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Was ist neu an der New Economy? Eine Spurensuche
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Roman Haefeli

Rezension: Plattformkapitalismus für technologische Analphabet*innen

Uber, Facebook und Spotify sind digitale Plattformen. Was bedeutet das? Inwiefern können ein Transportunternehmen, ein soziales Netzwerk und eine Streaming-Plattform auf dieselben historischen und ökonomischen Entwicklungen zurückgeführt werden? Und wie sieht es um ihre Zukunft aus? Nick Srniceks Essay Plattform-Kapitalismus gibt Antworten auf diese Fragen.

Die digitale Automatisierung von Arbeitsprozessen hat in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen. Längst sind Laufbänder und Industrieroboter nicht mehr die einzigen Automaten in Betrieben; auch in Büros übernehmen Computer und Algorithmen hochqualifizierte und kognitive Arbeit. Dadurch sehen sich immer breitere Gesellschaftsschichten von der Rationalisierung bedroht. Diese Angst ist berechtigt, wenn wir die Entwicklung der Arbeit durch die maschinelle Automatisierung – wie von Karl Marx beschrieben – auf die Digitalisierung adaptieren. Gemäss Marx müssen Arbeiter*innen zwar nicht befürchten, dass Maschinen die Quantität der menschlichen Arbeit verringern, denn der Kapitalismus beruhe auf dem von Menschen erarbeiteten Mehrwert. Maschinen intensivieren jedoch die Arbeit, was diese qualitativ verändert: Die Tätigkeiten werden beispielsweise monotoner und anstrengender, die Entlohnung schlechter.1 Zeitgenössische Untersuchungen, die sich mit den durch digitale Plattformen veränderten Arbeitsbedingungen und -methoden beschäftigen, stellen solche Entwicklungen fest; ein Beispiel ist die Prekarisierung von Uber-Fahrer*innen.2

Der Ökonom Nick Srnicek vertritt als Akzelerationist eine andere Perspektive, die sich jedoch ebenfalls auf Marx bezieht.3 In seinem »Maschinenfragment« beschreibt Marx, wie »das Kapital [durch die Verwendung von Maschinen, R.H.] – ganz unabsichtlich – die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert«.4 Durch den Fortschritt der Automation und die dadurch gewonnene Zeit bliebe den Menschen freie Zeit zur eigenen Entfaltung, was »die Bedingung ihrer Emanzipation«5 sei. In ihrem 2013 erschienenen »Akzelerationistischen Manifest«6 verhalfen Srnicek und Co-Autor Alex Williams dieser Ansicht zum Durchbruch. Der kurze Text sollte die Debatte über eine neue, postkapitalistische Politik eröffnen, die nicht maschinenstürmerisch ist, sondern die Vorteile der Automation nutzt, um die Menschen von entfremdender Arbeit zu befreien. Zu diesem Zweck müsse sich eine akzelerationistische Linke allerdings zuerst mit dem nötigen technischen Wissen vertraut machen und sich so »alphabetisieren«.7

Abb. 1: Blick auf ein Rechenzentrum samt zugehörigem Elektrizitätswerk von Amazon Web Services (AWS) in Ashburn, Virginia. Der Norden Virginias ist der weltweit grösste Markt für Rechenzentren und Amazon baut seine Präsenz in der Region laufend aus.

In diesem Sinne kann man Nick Srniceks Plattform-Kapitalismus als aufklärendes Buch verstehen. Es soll helfen Plattformen zu verstehen, damit ihre Errungenschaften für eine emanzipative Politik genutzt werden können. Einen impliziten, im positiven Sinn belehrenden Anspruch erfüllt die informative Lektüre allemal. Wer über Plattformen nachdenken will, sollte mit Srniceks Überlegungen beginnen: Leicht und verständlich geschrieben, besticht das Buch durch analytische Schärfe und eine Einbettung des Phänomens, die wirtschaftliche, politische und technische Erklärungsversuche verbindet. Srnicek gelingt es durch eine klare dreiteilige Struktur, Plattformen zu historisieren, zu charakterisieren und als zukunftsweisende Technik zu etablieren. Zuerst erläutert er die Anfänge der Plattformen historisch. Im zweiten Teil definiert er die Merkmale von Plattformen und beschreibt fünf verschiedene Plattformtypen. Zuletzt wagt er eine Prognose, in welche Richtung sich Plattformen weiterentwickeln könnten.

