Seit den fünfziger Jahren ist der Flughafen Kloten eng mit der Schweizerischen Rettungsflugwacht (Rega) verbunden. Doch der Blick der Rega richtet sich seit jeher auf die Alpen.
Ein Mann liegt auf der grasbewachsenen Fläche des Flughafens Zürich-Kloten, vollständig bekleidet, einen Rettungsring an sich drückend. Kein Wasser weit und breit, nicht einmal Regen. Es handelt sich nicht um drowning on dry land – der Rettungsring symbolisiert das, was der Mann simulieren soll: einen Ertrinkenden. Hier wird der Ernstfall geprobt. Die frisch gegründete Schweizerische Rettungsflugwacht führte im Dezember 1952 Schaulustigen vor, was sie auch im Notfall einzuhalten versprach: Lawinenhunde zu ihrem potentiellen Einsatzort bringen oder die Rettung eines in Not geratenen Menschen per Helikopter-Lift aus dem Wasser. Zwar handelte es sich in diesem Fall lediglich um eine simulierte Situation, doch sie stand drohend für all die vielen Unfälle, die »gleich nebenan oder weit weg«1 lauerten.
Zwei Monate zuvor landete Hermann Geiger, einer der Gründer und Piloten der Rettungsflugwacht, erstmals mit einem auf Metallskis aufsetzenden Flächenflugzeug auf dem Blüemlisalpgletscher. Die Aktion machte ihn legendär – und mit ihm die Schirmorganisation, die über Geigers waghalsiges Manöver wachte: die Rega.2 Hermann Geiger und die Rega waren so eng miteinander verbunden, dass die Bewunderung des einen auf die Verehrung des anderen abfärbte. Für viele ist sie heute »[d]as modernste Luftrettungssystem der Welt, im Inland geliebt und bewundert, im Ausland als Organisation und Partnerin respektiert. Kein Schweizer Unternehmen ist angesehener, keine Institution geniesst grösseres Vertrauen als die Rega«, heisst es in einer Firmengeschichte.3 Schon früh jedenfalls gravitierten die Aktivitäten der Rettungsorganisation rund um den Flughafen Zürich-Kloten.4 Ihr Image leitete die Rega jedoch fast ausschliesslich aus den Bergen her. Zwar umfasst ihr Aufgabenbereich spätestens seit 1975 auch Verkehrsunfälle, aber als Institution ist sie so dicht mit dem Unfall und dem Risiko am Berg verwoben, dass sie aus den Alpen eigentlich nicht mehr wegzudenken ist. Die Rega nistete sich sozusagen ins Alpenpanorama ein. Dies wird besonders in ihren Mitteilungsblättern und späterem »Gönnermagazin« deutlich, in denen sie sich als selbstbewusste Rettungsorganisation präsentierte, die ebenso notwendig wie selbstverständlich zur Schweiz gehört. Gleichzeitig verdeutlichen diese Darstellungen auch, dass die Rega sich stets in einem fragilen Spannungsfeld von Sicherheitserwartungen und Unfallprävention bewegte. Wie also vermarktete sich die Schweizerische Rettungsflugwacht in den Bergen und welche Implikationen hatte das für die Vorstellungen vom Unfall am Berg?
