Fabrik […]« gründen zu wollen.6 Sechs Jahre später trat er der trotzkistischen MAS (Marxistische Aktion Schweiz) bei und wiederum sechs Jahre später gründete er zusammen mit seinem Studienfreund Max Horlacher die Sibir. Natürlich sollte dieser jugendlichen Utopie nicht zu viel Gewicht beigemessen werden. Stierlin hat die Sibir nicht primär aus politischer Motivation gegründet, sondern war in erster Linie ein begabter Ingenieur, der von den technischen Möglichkeiten der Absorptionstechnik fasziniert war. Zudem identifizierte sich Stierlin je länger, desto stärker mit der Sibir. Im Stile eines Patrons setzte er ein Stück weit den wirtschaftlichen Erfolg seines Unternehmens mit seinem eigenen gleich.7 Doch er blieb auch sein ganzes Leben ein politischer Mensch. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass er seinen von kapitalistischen Sachzwängen begrenzten Gestaltungsspielraum, in welchem er sich als Unternehmer bewegte, auch dazu nutzte, seine politischen Ansichten in den Betrieb einzubringen. Die Sibir war also Lokomotive der »eiskalten Revolution« und politisches Handlungsfeld zugleich. Stierlin kann damit auch in der Rolle als Unternehmer als politischer Aktivist betrachtet werden. Wer aber mit der Absicht, den Unternehmer Stierlin auch als politischen Aktivisten zu verstehen, an dessen Nachlass herantritt, wird zuerst einmal enttäuscht. Der Nachlass, der seit 2016 im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ) zugänglich ist, umfasst zwar über fünf Laufmeter,8 beinhaltet aber zum grössten Teil Firmendokumente. Ein viel kleinerer Teil enthält Dokumente über Stierlins Privatleben und ein nochmals kleinerer Teil solche, die mit seiner politischen Aktivität in Verbindung stehen.

Abb. 2: Sibir positionierte sich als Firma, die jedem Haushalt einen Kühlschrank ermöglichen wollte. Damit trug sie zu einer einschneidenden Veränderung des Konsumverhaltens in der Schweiz bei.

Quantitativ bewertet könnte man so zum Schluss kommen, dass Stierlins Rolle als politischer Aktivist derjenigen des Unternehmers klar untergeordnet war. Gleichwohl finden sich einige wenige Dokumente, die auf sein politisches Engagement hinweisen. Kombiniert mit anderen Quellen, die darauf schliessen lassen, dass Stierlin ein trotzkistischer Aktivist war – Mitte der 1950er Jahre hatte er sogar mit dem eigenen Auto einen algerischen Aktivisten über die Schweizer Grenze geschmuggelt,9 – legt dies die Vermutung nahe, dass sich sein politisches Engagement und dessen Bedeutung für ihn selbst nicht mit der Anzahl an Nachweisen im Nachlass decken.

Die Aussage von Stierlins Sohn stützt diesen Eindruck. Peter Stierlin betont heute, dass die wöchentlichen SAB-Treffen am Dienstagnachmittag für seinen Vater »heilig« gewesen seien.10 Stierlins Nachlass ist also lückenhaft und zeichnet ein verzerrtes Bild. Nachlässe entstehen grundsätzlich selten nach systematischen Regeln. Sie setzen sich aus Dokumenten zusammen, die von der betreffenden Person aus bestimmten oder unbestimmten Gründen aufbewahrt worden sind und die von den Nachfahr*innen wiederum aus ebenso bestimmten oder unbestimmten Gründen an ein Archiv weitergegeben werden. In noch entscheidenderem Masse als für andere Archivalien gilt es, Nachlässe kritisch zu hinterfragen, deren bisweilen schleierhaften Entstehungsbedingungen in die Analyse miteinzubeziehen,11 sowie deren »stille Narrative«12 freizulegen. Die anhand seines Nachlasses vorgenommene Analyse der Sibir als politisches Handlungsfeld des Trotzkisten Stierlin erfordert also drei Schritte: Zunächst braucht es eine Auslegeordnung der einschlägigen Dokumente aus dem Nachlass. In einem zweiten Schritt muss nach den Lücken gefragt werden. Erst diese beiden Schritte erlauben es schliesslich, Stierlins politischen Aktivismus anhand des Nachlasses zu charakterisieren.

Abb. 3: Stierlins Nachlass im Archiv für Zeitgeschichte umfasst über fünf Laufmeter an Akten. Das sind 33 Schachteln voller Schrift-, Ton- und Bilddokumente.

Spuren des Aktivismus

Hans Stierlin wurde am 23. Dezember 1916 in Zürich geboren. 1936 machte er die Matura und gleich darauf die Rekrutenschule bei den Fliegertruppen. Im gleichen Jahr begann er mit dem Studium zum Maschineningenieur an der ETH Zürich, das er 1940 abschloss.13 Im Gegensatz zur Zeit als Sibir-Chef dokumentiert der Nachlass seinen politischen Aktivismus während der Jugendjahre vergleichsweise gut.

Mit zwanzig Jahren begann Stierlin, sich in sozialistischen Vereinigungen zu engagieren. Spätestens ab 1938 war er Mitglied der trotzkistischen MAS. Im Nachlass finden sich einige Dokumente, welche Aufschluss über Stierlins Mitgliedschaft geben, darunter etwa ein Maibändel der MAS für den 1. Mai-Umzug von 1938.14 Zudem finden sich Sitzungsprotokolle, die ihm zur Kenntnisnahme zugesandt wurden, sowie handschriftliche Notizen, die Stierlin auf die Rückseite eines MAS-Flyers für eine Sitzung der Sozialistischen Studentengruppe (SSG) geschrieben hatte. Darin stellte er seine Genoss*innen von der SSG vor die Wahl: »Entweder ihr anerkennt den Trotzkismus als Richtung innerhalb der Arbeiterbewegung und räumt seinen Vertretern dieselben Rechte ein wie Euch selbst, oder ihr tut das, was ihr im gegenteiligen Falle schon längst hättet tun sollen, ihr schliesst mich aus der SSG aus.«15

Abb. 4: Dieser rote Maibändel der MAS von 1938 ist eines der frühesten Dokumente, die auf Stierlins trotzkistisches Engagement hinweisen. Die Parole nimmt wohl Bezug darauf, dass an der 1. Mai-Demonstration von 1938 erstmals Schweizerfahnen getragen wurden.