I) Entstehung der Plattformen: Eine strukturelle Analyse

Zunächst zeigt Srnicek auf, wie Plattformen, die seit den 1990er-Jahren als Geschäftsmodelle entwickelt und bewirtschaftet werden, aus einer bestimmten historischen Situation heraus entstanden sind. Sie seien Antworten auf drei weltwirtschaftliche Entwicklungen: der durch die Ölkrise bedingte Abschwung in den 1970er-Jahren, das Anwachsen der Dotcom-Blase in den 1990er-Jahren und die Finanzkrise von 2008.

Abb. 2: Der IT- und Telekommunikationsdienstleister Colt Technology Services betreibt weltweit Rechenzentren und unterhält ein etwa 83’000 Kilometer langes Glasfasernetz. Dieses Rechenzentrum in Zürich-Altstetten ist eines von insgesamt 24.

In den 1970er-Jahren macht Srnicek einen Umbruch in den Produktionsverhältnissen fest. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Mehrheit der Fabriken in den USA fordistisch organisiert, Firmen wurden nach tayloristischen Prinzipien geführt und die Arbeiter*innenschaft wurde von Gewerkschaften vertreten. Ab den 1970er-Jahren begann sich das zu ändern. Vor dem Hintergrund der schweren Rezession und aufgrund der wachsenden Konkurrenz aus Deutschland und Japan setzte sich das toyotistische Organisationsmodell zunehmend durch. Dessen Just-in-Time-Strategie, die eine immer stärkere Einbindung von Lieferketten forderte, trug zur Weiterentwicklung und zum Ausbau logistischer Technik bei. Gleichzeitig fanden Angriffe auf die Arbeiter*innenschaft statt, indem Gewerkschaften geschwächt, Industrien dereguliert und Arbeit in billigere Länder ausgelagert wurde. Beides waren Voraussetzungen für die Entwicklung des Plattformkapitalismus, wie wir ihn heute kennen.

In den 1990er-Jahren führten die zahlreichen neuen technologischen Möglichkeiten zu einer massiven Förderung von IT-Unternehmen, die sowohl staatlich als auch durch Anlagekapital subventioniert wurden. Doch viele dieser Firmen generieren erst Einkommen, wenn sie über eine Monopolstellung verfügen – vorher finanzieren sie sich einzig über Anlagekapital. In Interviews spricht Srnicek in diesem Zusammenhang sogar von »venture capital welfare«8 – was als subtile Provokation des Marxisten verstanden werden darf, da er den Begriff »Wohlfahrt«, der in liberalen Theorien eher ablehnend beurteilt wird, in den Bereich der Marktwirtschaft überführt. Die hohe Zahl an Konkursen am Ende der Dotcom-Blase stützt Srniceks Analyse, denn sie zeigt, dass viele dieser Firmen ökonomisch instabil waren. Dennoch war ihr auf Risikokapital beruhendes Geschäftsmodell eine weitere Bedingung für die Entwicklung des Plattformkapitalismus.

Abb. 3: Im Zürcher Industriequartier, zwischen Zahnradstrasse und Elektrizitätswerk, betreibt Equinix zwei Rechenzentren für Netzwerkdienstleister, die das Bankenviertel verbinden. Sie sind Teil eines Netzwerks von über 220 Equinix-Rechenzentren weltweit. Zu den Kunden von Equinix zählen grosse Cloud Service-Anbieter wie Amazon, Google und Microsoft.