Zwischen Heimatverein und Pionierarbeit
Für Hermann Geiger, den »legendären Gletscherpiloten«5 der Schweiz, waren die Alpen vor allem eines: Heimat. Im Jahr 1914 in Savièse, einer am Wildhornmassiv gelegenen Bürgergemeinde im Kanton Wallis, geboren, wurde er von Fredy Wissel, dem »fliegenden Hotelier«6 aus St. Moritz, angelernt. Über den Arzt Rudolf Bucher, einer der Pioniere des Blutspendedienstes in der Schweiz, kam er schliesslich zur Rega. Acht Jahre nach der Gründung der Rettungsorganisation tauchte Geiger im Film »Der Adler von Sion« aus dem Jahr 1960 bereits als »Herr über Schnee, Eis und Stürme« auf, der »gleich dem Adler das Hochgebirge« beherrschte. Geiger erschien hier als Ausnahmefigur: in den Bergen zuhause, Pionier der Bergbezwingung und karitativer Engel. Der Film verwendete dazu charakteristische Sujets der Bergidylle und lud die Zuschauer*innen zum »Mitfliegen ins Reich der 4000er« ein.7
»Der Adler von Sion« sorgte auch dafür, dass die Rettungsflugwacht in der Schweizer Bevölkerung bekannt wurde – und die Alpen bildeten dafür eine hervorragende Identifikationsfläche.8 Nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen war die Rega auf ein hohes Mass an Identifikation angewiesen: Als nicht-staatliche Organisation musste sie sich mit Fragen der Wirtschaftlichkeit und finanziellen Tragbarkeit auseinandersetzen. Nachdem ein Antrag auf finanzielle Unterstützung vom Bund mit Verweis auf das kantonale Hoheitsrecht abgelehnt worden war, führte die Rega 1966 das Gönner-Prinzip ein. Fortan konnte eine Mitgliedschaft beantragt werden, durch deren Beitrag die Einsätze der Rega finanziert wurden. (Die Rega ist weiterhin auf die breite Basisunterstützung ihrer Gönnerschaft angewiesen. 3.2 Millionen Menschen sind Mitglied, das entspricht fast vierzig Prozent der schweizerischen Bevölkerung.) Dass sich ihre Gönner*innen mit den Zielen der Rettungsflugwacht identifizierten und sie als einen nicht wegzudenkenden Teil der »Heimat« begriffen, war also von Beginn an essentiell.
Auf einem Foto aus den fünfziger Jahre kann man Hermann Geiger zum Beispiel dabei beobachten, wie er einen Steinbock in die Freiheit der Alpen entliess (Abbildung 2). Geiger zeigte sich hier besonders fest in den Alpenboden verwurzelt. (Der Korb, aus dem der Steinbock entsprang, war sogar mit dem Schweizer Kreuz versehen und von der Swissair gesponsert.) Auch der Alpensteinbock lässt Schweizer Identität mitschwingen. Schon der Naturforscher Conrad Gessner begeisterte sich im 16. Jahrhundert ob der Grazilität dieser trittsicheren Tiere; das Erlegen eines Steinbocks galt als Zeichen ausserordentlicher Jagdqualitäten und das Verspeisen des Fleisches war ein symbolischer Akt, sich die Eigenschaften des Tieres einzuverleiben.9 Geiger ging noch eine Stufe weiter, indem er das Tier wieder in sein natürliches Habitat entliess und sich so zum Alpenschützer generierte. Auch heute noch rücken die Rega-Mitarbeiter*innen aus, um verendetes Vieh von den Almwiesen zu bergen oder Tierärzt*innen zu verletzten Tieren zu bringen.
Das Bild des heimatlichen Naturraums wurde in der Aussendarstellung der Rega immer wieder mit dem des beschwerlichen, gefährlichen und undurchdringlichen Hochgebirges kontrastiert. Dieses konnten nur Pioniere wirklich meistern – ein Narrativ, das sich an die »grossen Erzählungen«10 des Alpinismus seit dem 18. Jahrhundert anlehnte, in denen das Bergbezwingungsnarrativ traditionell eine zentrale Rolle einnahm. De Saussure, Carrel & Co begründeten ihre waghalsigen Ausflüge auf die Zinnen der Massive noch mit dem wissenschaftlichen Wissen, das sie dort fanden und das in ihre Messungen, Karten und Beschreibungen floss.11 Mit der Gründung des Schweizer Alpen Clubs (SAC) entwickelten dann immer breitere Teile des Bürgertums den sportlichen Ehrgeiz, sich jenseits der Baumgrenze zu bewegen. Die Gipfelbesteigung wurde zudem zum »Männlichkeitsritual«.12