Stierlin scheint sich also mit der MAS identifiziert und sich selbst als »Trotzkist« bezeichnet zu haben. So geriet er in die für Trotzkist*innen innerhalb der Linken typische Aussenseiter*innenposition. Stierlin hatte 1939 gar im Sinn, Leo Trotzki in Mexiko zu besuchen, doch er musste die begonnene Reise wegen des drohenden Kriegsausbruchs frühzeitig abbrechen.16 Die Dokumente im Nachlass, welche die MAS betreffen, zeigen, dass Stierlin in seiner Jugend überzeugter Trotzkist war. Innerhalb der MAS nahm er jedoch keine zentrale Funktion ein.

Zwischen dem Beginn der 1940er und den frühen 1950er Jahren findet sich in Stierlins Nachlass praktisch keine Spur von politischem Aktivismus. Dies ist auf den Krieg und auf das – auch mit Verfolgung und Verboten durch den Staat zusammenhängenden – Fehlen einer trotzkistischen Gruppierung zurückzuführen.17 Aber auch ab circa 1952, als Stierlin zum Kern des neu gegründeten SAB gehörte, ist sein Engagement nur spärlich dokumentiert: Stierlin setzte sich für die vom SAB mitgetragenen kantonalen Mindestlohninitiativen ein, welche einen Mindeststundenlohn von zwei Franken forderten. Zudem sind in seinem Nachlass einige Exemplare des Arbeiterwortes zu finden – der von Heinrich Buchbinder herausgegebenen und von Stierlin finanzierten Zeitung des SAB/SAK.18 Dies sind aber die einzigen Dokumente im Nachlass, die auf seine Aktivitäten beim SAB hinweisen.

Abgesehen davon finden sich im Zeitraum zwischen den frühen 1950er und den späten 1970er Jahren zahlreiche Dokumente, die zwar nur implizit auf trotzkistischen Aktivismus hindeuten, aber dennoch von Stierlins grossem politischem Interesse zeugen. Darunter ist ein Briefwechsel von 1958, der auf einen Aufsatz über die Automation verweist, den Stierlin unter dem Pseudonym Karl Hammer für eine Schriftenreihe des VPOD verfasste.19 Darin spricht er sich für die Automation aus – allerdings einzig unter der Bedingung, dass sie in einer sozialistischen Gesellschaft stattfindet.20 Auch dass Stierlin den oben bereits erwähnten Maibändel und andere Dokumente der MAS aufbewahrte, deutet darauf hin, dass er sich wohl auch später weiterhin mit dem Trotzkismus identifiziert hat.

Doch was auffällt: Genau die beiden Dokumente, die am eindeutigsten auf Stierlins Engagement im SAB eingehen, wurden erst in den 1990er Jahren dem Nachlass hinzugefügt, das heisst, nachdem er sich 1985 aus der Geschäftsleitung der Sibir zurückzogen hatte. Es ist zum einen eine Rede des langjährigen Gewerkschaftsfunktionärs und SP-Nationalrats Sepp Stappung, die an Stierlins Beerdigung 1998 gehalten wurde. In der Rede erwähnte Stappung, dass Stierlin dem SAB nahestand und ihn finanzierte.21 Zum anderen ist es seine geschwärzte Fiche, in die Stierlin – wie viele andere nach dem »Fichenskandal« – Einsicht verlangte.22 Diese enthält Einträge über Stierlins Beziehung zu Buchbinder und seine Tätigkeit als SAB-Finanzierer. Die Fiche bestätigt aber nicht nur, dass Stierlin in »[…] engem Kontakt mit Heinrich Buchbinder […]« gestanden und »[…] als Mitinhaber der SIBIR den SAB finanziert« hatte.23 Vielmehr ist die Fiche auch der Schlüssel zu den Lücken in Stierlins Nachlass.

Die Lücken im Nachlass

Stierlins Nachlass muss nämlich vor dem Hintergrund des in der Nachkriegsschweiz verbreiteten Antikommunismus betrachtet werden, welcher sich gegen das gesamte sozialistische Spektrum wandte.24 Druck von antikommunistischer Seite verspürte Stierlin aber nicht in erster Linie von Seiten des Staates – das Ausmass, das die Überwachung durch den Staat annahm, wurde erst mit dem Fichenskandal bekannt –, sondern von privater Seite.

Abb. 5: Noch während Stierlin in seinen Mittzwanzigern als Forschungsingenieur bei den Escher Wyss Maschinenfabriken arbeitete, entwickelte er den »Volkskühlschrank« und war Mitglied der MAS. Dieses Bild ist vermutlich 1943 entstanden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten sich einige private Organisationen, welche aktiv Stimmung gegen Kommunist*innen machten, insbesondere gegen Mitglieder der PdA. Eine der einflussreichsten antikommunistischen Organisationen war das 1948 gegründete Nationale Informationszentrum (NIZ). Das NIZ erlangte erheblichen politischen Einfluss, war bestens vernetzt und erreichte mit seinem Bulletin mehrere zehntausend Leser*innen. Es operierte vorwiegend mit Schmähkampagnen, mit denen es wirksam linke Organisationen und einzelne Akteur*innen diskreditierte.25