Die Finanzkrise von 2008 schliesslich machte durch staatliche Bankenrettung private zu öffentlichen Schulden und führte zu einer gegenseitigen Verstärkung von Steuerflucht, Austerität und unkonventioneller Geldpolitik. Weil Steuererhöhungen wegen des politischen Klimas keine Option zu sein schienen, reagierten die Staaten auf ihre geschrumpften Budgets mit einer Austeritätspolitik, die Arbeiter*innen mit geringen Löhnen und Arbeitslose massiv unter Druck setzte. Diese Prekarisierung schuf einen neuen Markt an billigen Arbeitskräften, der gewisse Formen von Plattformen (beispielsweise Uber) erst ermöglichte. Die Zentralbanken reagierten zudem, indem sie den Markt mit billigem Geld fluteten und niedrige Zinsen festsetzten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Da viele Firmen aufgrund von Steuerflucht auf grossen liquiden Mitteln sassen (und bis heute sitzen), die sie aber nicht vielversprechend in klassischen Assets anlegen können, nimmt die Anlage in Form von Finanzierung neuer Technologiefirmen zeitgleich übermässig zu.

Die wirtschaftshistorische Argumentation des Ökonomen Srnicek überzeugt. Statt das Firmenmodell Plattform als ahistorische Erfindung anzusehen, zeichnet er ihr Entstehen als eine kontinuierliche, auf verschiedensten Ebenen angesiedelte Entwicklung nach: Plattformen profitierten gleichzeitig von betriebsökonomischen Organisationsformen, staatlichen Interventionen sowie Arbeits- und Geldpolitik. Im Gegensatz zu Studien, welche auf spezifischen Leistungen einzelner Erfinder*innen fokussieren, konzentriert sich Srnicek auf ihre strukturellen Bedingungen und ermöglicht so eine umfassendere Analyse.

II) Typen von Plattformen: Eine Kategorisierung

Ungeachtet ihrer historischen Entwicklung sind Plattformen ein neuartiges Firmenmodell, dessen Grundlage Srnicek zufolge in der Ausbeutung einer neuen Ressource liegt: Daten. Während die Datenauswertung im toyotistischen Wirtschaftsmodell zur firmeninternen Lenkung genutzt wurde, weil sie mehr Effizienz durch Prozessoptimierungen, schnellere Produktion und einfachere Auslagerung von Arbeitskräften versprach, etablierte sie sich in der New Economy als eigentliches Geschäftsmodell. Die neuen technischen Möglichkeiten ermöglichen die Nutzbarmachung von Daten auch ausserhalb der (industriellen) Produktion: Während des Konsums der neuen digitalen Produkte liefern die User*innen Daten als Rohmaterial.

Die Extraktion von Daten ist das Fundament der Plattformökonomie. Andere Renditen, die die Plattformökonomie hervorgebracht hat – beispielsweise durch »Arbeit«, die in Form von Content auf Facebook oder Youtube geteilt wird – sind deshalb gemäss Srnicek vernachlässigbar. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die Reduktion auf Datenextraktion von Srnicek nicht zu vereinfachend sei. Man könnte einwenden, ob die Aneignung von (semi-) künstlerischen Produkten und Gratisarbeit als eine Form von primitiver Akkumulation zu verstehen ist. Videos, Bilder, Texte oder Memes, die freiwillig und gratis hochgeladen werden, dürfen schliesslich aufgrund der Nutzungsbedingungen der Plattformen frei verwendet werden. Srnicek beantwortet diese Frage mit der Produktionsweise:9 Genauso wie Kunst als Ware gehandelt wird, obwohl sie nicht kapitalistisch produziert wird, verhält es sich mit User Content. Ein zweiter, verwandter Einwand lautet, dass die soziale Interaktion zwischen den Nutzenden von Plattformen kommodifiziert würde, was ebenfalls als eine Art von primitiver Akkumulation ausgelegt werden könne. Srnicek hält es zwar theoretisch für möglich, dass solche Beziehungen kommodifiziert werden, sieht dafür aber keine Anzeichen. Er argumentiert marxistisch, wenn er daran festhält, dass die Produktion von Mehrwert über die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit funktioniert.10 Interaktionen in sozialen Medien hingegen würden keinen direkten Tauschwert produzieren, der abgeschöpft werden könnte, sondern seien – wie die reproduktive Arbeit – hinsichtlich ihres Gebrauchswerts relevant. Die Resultate empirischer Analysen geben ihm Recht: Daten sind für Plattformen derart fundamental, dass mögliche Gewinne aus primitiver Akkumulation von Gratisarbeit oder Content marginal ausfallen würden.