In dieser Tradition bewegte sich Hermann Geigers mediale Inszenierung. Der »Bergsteiger der Lüfte« wurde in den Fotoreportagen und Dokumentationen gewissermassen selbst zum alpinen Steinbock: agil, geschickt, das Risiko nicht scheuend und in den Bergen heimisch – und mit ausserordentlichen Fähigkeiten ausgestattet. Denn seine Anstrengungen, so hiess es im Gönnermagazin, verlangten »viel Können und Mut«.13 Trotz aller »Natur und Technik in beglückender Harmonie« stürzte Geiger mit seinem stählernen Partner ab, als er 1966 mit einer Flugschülerin »zu seinem letzten Flug« startete.14 In den Annalen der Rega fand Geigers Absturz entweder gar nicht, äusserst knapp oder überraschend nebulös Erwähnung. Dass sein Helikopter tatsächlich bei der Landung mit einem Segelflugzeug kollidierte, berichtete auch ein zeitgenössischer Nachruf des SRFs nicht. Auch im Jahr 2016 wird Hermann Geiger noch als Held gesehen, der »oftmals unter schwierigsten Bedingungen, nie aber das Risiko oder Abenteuer suchend«15 zum Meister seines Metiers wurde. Zwar fanden nur rund 2000 der insgesamt 23 000 Flüge Geigers im Rahmen eines Rettungseinsatzes statt,16 doch in die Nähe von Übermut, Geltungsdrang oder Leichtsinnigkeit wurde er auch nach seinem Tod selten gestellt. Ganz im Sinne der aufklärerischen Bergsteiger widmete Hermann Geiger seine Flüge »eindeutig nützlichen Zwecken«.17 Er unternahm diese nicht etwa als Freizeitvertreib, sondern durch sie sollte auch den Massen ermöglicht werden, ihre Freizeit sicher in den Alpen verbringen zu können.
Die wissenschaftliche, technische und infrastrukturelle Erschliessung der Berge führte tatsächlich dazu, dass immer mehr Menschen den Alpenraum betreten konnten. Damit wich der Pioniermoment des Einzelnen dem Freizeit-, Erholungs- und Fitnessanspruch der Vielen. Die stetige Ökonomisierung der Berge drückte sich nicht nur in ihrer touristischen Verwertung, sondern auch in der Spezialisierung der verschiedenen Rettungsorganisationen aus, deren Massnahmen zum Risikomanagement und zur Unfallprävention ebenfalls einer marktwirtschaftlichen Logik gehorchten.18 Die Rega kann also als Wegbereiterin und als Antwort auf die Öffnung der Berge für ein Massenpublikum gesehen werden. An ihr wird ausserdem etwas deutlich, was zunächst kontraintuitiv wirken mag: Obwohl Unfälle auf den ersten Blick als mehr oder weniger kontingente Ereignisse erscheinen, sind sie doch immer auch historische Phänomene. Auch die Darstellung Geigers im »Adler von Sion« – und die Massnahmen der Rega generell – zeigen dies: Was Unfälle »sind«, wird von historisch gewachsenen Institutionen, Infrastrukturen und Technologien vermittelt. An sie knüpfen sich kulturell, sozial und politisch aufgeladene Konzepte und Vorstellungen.19
Technische Modernität als Selbstverständnis
Um auf das Unfallrisiko am Berg adäquat reagieren zu können, benötigte die Schweizerische Rettungsflugwacht von Beginn an vor allem eines: neueste Technik. Die zivile Luftrettung der Schweiz fand ihre direkten Vorläufer im militärischen Bereich. Neben technischen Geräten kamen auch viele Praktiken, die im Zweiten Weltkrieg weiterentwickelt worden waren, bei der Rega zur Anwendung – zum Beispiel das Fallschirmspringen. Die Technikaffinität der Rega war eng mit der Vorstellung verbunden, dass technische Innovationen die Eindämmung von Gefahren erleichterten. Selbst ein »wagemutige[r] Pilot«20 wie Hermann Geiger, hiess es etwa 1997 im Gönnermagazin, sei letztlich den Naturgewalten gegenüber machtlos gewesen, weil er nicht mit der richtigen Technik ausgestattet wurde. Mit »seine[r] Piper«21 habe Geiger zwar die ersten Gletscherlandungen durchführen, aber nicht am unebenen Berg landen können. In der Rückschau schien es klar: Hätte er damals bereits einen Helikopter nutzen können, wären auch mehr Menschen aus den Fängen der Berge gerettet worden.22
Wie schon in den beiden Weltkriegen erlangten auch bei der Rega Pilot und Maschine eine Art symbiotische Einheit. Geiger wurde entsprechend entweder vor »seiner« HB-OED-Piper abgebildet, im Anzug, die Füsse tief im Schnee vergraben; oder mit »seinem« Helikopter, dem HB-XAU, der auch im Hintergrund ruhte, als er den Steinbock freiliess. Der HB-XAU war der erste eigene Drehflügler der Rega, den sie nach einer landesweiten Spendenaktion vom Verband Schweizerischer Konsumvereine geschenkt bekam. 1957 traf der »hochmoderne Rettungsheli«23 des Typs Bell 47 J in Kisten verpackt aus den USA ein. Er war rot, wie seine Nachfolger auch. Die roten »Helis« wurden zum Symbol der Rega. Im Jahr 2017 rückte sie zu über 15 000 Einsätzen aus – über zwei Drittel davon erfolgten mit einem ihrer ikonischen Helikopter.