Hans Stierlin geriet 1954 ins Fadenkreuz des NIZ, weil Sibir-Inserate in einer linken Westschweizer Zeitschrift zu finden waren. Das NIZ drohte Stierlin damit, »[…] in unserer Zeitung ›Bulletin‹, die in grosser Auflage erscheint, darauf zu sprechen [zu] kommen […]«, sollte er sich nicht klar dazu bekennen, dass es sich um ein Versehen handle, und es »[…] nicht in [seiner] Absicht liegt, die Feinde unserer Heimat, die ihren Untergang geschworen haben, zu unterstützen«.26 Dem Drohbrief war ein Flugblatt beigelegt, in welchem die Auswirkungen einer potentiellen NIZ-Kampagne benannt wurden: »Jedermann weiss es: Ihr Geschäftskollege und Ihr Konkurrent, Ihre Kundschaft und alle, die nicht Ihre Kunden werden wollen, weil Ihre ›apolitische‹ Propaganda sie vor den Kopf schlägt; die Behörden wissen darum, und das Volk weiss es auch.«27 Die Folge der angedrohten Schmähkampagne ist eindeutig: ein schädlicher Imageverlust.

Solche Droh-Kampagnen waren typisch für das NIZ. Sie zielten darauf ab, Geldflüsse zu linken Organisationen zu kappen. Im Hinblick auf die rufschädigende Auswirkung, die diese Bekanntmachung im gesellschaftlich antikommunistischen Klima gehabt hätte, erstaunt es nicht, dass Stierlin eingeschüchtert reagierte. Er bat das NIZ um die konkrete Auflistung der Inserate, um dann bekannt zu geben, dass er nichts von diesem Auftrag gewusst, und es sich um ein Missverständnis mit dem welschen Ableger der Sibir gehandelt hätte. Dass dies tatsächlich stimmt, kann zumindest bezweifelt werden.

Abb. 6: Im Vergleich zu anderen Aktivist*innen war Stierlins Fiche mit gerade einmal sechzehn Einträgen sehr schlank. Auf der ersten seiner drei Karteikarten finden sich die drei einzigen Einträge zu Stierlins Tätigkeiten beim SAB.

Die Tatsache, dass Stierlin derart gefügig auf die Drohung des NIZ reagierte, ist der Schlüssel zum Verständnis der Prozesse rund um die Bildung seines Nachlasses. Als trotzkistischer Unternehmer war für ihn die Bedrohung durch Schmähkampagnen von solchen Organisationen wie dem NIZ omnipräsent.

Der Druck von antikommunistischer Seite wurde aber auch medial gestützt, beispielsweise von der NZZ (Neue Zürcher Zeitung). Diese legte in einem Artikel im August 1958 Stierlins Verbindung zum »politischen Sektenprediger« Heinrich Buchbinder offen: »Interessant ist, dass zum engeren Vertrautenkreis Buchbinders auch der Kommandär und Geschäftsführer einer bekannten schweizerischen Kühlschrankfabrik in Schlieren gehört.«28 Dieser für den übrigen Artikel irrelevante Einschub kann als Mahnfinger in Stierlins Richtung gedeutet werden.

Sowohl der NZZ-Artikel als auch der Briefwechsel mit dem NIZ finden sich im Nachlass Stierlins. Sie waren wohl nicht seine einzigen Begegnungen mit dem Antikommunismus. Dennoch gibt es keinen Hinweis darauf, dass Stierlin erheblichen Schaden genommen hätte – wohl deshalb, weil er nicht zu stolz war, beispielsweise dem NIZ entgegenzukommen, und er äusserst vorsichtig agiert zu haben scheint. Diese Vorsicht hatte sich laut seinem Sohn, Peter Stierlin, sogar auf die Namensgebung des Kühlschranks ausgewirkt: Hans Stierlins Frau Soja, die russische Wurzeln hatte, hatte ursprünglich »Sibirien« als Namen vorgeschlagen. Hans Stierlin aber befürchtete, dass mit diesem Namen Sozialismus assoziiert würde. Er hatte daher den Namen »Sibir« als Kompromiss vorgeschlagen.

Nicht nur bei der Namensgebung seiner Produkte liess Stierlin Vorsicht walten. Auch seine Fiche zeugt davon: Sie umfasst nur sechzehn Einträge, von welchen dreizehn von Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre stammen und hauptsächlich den Osthandel betreffen.29 Lediglich drei Einträge betreffen seine Verbindung zum SAB. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Trotzkist*innen stark unter Beobachtung des Staatsschutzes standen, ist dies sehr wenig.

Der verbreitete und für Hans Stierlin gefährliche Antikommunismus hatte einerseits seine Möglichkeiten eingeschränkt, sich politisch zu äussern, und andererseits den Nachlass massgeblich mitgeprägt. Zwar sind die Fiche, der NZZ-Artikel und der Briefwechsel mit dem NIZ Indizien dafür, dass Stierlin auch als Unternehmer ein trotzkistischer Aktivist war. Vor allem jedoch geben sie Aufschluss darüber, warum sein politischer Aktivismus im Nachlass so wenig präsent ist. Denn die durchaus angebrachte Vorsicht im Umgang mit allem Politischen hat sicherlich auch dazu geführt, dass Stierlin betreffende Dokumente beseitigt hat.

Aufgrund dieser Lückenhaftigkeit unterscheidet sich der Nachlass Stierlins von anderen Archiven des Aktivismus, die häufig durch eine fein säuberliche Dokumentation des Aktivismus gekennzeichnet sind.30 In solchen Nachlässen sind die Lücken in anderen Lebensbereichen zu suchen und es gilt das Gewicht des Aktivismus eher zu relativieren. Im Gegensatz dazu ist Stierlins Nachlass vom Mangel an Belegen des politischen Engagements geprägt. Dies lässt sich sowohl mit seiner zeitaufwändigen beruflichen Tätigkeit, als auch durch die lauernde Gefahr der antikommunistischen Imageschädigung erklären. Stierlins Nachlass muss durch eine Auslegeordnung der vorhandenen politischen Dokumente und durch eine kritische Auseinandersetzung mit den Lücken zu einem Archiv des Aktivismus gemacht werden. Dadurch können im Folgenden auch Firmendokumente der Sibir unter der Prämisse des unternehmerischen Aktivisten betrachtet werden.