Abb. 4: Ein grosser Teil des weltweiten Internetverkehrs fliesst durch den Norden Virginias, das in den letzten Jahren einen riesigen Rechenzentren-Boom erlebt hat. Die grossen Cloud Service-Anbieter investieren dort Milliarden in Bauland. Hier zu sehen ist ein Cluster von Rechenzentren bei Ashburn, einer von mehreren in der Gegend.

Srnicek definiert Plattformen anhand vier wesentlicher Bestandteile: Erstens fungieren sie als digitale Infrastrukturen, die die Interaktion zwischen mindestens zwei Gruppen wie Käufer*innen und Verkäufer*innen ermöglichen. Sie schaffen keine neuen Märkte, sondern verknüpfen bereits bestehende Verbindungen. Zweitens basieren sie auf Netzwerkeffekten: Je mehr User*innen partizipieren, desto besser funktioniert die Plattform. Drittens nutzen sie eine Quersubventionierung ihrer verschiedenen Geschäftsbereiche. So dienen beispielsweise Gratismailkonten dazu, mehr User*innen und dadurch Werbekundschaft anzulocken. Viertens wirken sie als politische Akteure durch die Organisation und Verknüpfung bestehender Verbindungen zwischen Gruppen.

Nach dieser Definition der digitalen Plattform unterscheidet Srnicek fünf Arten von Plattformen:

1. Werbeplattformen: Google oder Facebook nehmen über 90 Prozent ihrer Einnahmen mit Werbung ein. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase verfestigten sich die Monopolstellungen bereits etablierter Firmen. Diese brauchten wegen des ausbleibenden Kapitalflusses nun tatsächliche Einnahmen. Google nutzte deshalb seine bisher gesammelten Daten, die bei der Optimierung der User*innen-Profile zu personalisierten Suchergebnissen anfielen, um sie zu Werbezwecken zu verkaufen.

2. Cloud-Plattformen: Amazon generiert seine Einnahmen nicht hauptsächlich als Detailhändler, sondern als Vermieter einer Software, die es für die eigene, aufwändige Logistik entwickelte. Andere Firmen oder gar staatliche Akteure wie das US-amerikanische Verteidigungsministerium11 können sie als Cloudsystem mieten. Die Vermietung von Software erlaubt den Zugriff auf neue Datenströme.

3. Industrieplattformen: Ähnlich wie Cloud-Plattformen bieten Industrieplattformen Softwarelösungen für andere Firmen an. Allerdings handelt es sich um prozessspezifische Anwendungen. Marktführend sind General Electric und Siemens: Erstens, weil diese als führende Industrieunternehmen bereits über das nötige Prozesswissen verfügen; zweitens, weil die USA und Deutschland diese Firmen mit Subventionen, Protektionismus und Infrastruktur massiv unterstützen.

4. Produktplattformen wie Spotify und Rolls Royce: Produktplattformen werden von schon bestehenden Industrien genutzt, um Grenzkosten zu minimieren und mehr Kund*innen an ihre Produkte zu binden. Die Austeritätspolitik infolge der Finanzkrise von 2008 erschwert bis heute Anschaffungen von eigenem Besitz und begünstigt Mietsituationen. Zusätzlich können durch die Vermietung von Produkten neue Daten generiert und die Kundenbindung verstärkt werden.

5. Schlanke Plattformen wie Uber: Sie nutzen ein Geschäftsmodell der Hyper-Auslagerung von festem Kapital. Arbeiter*innen werden als Selbstständige eingestellt, wodurch die Kosten für Sozialleistungen wegfallen. Zusätzlich müssen die Arbeiter*innen selbst für die Instandhaltung der Produktionsmittel aufkommen. Srnicek bezieht hier explizit Position für die Arbeiter*innen und bezeichnet diese Anstellungssituation als eine neue Form von Tagelöhnerei, prekarisierter Arbeit und ungewollter Selbstständigkeit. Trotz der Ausbeutung billiger Arbeitskraft sind die schlanken Plattformen unprofitabel und leben von Anlagekapital, das momentan dank der reduzierten Anlagemöglichkeiten verfügbar ist.