In der Rückschau erschienen die jeweils neusten Modelle als logische Konsequenz der vorherigen.24 Es sei ein »weiter Weg«25 zum Agusta-Helikopter gewesen, hiess es etwa bei dessen Einführung im Jahr 1996. Dieser wurde dreizehn Jahre später dann durch sein neueres Modell abermals ersetzt. Die Flotte der Rega entwickelte sich in dieser Vorstellung evolutionär. Die Rega habe sich »von der Stube zur hochmodernen Einsatzzentrale« gemausert, so die Eigendarstellung: »Pioniergeist ist in der Neuzeit angekommen. Unmögliches wird möglich gemacht.«26 Innerhalb der Rettungsorganisation entstanden oft starke emotionale Bindungen zu einzelnen Modellen. Die Verabschiedung des ersten rein durch Gönnergelder finanzierten und ›lang gedienten‹ Helikopters liest sich beinahe wie die Verabschiedung eines Mitarbeitenden.27 Der Stolz auf die Flotte schlägt sich auch im Gönnermagazin nieder, in dem Bilder von Hubschraubern und Flugzeugen dominieren. Portraits von Mitarbeitenden fanden sich hingegen keine, nur einmal wurde eine Übersichtskarte der Schweiz abgebildet, in der die Einsatzstationen der Schweizerischen Rettungsflugwacht eingezeichnet sind: symbolisiert durch einen Helikopter.28 Aber nicht nur Helikopter repräsentieren die Modernität der Rega, auch ihr erster Ambulanzjet wurde als »Pionierleistung« bezeichnet und den Gönner*innen bei dessen Einführung in aller technischen Detailfülle vorgestellt.29 Cutting-edge-Technologie wurde zum Selbstverständnis der Flugrettungswacht.
Die symbiotische Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine löste sich erst dann langsam auf, wenn das Gerät zu veralten begann. Modelle, die aus »technischen, wirtschaftlichen und ökologischen Gründen«30 nicht mehr als zeitgemäss empfundenen wurden, gab die Rega an andere Organisationen weiter. Im Fall des ersten eigenen Helikopters, dem HB-XAU, war das nach zehn Jahren. Anschliessend kam er zum schweizerischen Helikopterbetreiber Heliswiss, bei der er und sein Pilot seit einem Einsatz in Grönland 1971 als verschollen gelten. Bei der Rega wurden in der Regel weder Helikopter noch Ambulanzflugzeuge länger als fünfzehn Jahre eingesetzt.
Die Rega wurde so innerhalb der internationalen ›Rettungsszene‹ zu einem schweizerischen Export- und Prestigeobjekt. Schon im Jahr 1956 wurde sie von amerikanischen Behörden zu einem Spezialeinsatz im Grand Canyon gerufen, nachdem zwei Zivilflugzeuge über den Rocky Mountains miteinander kollidiert waren.31 Auch in späteren Beiträgen über die Repatriierungseinsätze der Rega wird immer wieder die technische Einzigartigkeit betont: eine Art »(Luft-)Brücke zur Heimat« sei die Rettungsflugwacht dank der von ihr durchgeführten Rückholungsaktionen von im Ausland verunglückten Bürger*innen in die Schweiz; umgekehrt brachten ihre ›Rosinenbomber‹ keine Lebensmittel, sondern medizinische Hilfsgüter. So ist etwa im Jahr 1977 im Gönnermagazin zu lesen, dass es nicht zuletzt die beschränkten Mittel im Ausland seien, die der Repatriierung einen »medizinischen und psychologischen Wert« gaben: »Die Sehnsucht nach einem heimatlichen Spital ist nur zu verständlich.«32 Was die Rega auch im internationalen Vergleich so besonders machte, war also ihre Technik. Nicht der »gut[e] Wille fehlt[e]«33 anderswo auf der Welt, auch nicht die Kompetenz, sondern allein die »unbeschränkten medizinischen Mittel«.34 In diesem Selbstverständnis wurde das Schritthalten mit den neusten medizinischen und technischen Standards eine Notwendigkeit, denn »nur mit modernstem Material [seien] die hohen Ansprüche an Zuverlässigkeit und Schnelligkeit«35 zu erfüllen.