Stierlins Nachlass muss zu einem Archiv des Aktivismus gemacht werden.

Kein normaler Betrieb: Die Arbeitsbedingungen bei der Sibir

In den 1950er Jahren, als Stierlin sich am aktivsten in einer trotzkistischen Organisation engagierte, wäre ein trotzkistischer Unternehmer in der Öffentlichkeit ein Feindbild gewesen. Stierlin solidarisierte sich denn auch als Unternehmer mit Aktivist*innen, die das Schicksal gesellschaftlich Ausgeschlossener ereilte: So stellte er einen wegen Terrorismus verurteilten Aktivisten ein und gab ihm damit die Chance, sich zu resozialisieren. Zudem beschäftigte Stierlin verschiedene Linke, die es sonst schwer gehabt hätten, eine vergleichbare Anstellung zu finden.31 Die Finanzierung des SAB und die Einstellung von linken, bisweilen gesellschaftlich geächteten Mitarbeitenden waren nicht die einzigen Faktoren, anhand welcher die Sibir mit Spuren von politischem Aktivismus in Verbindung zu bringen ist. Dokumente aus dem Nachlass zeigen, dass auch die Arbeitsbedingungen von Stierlins politischer Überzeugung beeinflusst waren.

Stierlin selbst bezeichnete die Arbeitsbedingungen bei der Sibir oft als aussergewöhnlich. »Seit Beginn unserer Firma, 1944, arbeiten wir 40 Stunden pro Woche«,32 schrieb er im Juli 1973 dem berühmten Zukunftsforscher Robert Jungk. Wer die Arbeitsverträge zwischen der Geschäftsleitung und der Belegschaft der Sibir anschaut, kommt jedoch zu einem anderen Schluss. Es ist zwar möglich, dass die 40-Stunden-Woche in der Sibir schon vorher inoffiziell gegolten hatte, arbeitsvertraglich verankert wurde sie aber erst 1971. Zuvor galt zwanzig Jahre lang die 43-Stunden-Woche. Mit Sicherheit kann dennoch festgehalten werden, dass die Arbeitszeiten bei der Sibir von Beginn an vergleichsweise tief waren. Dies zeigt ein Vergleich der Wochenarbeitszeit der Sibir mit derjenigen aus den jeweiligen Gesamtarbeitsverträgen. Die arbeitsvertraglich festgelegten Arbeitszeiten der Sibir sind durchgehend kürzer – zwischen 1948 und 1983 stets mindestens um eine Stunde, durchschnittlich aber sogar um über zweieinhalb Stunden.33

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Löhnen. In einem früheren Schreiben an Robert Jungk, der 1962 im Rahmen der Serie Europa – Richtung 2000 einen Fernsehbeitrag über die Sibir machte, hielt Stierlin fest: »In unserem Betrieb haben seit 1947 alle Arbeiter den gleichen Lohn: Facharbeiter – Angelernte – Hilfskräfte – Jedermann.«34 Dieser Einheitslohn muss jedoch relativiert werden, da es sich nur um den Lohn für männliche Arbeiter handelte. Frauen hatten zwar ebenfalls einen Einheitslohn, aber einen bedeutend tieferen – zunächst 66 Prozent des Männerlohnes, und ab 1963 dann 85 Prozent. Stierlin rechtfertigte diese Ungleichheit 1973 damit, dass Frauen einen höheren Krankheitsausfall hätten, und dass komplette Lohngleichheit auf »[…] harten Widerstand der männlichen Belegschaft […]« stossen würde.35 Kaderpersonen oder Ingenieure waren ebenfalls nicht in den Einheitslohn eingebunden. Sie bekamen höhere Löhne als die Arbeiter*innen, was Stierlin damit begründete, dass er sonst zu hohe Einheitslöhne bezahlen müsste oder keine fähigen Ingenieure bekommen würde. Doch Arbeiter*innen und Hilfsarbeiter*innen – egal wie gut ausgebildet – erhielten alle den gleichen Lohn. Und dieser war im Vergleich zur Konkurrenz deutlich höher.36

Diese im direkten Vergleich deutlich besseren Arbeitsbedingungen lassen sich gut in Zusammenhang mit radikalen linken Forderungen stellen. So entsprechen die Konzepte des Einheitslohnes und der 40-Stunden-Woche, zu welcher die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) ab 1971 eine Volksinitiative lancierten, zentralen Forderungen der Arbeiter*innenbewegung und auch der Trotzkist*innen dieser Zeit.37 Diese Anliegen versuchte Stierlin betriebsintern umzusetzen.

Abb. 7: Nicht nur eine gigantische Produktionsstätte, sondern auch politisches Handlungsfeld: Luftaufnahme des Sibir-Areals in Schlieren aus den 1970er Jahren.

So evident die politische Einstellung hinter den Arbeitsbedingungen scheint, so klar ist, dass auch wirtschaftliche Gründe wichtig waren. Stierlin erklärte mehrfach, dass der Einheitslohn nicht nur »heilsarmeemässig« begründet sei,38 sondern auch wirtschaftliche Vorteile bringe: »Der Einheitslohn ermöglicht uns nämlich gewaltige Einsparungen auf anderen Sektoren. Wir brauchen keine Akkordanten, keine Stück-Kontrollen, keine Aufsicht. Unsere Lohnbuchhaltung wird von einer einzigen Angestellten in zwei Tagen pro Monat erledigt.«39 Die guten Arbeitsbedingungen bei der Sibir dürfen also sicherlich nicht einzig als Resultat von Stierlins politischer Einstellung betrachtet werden. Genauso wenig darf aber der politische Aspekt nur als Nebenprodukt der Wirtschaftlichkeit bemessen werden. Dass Stierlin seinen Betrieb bewusst als politisches Handlungsfeld nutzte, zeigt sich augenscheinlich in einem Reglement zur Betriebsdemokratisierung, das Stierlin 1974 eingeführt hatte.