III) Tendenzen, Herausforderungen und die akzelerationistische Hoffnung

Für die zukünftige Entwicklung prophezeit Srnicek vier Tendenzen: Erstens wird die Datenextraktion weiter optimiert und zentralisiert. Zweitens besetzen Firmen bewusst strategische Positionen, da die Datenanalyse immer umfassender wird und verschiedene Datenstränge zusammengeführt werden müssen. Strategische Geschäftsfelder wie Spracherkennung, medizinische Märkte, Zahlungssysteme oder Kartographie sind hart umkämpft; grosse Eintrittshürden verstärken die Monopolisierung zusätzlich. Weil aber alle Firmen sich in solche strategisch wichtigen Gebiete vorwagen, gleichen sie sich drittens an: Die Märkte konvergieren. Viertens zeichnet sich eine Tendenz hin zu geschlossenen Systemen ab, um die eigene Marktposition auszubauen und sich gegen die Konkurrenz abzuschirmen.

Abb. 5: In Hong Kongs Tseung Kwan O-Industriedistrikt stehen nahe der Landestation eines Tiefseekabels über ein Dutzend Rechenzentren. Das Gebäude rechts neben dem Technologiepark ist ein Rechenzentrum der China Unicom, gemäss dem Unternehmen das erste und grösste in Übersee.

Zum Schluss wagt Srnicek eine Prognose, in die er wiederum nicht nur technische und ökonomische Überlegungen einfliessen lässt, sondern auch politische. Infolge der Überkapazität und Überproduktion in China sinken weltweit die Preise. Srnicek vermutet, dass die Gewinne von plattformbasierter Produktion und Datensammlung nicht von industriellen Betrieben, sondern von den Plattformbetreiber*innen selbst abgeschöpft werden, und dass die Preise für die Industrie noch weiter einbrechen. Das führt zu einer ähnlichen Situation, wie sie zum Ende der Dotcom-Blase herrschte. Für schlanke Plattformen sieht die Zukunft düster aus, weil sie irgendwann selbst Einkommen generieren müssen und sich die Arbeiter*innen gegen die prekären Arbeitsverhältnisse zu wehren beginnen. Werbeplattformen müssen sich auf eine Abnahme von Werbevolumen und Gegenwind durch Adblocker einstellen. Zusätzlich rückt die Datensammlung vermehrt in den Fokus von Regulierungen. Die Firmen könnten darauf mit vermehrter Schliessung der Systeme oder mit Payment-Services reagieren. Ebenso könnte das Internet der Dinge eine massive Ausweitung der Kommodifizierung verursachen, indem potenziell die Benutzung jedes Gegenstandes als Service verrechnet werden kann. Denn die Vermietung eines Gegenstandes ist ungleich einfacher, sobald dieser seine Nutzungsdaten selbst verzeichnen kann. Die Verbreitung von elektronischen Trottinetts könnte als Vorbote dieser Entwicklung betrachtet werden.

Doch die technologische Entwicklung wird gemäss Srnicek auch Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Er prophezeit, dass zusätzlich zur ökonomischen auch die digitale Ungleichheit zunehmen wird. Als Gegenmassnahme schlägt Srnicek selbst eine Kollektivierung der Plattformen vor und diese unabhängig von staatlicher Kontrolle zu halten. Wie sich diese sozialistische Forderung durchsetzen lässt, bleibt aber offen. In Anbetracht von Srniceks akzelerationistischer Haltung wird ersichtlich, inwiefern kollektivierte Plattformen für eine freie Gesellschaft von Vorteil sein könnten: Plattformen und ihre Algorithmen können industrielle Prozesse durch fortlaufende Datenerhebung optimieren. Die effizienteren Abläufe würden in einer postkapitalistischen Produktionsform die notwendige Arbeitszeit reduzieren und den Menschen Zeit zur freien Entfaltung schenken. Durch die dezentrale Verknüpfung von Verbraucher*innen und Produzierenden über die Sharing-Funktionen von schlanken Plattformen könnten effiziente Planungs- und Verteilungswege gefunden werden und diese so den marxistischen Traum: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«12 ohne zentrale Wirtschaftsplanung ermöglichen.