The ›human factor‹
Trotz alledem sah sich die Rega immer wieder mit ihrer Machtlosigkeit konfrontiert – immer dann, wenn die Rettung am Berg nicht schnell genug erfolgte und auch die modernsten Technologien einen Menschen nicht am Leben halten konnten.36 So erkannte die Rega ihre Aufgabe auch darin, ihre Gönner*innen dazu aufzufordern, Unfälle durch Achtsamkeit und gewissenhafte Vorbereitungen erst gar nicht zu verursachen. Davon zeugen in den Gönnermagazinen die vielen Verweise auf den Leichtsinn oder die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten von Menschen am Berg – verbunden mit dem Ratschlag, durch gewissenhafte Planung und der Befolgung von Hinweisen Unfälle zu vermeiden.37 Hier zeigt sich, dass ›der Unfall‹ als Ereignis schon im Vorfeld als psychologisches beziehungsweise gesellschaftliches Moment verhandelt wird. Mit der Eigenverantwortung geht immer auch eine bestimmte moralische Implikation einher.38
Die Unfallprävention gehört seit der Gründung der Rega zu ihren Kernaufgaben. Damit war immer auch die Vorstellung verbunden, die eigenen Einsätze langfristig überflüssig zu machen.39 Bei der Diskussion von Präventionsstrategien wurde in den Gönnermagazinen der Rega das Verhältnis von Laien und Expert*innen besonders stark impliziert – was bei Präventionsmassnahmen nicht untypisch ist. Denn den Expert*innen kommt die Aufgabe zu, Gefahren als solche zu erkennen, einzuteilen und lösungsorientiert zu beantworten. Das technisch und wissenschaftlich begründete Expertenwissen fordert dabei gegenüber anderen Wissensansprüchen (wie zum Beispiel Intuition) höhere Autorität.40 Die Rega wird so zur institutionalisierten »Bereitschaft«41 für etwas, das eigentlich nicht verhindert werden kann, aber gerade deswegen als rational erwartbar umgedeutet und beantwortet wird. In diesem Bereich sieht die Rettungsflugwacht ihr Expertenwissen letztlich nicht darin, medizinische Hinweise zu geben – wie man es bei einer Rettungsorganisation vermuten würde –, sondern Verhaltensregeln für die Berge zu definieren.
Seit den 2000ern widmet das Gönnermagazin der »Prävention« jeweils eine eigene Rubrik. Damit Wanderungen, Skifahrten und Kletterausflüge in den Bergen ohne Zwischenfälle verlaufen (und die Rega nicht ausrücken müsse), sei es etwa ratsam, die Regeln der Schweizerischen Beratungsstelle für Unfallverhütung zu berücksichtigten.42 Oder es wird empfohlen, Unfällen auf der Piste vorzubeugen, indem man nicht übermüdet oder in »sinnlose[r] Raserei« den Berg hinabfahre.43 Aus dieser Perspektive sind es nicht mehr die Berge, die Opfer fordern, sondern die menschliche Schwäche, die in der Freizeitgesellschaft neuen Nährboden erhält.44 Die Schwachstelle, der ›menschliche Faktor‹, liegt dann nicht auf Seiten der Bergrettungsorganisationen, sondern bei den potentiellen Opfern selbst, deren Erziehung und Aufklärung Sache der Expert*innen ist. Die Präventionsstrategien der Rega verdeutlichen einmal mehr, dass die Alpen ein vielfältig ausgedeuteter und umstrittener Raum sind.