Stierlin schloss damit an die Diskussion über die Demokratisierung der Betriebe in den 1970er Jahren an. Eine Betriebsdemokratisierung befand er aufgrund des »Verhalten[s] insbesondere multinationaler Konzerne« für zwingend.40 Aus diesem Grund führte er 1974 ein nach demokratischen Prinzipien organisiertes »Reglement über die demokratische Bestimmung von Investitionen im Allgemeininteresse der Betriebsangehörigen und des Betriebs«, durch welches es den Arbeiter*innen möglich wurde, »[…] über die Investition eines Teiles des jeweiligen Jahresgewinnes, sowie eventueller weiterer Geldmittel nicht nur mitbestimmen [sic], sondern tatsächlich bestimmen [sic] […]« zu können. Die Belegschaft konnte also jährlich darüber abstimmen, wie ein von der Geschäftsleitung bestimmter Anteil des Gewinnes investiert werden sollte. Die einzige Bedingung war, dass die Investition der »Verbesserung und Verschönerung des Arbeitsklimas« diente. Als mögliche Beispiele benennt das Reglement etwa »neue, freundliche Farbanstriche« oder die »Schaffung einer Boccia-Bahn«.41

Gerade dieses Beispiel zeigt aber, wie schwierig es für Stierlin war, die weitreichenden linken Forderungen, die er eigentlich mittrug, tatsächlich umzusetzen. Denn das Reglement war weit davon entfernt, die Belegschaft in Entscheide miteinzubeziehen, welche die Unternehmensführung betrafen. Das Reglement war zudem nicht bindend. Als die Belegschaft einmal beschloss, den jährlichen Betrag in eine Autowerkstatt zu investieren, legte Stierlin sein Veto ein, mit der Begründung, dass davon die Arbeiter*innen ohne Auto keinen Mehrwert hätten.42

Stierlin wollte zeigen, dass bessere Arbeitsbedingungen funktionieren können.

Für die Bewertung dieses nicht wirklich weit reichenden Reglements ist denn auch in erster Linie interessant, dass Stierlin es mit einer politischen Strategie legitimierte. Ihm war durchaus bewusst, dass er damit keineswegs etwas Revolutionäres schuf. Vielmehr betrachtete er das Reglement als »[…] versuchsweisen Vorläufer einer mit der Zeit schrittweise einzuführenden Demokratisierung«. Dabei betonte er, dass es entscheidend sei, dass »[…] die Lebensfähigkeit des Unternehmens im Rahmen der jeweiligen äusseren Umstände stets in Betracht gezogen wird, denn nichts ist schlechter, als schöne Experimente zu machen, die schliesslich zum Untergang führen und damit als Beweis dafür dienen, dass solche Wege erfolgreich nicht bestreitbar sind«.43 Stierlins Aussagen zum Reglement machen somit deutlich, dass er den Sibir-Betrieb als politisches Experimentier- und Handlungsfeld erachtete.

Auch in den oben aufgeführten Arbeitsbedingungen zeigen sich ähnlich deutliche Limitationen. Das Ideal der absoluten Gleichheit etwa konnte Stierlin nicht umsetzen, weil er sich zu stark gewissen Sachzwängen unterworfen sah: Da waren beispielsweise die Arbeitsmarktsituation, die es nicht erlaubte, den Einheitslohn so hoch zu gestalten, dass dieser auch für Ingenieure reizvoll gewesen wäre oder die Lohndiskriminierung von Frauen, die auf dem Arbeitsmarkt üblich war, in der männlichen Arbeiterschaft gutgeheissen wurde und welche Stierlin nicht gänzlich wettmachen konnte. Oder aber er wollte die geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung nicht wettmachen: Sein andernorts eingelegtes Veto spricht nämlich dafür, dass er theoretisch die mehrheitlich männliche Belegschaft auch bei den Frauenlöhnen hätte überstimmen können. Dies tat er aber nicht. Die Tatsache der Lohnungleichheit muss daher – obwohl die Frauen in der Sibir im Vergleich zur Konkurrenz anteilmässig immer noch sehr gut verdienten – als relativierendes Indiz dafür gewertet werden, dass er seinen durch die kapitalistische Marktrealität begrenzten Gestaltungsspielraum nicht ausschliesslich zugunsten seiner politischen Überzeugung nutzte. Vielmehr muss Stierlin auch als Pragmatiker und Patron gesehen werden. Dennoch zeigen die Beispiele des Reglements und der Arbeitsbedingungen, dass er durchaus eine politische Strategie verfolgte: Er wollte ein Exempel statuieren, dass solche arbeiter*innenfreundliche Bedingungen funktionieren können. Hinsichtlich der Geschichte der Sibir darf dies nicht vernachlässigt werden.

Abb. 8: Stierlin nannte sich selbst scherzhaft oft »Diktator« und deutete damit mit Selbstironie darauf hin, dass er auch Züge eines Patrons hatte. Hier ist er auf einer Fabrikbesichtigung in den 1960er Jahren zu sehen.