Mit der Rega wurde seit ihrer Gründung die Frage, wer sich zu welchem Zweck in den Bergen aufhalten darf und wie man sich dort zu verhalten habe, neu verhandelt. Was die einen als zunehmende Sicherheit empfinden, ist für die anderen eine reine »Absicherungshysterie« – so urteilte zumindest einer der bekanntesten Bergsteiger der Gegenwart, Reinhold Messner, im Jahr 2017. Dahinter steckt im Falle Messners eine fundamentale Gesellschaftskritik: »Die Politik« habe, so Messner, »den Bürgern zu viel Verantwortung abgenommen«.45 Aus dieser Perspektive wäre die Rega diie institutionalisierte »Absicherungshysterie«. Plausibler scheint es jedoch, die Rega als typische Institution einer modernen Risikogesellschaft zu betrachten, die von der Erfahrung der Verletzbarkeit einerseits und der Einsicht in die Unmöglichkeit absoluter Sicherheit andererseits geprägt ist.46 Dann steht auch die Rega in der Tradition der »symptomhafte[n], symbolische[n] Risiko›bewältigung‹«47, in der laut des Soziologen Ulrich Beck das Risiko nie ganz beseitigt, sondern immer bloss ›gemanagt‹ werden kann. In dieser Ambivalenz wird der über dem Skigebiet kreisende rote Helikopter zu einem doppeldeutigen Symbol: einerseits vermittelt er ein Sicherheitsgefühl, dass nahende Rettung immer bereit steht; andererseits ist er eine mahnende Erinnerung an die lauernde Gefahr am Berg.
Charlotte Hoes studiert im Master »Geschichte und Philosophie des Wissens« an der ETH Zürich.
Die Rega kann als Wegbereiterin und als Antwort auf den Massenzugang in die Alpen gesehen werden.
Abb. 1: Still aus: Schweizer Filmwochenschau, »Der Helikopter–Lift«, 05.12.1952, aus: Filmbestand Schweizer Filmwochenschau (1940–1975), Schweizerisches Bundesarchiv, J2.143#1996/386#547#5*, http://media.zem.ch/01WS/1956/SFW_0730.mp4#t=0,54.
Abb. 2: Unbekannt, Frachtentlad eines Steinbockes/Gämse im Tirol, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Swissair, LBS_SR12-21-067-AL.
Abb. 3: Björn Eric Lindroos, Dreharbeiten zum Dokumentarfilm »Der Adler von Sion« über den Schweizer Gletscherpiloten und Rettungsflieger Hermann Geiger, 1958, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Com_L07-0096-0002-0018. Der Film von Wolfgang Gorter: »Der Adler von Sion« (Filmarchiv des Kanton Wallis) ist abrufbar auf: http://xml.memovs.ch/f0081-a01.xml.
Abb. 4: Still aus: Schweizer Filmwochenschau, »Fliegende Retter«, 17.10.1952, aus: Filmbestand Schweizer Filmwochenschau (1940–1975), Schweizerisches Bundesarchiv, J2.143#1996/386#540#5*, http://media.zem.ch/01WS/1952/SFW_0544.mp4#t=210,291.
Abb. 5: Heinz Baumann, SRFW, Schweizerische Rettungsflugwacht, Rettungsflughelferkurs, Eigergletscher, 11.05.1971, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Com_L20-0333-0002-0001.
Abb. 6: Heinz Baumann, SRFW, Schweizerische Rettungsflugwacht, Rettungsflughelferkurs, Eigergletscher, 11.05.1971, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Com_L20-0333-0003-0004.
- 1
Wanda Bühler, Ariane Güngerich: »Carunglück in Algerien und Überschwemmungen in Bern«, in: 1414 (Gönnermagazin der Schweizerischen Rettungsflugwacht) 78 (2012), S. 28–29, hier S. 28.
- 2
Das Akronym »Rega« setzt sich aus den deutschen, französischen und italienischen Bezeichnungen (»Rettungsflugwacht«, »Garde aérienne« und »Guardia aerea«) zusammen und wird erst ab 1979 offiziell verwendet, hier aber aus Gründen der Verständlichkeit und Einheitlichkeit auch anachronistisch.
- 3
Franziska Schläpfer: 1414: Die Erfolgsgeschichte der Rega und ihre Gesichter, Glockhausen: Wörterseh Verlag (2012), S. 8.
- 4
Hauptsitz wurde der Flguhafen allerdings erst 1997, als die Rega mit ihren drei Challenger-Flugzeugen an den östlichen Rand des Flughafengeländes nördlich der Landebahn 10/32 zog.
- 5
Bernd Biege: Luftrettung: Geschichte, Technik, Organisation, Edewecht: Stumpf & Kossendey (1994), S. 37.
- 6
Nach dem Buchtitel von Theo Haverkamp: Der fliegende Hotelier: Fredy Wissel, Gletscher- und Rettungspilot, Samedan: Engadin Press (1994).
- 7
Für die Etablierung des Bergpanoramas als Schweizerisches Nationalsymbol vgl. Alexis Schwarzenbach: »Porträts der Nation: Bilder auf Schweizer Briefmarken, Münzen und Banknoten 1880–1945«, in: Die Erfindung der Schweiz 1848–1998: Bildentwürfe einer Nation, hg. vom Schweizer Landesmuseum Zürich, Zürich: Chronos (1998), S. 318–330.
- 8
Vgl. Guy P. Marchal, Aram Mattioli: Erfundene Schweiz: Konstruktionen nationaler Identität, Zürich: Chronos (1992), S. 17.
- 9
Vgl. Veronika Straaß, Claus-Peter Lieckfeld: Mythos Berg: Götter, Gipfel und Geschichten, München: blv (2005), S. 85.
- 10
»Grosse Erzählungen« nach Jean-Francois Lyotard, vgl. Tanja Wirz: Gipfelstürmerinnen: Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz 1840–1940, Baden: hier+jetzt (2007), S. 14.
- 11
Vgl. David Gugerli, Daniel Speich: Topographien der Nation: Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich: Chronos (2002), S. 174–175.
- 12
Vgl. Tanja Wirz: Gipfelstürmerinnen: Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz 1840-1940, Baden: hier+jetzt (2007), S. 144.
- 13
Hansjürg Moser: »Hermann Geiger: Pionier der alpinen Flugrettung«, in: REGA (Gönnermagazin der Schweizerischen Rettungsflugwacht) 34 (1990), S. 10–11, hier S. 10.
- 14
Ebd.
- 15
Hans Reis: »Der Adler von Sion«, in: Neue Zürcher Zeitung, https://www.nzz.ch/schweiz/blick-zurueck-der-adler-von-sion-ld.112173 (22.08.2016).
- 16
So berichtete der erwähnte SRF-Nachruf. Vgl. SRF Beitrag vom 02.09.1966: »Hermann Geiger abgestürzt«, SRF Archiv, https://www.srf.ch/play/tv/me_schonvergessen/video/hermann-geiger-abgestuerzt?id=eca0c3e1-708d-4f2a-9461-39a5451d457c&station=69e8ac16-4327-4af4-b873-fd5cd6e895a7.
- 17
Owen, zitiert nach Fergus Fleming: Nach oben: Die ersten Eroberungen der Alpengipfel, Hamburg: Rogner & Bernhard (2002), S. 97.
- 18
Vgl. Andreas Killen, Nitzan Lebovic: »Introduction«, in: des. (Hg.): Catastrophes: A History and Theory of an Operative Concept, Berlin: de Gruyter (2014), S. 1–14, hier S. 13.
- 19
Vgl. Roger Cooter, Bill Luckin: »Accidents in History: An Introduction«, in: dies. (Hg.): Accidents in History: Injuries, Fatalities and Social Relations, Amsterdam: Rodophi (1997), S. 1–16, hier S. 5–7.
- 20
Hansjürg Moser: »Der erste Rega-Heli ist im Meer versunken«, in: REGA 49 (1997), S. 22–23, hier S. 22.
- 21
Ebd.
- 22
Ebd.
- 23
Ebd.
- 24
Die detaillierte Informierungen der Gönner*innen über diese Neuanschaffungen im Gönnermagazin der Rega (REGA, ab 1997 1414) dienen sicherlich auch der Rechtfertigung der Zuwendungen und zur gleichzeitigen Bindung an die Rega. Die Notwendigkeit wird auch durch die ansteigenden Einsatzbereiche und -zahlen begründet, zum Beispiel in »Der neue Gebirgshelikopter WA Da Vinci«, in: 1414 72 (2009), S. 18.