Die Sibir als politisches Handlungsfeld

Die vergleichsweise sehr guten Arbeitsbedingungen der Sibir-Arbeiter*innen lassen sich nicht direkt in Verbindung mit der trotzkistischen Theorie bringen. Dennoch war es für Trotzkist*innen zu dieser Zeit typisch, dass sie einzelne Forderungen der Arbeiter*innenbewegung mittrugen. Es ist zudem anzunehmen, dass Stierlin kein Dogmatiker war und als Unternehmer auch gar nicht sein konnte.44 Doch waren die Arbeitsbedingungen bei der Sibir teilweise so markant anders, dass dahinter eine politische Strategie vermutet werden kann. Die Arbeitsbedingungen waren nämlich nicht nur im Vergleich mit der Konkurrenz arbeiter*innenfreundlicher, sondern gingen teilweise sogar über die Forderungen der schweizerischen Arbeiter*innenbewegung hinaus. Als etwa der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) 1954 eine Initiative zur Begrenzung der Arbeitszeit auf 44 Stunden lancierte, galt bei der Sibir bereits seit drei Jahren die 43-Stunden-Woche. Und als 1973 die Initiative zur 40-Stunden-Woche eingereicht wurde, war diese bereits seit zwei Jahren in den Arbeitsverträgen der Sibir verankert. Das Wissen um Stierlins Engagement in trotzkistischen Organisationen lässt den Schluss zu, dass diese Aussergewöhnlichkeit auch als politischer Akt zu verstehen ist.

Die Sibir sollte exemplarisch aufzeigen, dass solche von der Linken geforderten Arbeitsbedingungen tatsächlich funktionieren. Damit könnte man auch erklären, warum Stierlin seine Arbeitsbedingungen bei der Sibir oft ökonomisch-rational begründete – die Argumentation sollte die Öffentlichkeit überzeugen. Parallel zur öffentlich wirksamen Argumentation – und das lässt sich durch den Nachlass nur schwer belegen – war es für Stierlin so möglich, indirekt auf breite Teile der Arbeiter*innenbewegung Einfluss zu nehmen: Arbeiter*innen, die nicht in seinem Betrieb angestellt waren, blieb es sicherlich nicht unbekannt, dass die Arbeitsbedingungen bei der Sibir gut waren, und dass die Sibir trotzdem florierte. Seine eigenen Arbeiter*innen dürften ihren Kolleg*innen aus anderen Betrieben von den guten Arbeitsbedingungen bei der Sibir berichtet haben. Vielleicht erwirkten sie damit, dass einzelne Arbeiter*innen Forderungen vehementer stellten und sich politisch engagierten. Zudem hat Stierlin selbst aktiv dazu beigetragen, die guten Arbeitsbedingungen bei der Sibir bekanntzumachen: In Stelleninseraten wurde die Lohnhöhe teilweise erwähnt, was die Konkurrenz nicht guthiess.45

Stierlin konnte dadurch Druck sowohl auf andere Unternehmen, als auch auf politische Institutionen, wie beispielsweise Gewerkschaften, ausüben. Die Sibir funktionierte, indem die Arbeitsbedingungen in bestimmten Punkten deutlich progressiver waren als die Forderungen der Gewerkschaften, indirekt als Vektor, der die Arbeiter*innenbewegung in der Summe in eine linkere Richtung zog. Dies bildet den Hintergrund für Stierlins Weigerung, dem Gesamtarbeitsvertrag beizutreten. »Ich brauche keine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, ich bin selbst ein Linker«,46 soll er 1978 einem Unia-Funktionär gesagt haben. Er wollte verhindern, dass sich die Gewerkschaften mit den besseren Anstellungsbedingungen bei der Sibir brüsten konnten.47 Dies dürfte für Diskussionen im Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) gesorgt haben. Indem Stierlin den SMUV also sozusagen rechter Hand liegen liess, zog er ihn ein wenig nach links.

Die Sibir war so nicht nur ein politisches Handlungsfeld für Stierlin, sondern sie mutierte selbst zum Akteur in der politisch-organisatorischen Sphäre. Im Kontext seines Wirkungskreises war Stierlin politischer Aktivist. Wie effektiv seine spezielle Form von Aktivismus war, ist schwer zu belegen, doch es ist sicher angemessen, der Sibir und Hans Stierlin in der Geschichte des Schweizer Trotzkismus wie auch der Schweizer Linken insgesamt einen Platz einzuräumen – und zwar nicht allein wegen der Parteifinanzierung.

Der »andere« Aktivist

Stierlin brachte im Rahmen seines von Sachzwängen limitierten Gestaltungsspielraums seine politische Einstellung in die Sibir ein. Zudem scheint er damit Ziele verfolgt zu haben, die über das Wohl seiner eigenen Arbeiterschaft hinausgingen. Sein Aktivismus unterschied sich aber zwangsläufig stark von demjenigen seiner trotzkistischen Genoss*innen: Während diese massenweise Theorietexte und Positionspapiere verfassten, in Fabriken Arbeiter*innen agitierten sowie Gewerkschaften und Parteien zu »unterwandern« versuchten, waren ihm diesbezüglich aus Kapazitätsgründen und wegen des gesellschaftlich verbreiteten Antikommunismus die Hände gebunden. Anstelle des agitatorischen Aktivismus wollte er deshalb als Unternehmer eine Vorbildfunktion einnehmen und von der »anderen« Seite aus Einfluss auf die Arbeiter*innen und Gewerkschaften nehmen – wenn auch weniger direkt und in weniger radikaler Form. Diese Art von Aktivismus spiegelt sich auch in Stierlins Nachlass: Während die Nachlässe anderer Trotzkist*innen viele politische Dokumente enthalten, schlägt sich sein Aktivismus weniger in schriftlichen Dokumenten nieder. Der Nachlass muss so zuerst zu einem Archiv des Aktivismus gemacht werden.

Abb. 9: Die Geschichte der Sibir ist nicht nur für die Geschichte des Trotzkismus interessant. So war die Sibir eine der ersten Schweizer Firmen, die auf Massenproduktion und Fliessbandarbeit setzten.

Indem für die Analyse ausschliesslich einschlägige Dokumente aus dem Nachlass herangezogen wurden und indem durch die kritische Auseinandersetzung mit den Lücken plausibel argumentiert werden konnte, dass Stierlin wirklich Aktivist gewesen ist, konnten Dokumente, welche nicht signifikant durch Aktivismus gekennzeichnet sind, unter dieser Prämisse ebenfalls in die Analyse miteinbezogen werden. Die Frage nach Stierlins Aktivismus ist bloss eine von vielen, mit der man an seinen Nachlass herantreten kann. Genauso gut möglich wäre es, den Nachlass etwa als »Archiv eines Patrons« oder als »Archiv eines begabten Ingenieurs« zu konsultieren. Für das Schreiben der Unternehmensgeschichte der Sibir müsste dies denn auch zwingend getan werden.

Trotzdem ist Stierlins Aktivismus auch aus unternehmenshistorischer Perspektive ein zentrales Element. Ohne das Wissen um die politische Dimension könnte die Sibir nämlich als Prototyp eines Schweizer Unternehmens zwischen den 1940er und 1980er Jahren betrachtet werden, dessen Erfolg und Misserfolg mit der Konjunktur der Weltwirtschaft zusammenhängt: Der Aufstieg des Betriebs in den 1950er Jahren, der durch die zunehmende Partizipation grosser Gesellschaftsteile am Konsum begünstigt wurde, der Grosserfolg während des Wirtschaftsbooms in den 1960er und frühen 1970er Jahren und der Beginn des Niedergangs Mitte der 1970er Jahre, ab dem Einsetzen der Ölpreiskrise. Doch mit der Nichtbeachtung der politischen Ausrichtung Stierlins ginge ein wichtiger Teil der Firmengeschichte der Sibir verloren. Das Unternehmen war nämlich ein wichtiger Akteur für bestimmte Teile der Linken und der Arbeiter*innenbewegung. Die Sibir war – wie jeder Betrieb – nicht nur ein Weltmarktakteur, sondern auch politisches und soziales Handlungsfeld, in welchem die politische Weltanschauung des Geschäftsführers Hans Stierlin durchaus eine Rolle spielte.

Nicolas Hermann studiert Geschichte und Religionswissenschaft im Master an der Universität Zürich.

Indem Stierlin den SMUV sozusagen rechterhand liegen liess, zog er ihn ein wenig nach links.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Unbekannt, Porträt Hans Stierlin, ca. 1950, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ), Nachlass Hans Stierlin (NL Stierlin), 213.

Abb. 2: Dia mit Sibir-Werbung, ca. 1950, AfZ, NL Stierlin, 266.

Abb. 3: Lucas Federer, Der Nachlass im Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, 2018.

Abb. 4: Lucas Federer, Maibändel der Trotzkisten um Walter Nelz, 1938, AfZ, NL Stierlin, 190.

Abb. 5: Unbekannt, Hans Stierlin als junger Ingenieur, ca. 19401943, AfZ, NL Stierlin, 213.

Abb. 6: Erste Seite der Fiche von Hans Stierlin, AfZ, NL Stierlin 9 (Ausschnitt).

Abb. 7: Unbekannt, Luftaufnahme Sibir-Areal in Schlieren, ca. 1970er Jahre, AfZ, NL Stierlin, 235.

Abb. 8: Unbekannt, Stierlin auf Besichtigung der Sibir-Fabrik, ca. 1960er Jahre, AfZ, NL Stierlin, 213.

Abb. 9: Unbekannt, Innenansicht Fabrikhalle, ca. 1950er Jahre, AfZ, NL Stierlin, 238.

Literatur
  1. 1

    »Kühlschrank für Jedermann«, Werbung Sibir, ca. 1950, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ), Nachlass Hans Stierlin (NL Stierlin), 266.

  2. 2

    Beatrice Schumacher: »Coolness @home«, in: Thomas Buomberger, Peter Pfrunder (Hg.): Schöner leben, mehr haben: Die 50er Jahre, Zürich: Limmat-Verlag (2012), S. 69–104, hier S. 70–72.

  3. 3

    Vgl. Res Strehle, Gertrud Vogler: »Die Aufhebung der Widersprüche zwischen Marx und Ford in der Person des Genossen Stierlin«, in: Monique Laederach, Lisa Schäublin, Niklaus Meienberg (Hg.): Fabrikbesichtigungen, Zürich: Limmat-Verlag (1986), S. 131–148, hier S. 137.

  4. 4

    Vgl. ebd., S. 139–141.

  5. 5

    Vgl. Thomas Welskopp: Unternehmen Praxisgeschichte: Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck (2014), S. 266–272.

  6. 6

    Vgl. Helmut Stalder: »Hans Stierlin: Fidel Castro der Kühlschränke«, in: ders. (Hg.): Verkannte Visionäre. 24 Schweizer Lebensgeschichten, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung (2011), S. 127–134, hier S. 129.

  7. 7

    Vgl. ebd., S. 131–133.

  8. 8

    AfZ, NL Stierlin.

  9. 9

    Vgl. Walter Kern, Begegnung mit dem Teufel, Zürich: unveröffentlicht (2008), S. 86.

  10. 10

    Gespräch mit Peter Stierlin vom 25.06.2018.

  11. 11

    Vgl. Willhelm Füssl: »Übrig bleibt was übrig bleiben soll: Zur Konstruktion von Biografien durch Nachlässe«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014), S. 240–262, hier S. 241f.

  12. 12

    Vgl. Eric Ketelaar: »Tacit Narratives: The Meaning of Archives«, in: Archival Sciences 1 (2001), S. 131–141.

  13. 13

    Vgl. Peter Müller-Grieshaber: »Hans Stierlin«, in: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D31682.php (2013).

  14. 14

    »Nur die rote Fahne«, Maibändel, 1938, AfZ, NL Stierlin, 190.

  15. 15

    »Eine Mitteilung an die Genossen«, Notizen auf der Rückseite eines MAS-Flyers, undatiert, AfZ, NL Stierlin, 20.

  16. 16

    Hans Stierlin, Brief an die Eltern, 1939, AfZ, NL Stierlin, 7.