- 25
Hansjürg Moser: »Der erste Rega-Heli ist im Meer versunken«, in: REGA 49 (1997), S. 22–23, hier S. 22.
- 26
Ariane Güngerich: »Rund um die Uhr fliegt die Rega die Medizin zum Patienten«, in: 1414 78 (2012), S. 4–7, hier S. 5.
- 27
Vgl. »Der letzte Flug«, in: REGA 9 (1980), S. 3. Der erste aus Gönnergeldern finanzierte Helikopter, einer des Typs Alouette III, findet zukünftig sein Zuhause als Ausstellungsobjekt im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern.
- 28
Vgl. Doppelseite in der Mitte von REGA 46 (1996).
- 29
Vgl. Mitteilungsblatt der Schweizerischen Rettungsflugwacht 10 (1973), S. 7–9.
- 30
Hans-Peter Kurz: »Editorial«, in: 1414 61 (2003), S. 3.
- 31
Vgl. Schweizer Filmwochenschau, »Nach der Flugzeugkatastrophe im Grand Canyon«, 13.07.1956, aus: Filmbestand Schweizer Filmwochenschau (1940-1975), Schweizerisches Bundesarchiv, J2.143#1996/386#730-1#1*, http://media.zem.ch/01WS/1956/SFW_0730.mp4#t=0,54.
- 32
»Luftbrücke zur Heimat« (o.V.), in: REGA 2 (1977), S. 4.
- 33
Ebd.
- 34
Roger Ackermann: »Akuter Herzinfarkt Indien – was nun?«, in REGA 46 (1996), S. 8–10, hier S. 9.
- 35
Hansjürg Moser: »Vor 25 Jahren flog der erste Rega-Jet«, in: 1414 50 (1998), S. 22-23, hier S. 22.
- 36
Vgl. Roger Ackermann: »Akuter Herzinfarkt in Indien – was nun?«, in REGA 46 (1996), S. 8–10. Hier stirbt der repatriierte Patient nach wenigen Wochen.
- 37
Vgl. zum Beispiel »Sikfahren als Plausch« (o.V.), in: REGA 2 (1977), S. 3 oder »Achtung, Lawinen – auch auf Schneeschuhtouren« (o.V.), in: 1414 73 (2009), Rückseite.
- 38
Vgl. Roger Cooter, Bill Luckin: »Accidents in History: An Introduction«, in: des. (Hg.): Accidents in History: Injuries, Fatalities and Social Relations, Amsterdam: Rodophi (1997), S. 1–16, hier S. 3ff. Diese Verschiebung hin zur Eigenverantwortung und individuellen Unachtsamkeit wurde besonders im Bereich der industriellen Arbeit erforscht.
- 39
Vgl. zum Beispiel »Gefahr am Doldenhorn gebannt« (o.V.), in: REGA 7 (1979), S. 8.
- 40
Vgl. Andrew Lakoff: »The Risks of Preparedness: Mutant Bird Flu«, in: Public Culture 24:3, 2012, S. 457–464.
- 41
Englisch preparedness, vgl. Andreas Killen, Nitzan Lebovic: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Catastrophes: A History and Theory of an Operative Concept, Berlin: de Gruyter (2014), S. 1–14, hier S. 7.
- 42
Vgl. »Viele Unfallopfer in den Bergen sind Wanderer« (o.V.), in: REGA 46 (1996), S. 11.
- 43
Vgl. »Sikfahren als Plausch« (o.V.) , in: REGA 2 (1977), S. 3.
- 44
Vgl. »Die Berge fordern keine Opfer« (o.V.), in: REGA 9 (1980), S. 4.
- 45
Messner, zitiert nach Jana Füglistaler: Wer hinaufsteigt, kommt als ein anderer zurück, in: SRF, https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/reinhold-messner-wer-hinaufsteigt-kommt-als-ein-anderer-zurueck (02.12.2017).
- 46
Vgl. Andreas Killen, Nitzan Lebovic: »Introduction«, in: dieselben: Catastrophes: A History and Theory of an Operative Concept, Berlin: de Gruyter (2014), S. 1–14, hier S. 2.
- 47
Ulrich Beck: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1986), S. 75.