  17. 17

    Vgl. Robert J. Alexander: »Trotskyism in Switzerland«, in: ders. (Hg.): International Trotskyism, 1929–1985: a Documented Analysis of the Movement, Durham/London: Duke University Press (1991), S. 726–732, hier S. 728f.

  18. 18

    Vgl. Politische Flugblätter, undatiert, AfZ, NL Stierlin, 210.

  19. 19

    Vgl. Korrespondenz mit Walter Gyssling, 1958, AfZ, NL Stierlin, 88.

  20. 20

    Vgl. Karl Hammer (Hans Stierlin): »Automation, die jüngste Stufe der technischen Entwicklung«, in: Schriften des VPOD, Automation und Gewerkschaften, Zürich (1958), S. 7–44.

  21. 21

    Vgl. »Abschied von Dr. h. c. Hans Stierlin«, Rede von Sepp Stappung anlässlich der Beisetzung von Hans Stierlin, 1998, AfZ, NL Stierlin, 10.

  22. 22

    Vgl. Lucas Federer: »Aktiv fichiert«, in diesem Band.

  23. 23

    Fiche von Hans Stierlin, AfZ, NL Stierlin, 9.

  24. 24

    Vgl. Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: Beck (2015), S. 310.

  25. 25

    Vgl. Jürg Frischknecht, Peter Haffner, Ueli Haldimann u.a.: Die unheimlichen Patrioten: Politische Reaktion in der Schweiz: Ein politisches Handbuch, Zürich: Limmat-Verlag (1979), S. 113–134.

  26. 26

    Brief des NIZ an Hans Stierlin, 29.04.1954, AfZ, NL Stierlin, 88.

  27. 27

    »Die Spatzen brauchen es nicht mehr länger von den Dächern zu pfeifen«, Begleitbrief des NIZ, 1954, AfZ, NL Stierlin, 88.

  28. 28

    »Bezeichnende Zusammenarbeit«, in: Neue Zürcher Zeitung, 05.08.1958, AfZ, NL Stierlin, 88.

  29. 29

    Fiche von Hans Stierlin, AfZ, NL Stierlin, 9.

  30. 30

    Vgl. Christian Gross: »Trotz alledem! Motivationen eines Aktivisten«, in diesem Band.

  31. 31

    Vgl. Res Strehle, Gertrud Vogler: »Die Aufhebung der Widersprüche zwischen Marx und Ford in der Person des Genossen Stierlin«, in: Monique Laederach, Lisa Schäublin, Niklaus Meienberg (Hg.): Fabrikbesichtigungen, Zürich: Limmat-Verlag (1986), S. 131–148, hier S. 142f.

  32. 32

    Hans Stierlin, Brief an Robert Jungk, 05.07.1973, AfZ, NL Stierlin, 88.

  33. 33

    Arbeitsverträge der Sibir, 1948–1983, AfZ, NL Stierlin/137; Gesamtarbeitsverträge Maschinen-, Metall- und Uhren-Industrie, 1944–1982, Schweizerisches Sozialarchiv (SozArch), KS 331/35 und QS 71.2*06.

  34. 34

    Hans Stierlin, Brief an Robert Jungk, 03.10.1962, AfZ, NL Stierlin, 88.

  35. 35

    Hans Stierlin, Brief an Robert Jungk, 05.07.1973, AfZ, NL Stierlin, 88.

  36. 36

    Vgl. Eidgenössisches Statistisches Amt/Bundesamt für Statistik: Statistische Jahrbücher, Basel: Birkhäuser Verlag, 1951 (S. 358), 1972 (S. 383), 1974 (S. 381) und 1982 (S. 381) sowie Arbeitsverträge der Sibir, 1948–1983, AfZ, NL Stierlin, 137 und Vortrag von Hans Stierlin, 1950, AfZ, NL Stierlin, 99.

  37. 37

    Revolutionäre Marxistische Liga: Stop der Arbeitslosigkeit!: 40-Std.-Woche sofort und ohne Lohneinbusse!, Zürich: Veritas-Verlag (1976).

  38. 38

    Referat von Hans Stierlin, 1950, AfZ, NL Stierlin, 99.

  39. 39

    Herman Stierlin, Brief an Robert Jungk, 03.10.1962, AfZ, NL Stierlin, 88.

  40. 40

    »Reglement über demokratische Bestimmung von Investitionen«, Einführungsreglement, 1974, AfZ, NL Stierlin, 41.

  41. 41

    Ebd.

  42. 42

    Vgl. Helmut Stalder: »Hans Stierlin: Fidel Castro der Kühlschränke«, in: ders. (Hg.): Verkannte Visionäre. 24 Schweizer Lebensgeschichten, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung (2011), S. 127–134, hier S. 131.

  43. 43

    »Reglement über demokratische Bestimmung von Investitionen«, Einführungsreglement, 1974, AfZ, NL Stierlin, 41.

  44. 44

    Vgl. Res Strehle, Gertrud Vogler: »Die Aufhebung der Widersprüche zwischen Marx und Ford in der Person des Genossen Stierlin«, in: Monique Laederach, Lisa Schäublin, Niklaus Meienberg (Hg.): Fabrikbesichtigungen, Zürich: Limmat-Verlag (1986), S. 131–148, hier S. 141f.

  45. 45

    Vgl. Protokolle der Sitzungen zwischen Geschäftsleitung und Arbeiterkommission, 1963–1968, AfZ, NL Stierlin, 150.

  46. 46

    Vgl. Helmut Stalder: »Hans Stierlin: Fidel Castro der Kühlschränke«, in: ders. (Hg.): Verkannte Visionäre. 24 Schweizer Lebensgeschichten, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung (2011), S. 127–134, hier S. 132.

  47. 47

    Sepp Stappung, Beerdigungsrede für Hans Stierlin, AfZ, NL Stierlin, 10.