Abb. 6: Beim Grange Castle in Irland stehen Rechenzentren unter anderem von Google, Microsoft, Digital Realty’s Interxion, CyrusOne und EdgeConneX. Im August 2020 hat UCB Properties LLC die Bewilligung für den Bau von drei weiteren data centers auf einer Fläche von 80'200 Quadratmetern erhalten, wofür das Unternehmen nun zehn Jahre Zeit hat.

Es sind vor allem die ersten beiden Teile des Essays, die den Leser*innen neue und interessante Einsichten vermitteln. Im dritten Teil führt Srnicek seine Argumentation zwar konsequent weiter, bietet damit aber wenig Neues. Srnicek verzichtet weitgehend auf die Einbettung seiner Erklärungen in akzelerationistische Überlegungen und verweist selten direkt auf die seiner Analyse zugrunde liegende marxistische Wirtschaftstheorie. Das mögen gewisse Leser*innen gerade im historischen Abriss des ersten Teils monieren. Nichtsdestotrotz überzeugt seine Entwicklungsgeschichte des Plattformkapitalismus durch interdisziplinären Weitblick. Und weitgehend ideologische Neutralität im zweiten Teil empfiehlt Plattform-Kapitalismus als Grundlage von verschiedenen Plattformtypen für weiterführende Studien zum Thema. Selbst wenn sein Essay keinen ausgefeilten Lösungsvorschlag für eine sozial gerechtere Nutzung von Plattformen anbietet: Srniceks Diagnose besticht allemal.

Roman Haefeli promovierte in Neurobiologie an der Universität Basel und studiert Philosophie und Kulturanalyse im Master an der Universität Zürich.

Nick Srnicek: Platform Capitalism, Cambridge: Polity (2017). Auf Deutsch erschienen als: Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus, Hamburg: Hamburger Edition (2018).

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Amazon AWS Ashburn Data Center, 21155 Smith Switch Road, Ashburn, Virginia, USA. Screenshot aus Google Maps (2021).

Abb. 2: Colt Zurich Altstetten Data Center, Albulastrasse 47, Zürich, Schweiz. Screenshot aus Google Maps (2021).

Abb. 3: Equinix ZH2 Zurich Data Center, Josefstrasse 255, Zürich, Schweiz. Screenshot aus Google Maps (2021).

Abb. 4: Data Center Cluster, Ashburn, Virginia, USA. Screenshot aus Google Maps (2021).

Abb. 5: China Unicom Tseung Kwan O Data Center, 19 Chun Wang Street, Tseung Kwan O Industrial Estate, Hong Kong. Screenshot aus Google Maps (2021).

Abb. 6: Rechenzentren beim Grange Castle, Grange, Lucan, County Dublin, Irland. Screenshot aus Google Maps (2021).

Literatur
  1. 1

    Vgl. Karl Marx: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Köln: Anaconda (2009). Insbesondere Kapitel 13 (»Maschinerie und grosse Industrie«) ist diesbezüglich relevant.

  2. 2

    Vgl. beispielsweise Colin Crouch: Gig Economy: Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co, Berlin: Suhrkamp (2019).

  3. 3

    Vgl. Armen Avanessian, Robin Mackay: #ACCELERATE: The Accelerationist Reader, Falmouth: Urbanomic (2014), S. 6.

  4. 4

    Karl Marx: »Fixes Kapital und die Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft [»Maschinenfragment«]«, in: Florian Butollo, Oliver Nachtwey (Hg.): Karl Marx: Kritik des Kapitalismus. Schriften zur Philosophie, Ökonomie, Politik und Soziologie, Berlin: Suhrkamp (2018), S. 375–388, hier S. 381.

  5. 5

    Ebd.

  6. 6

    Nick Srnicek, Alex Williams: #Accelerate: Manifesto for an Accelerationist Politics, https://syntheticedifice.files.wordpress.com/2013/06/accelerate.pdf (2013).

  7. 7

    Ebd., Sektion 03.9.

  8. 8

    Aaron Bastani, Nick Srnicek: »#NovaraFM: Platform Capitalism«, in: NovaraFM, https://novaramedia.com/2017/01/20/platform-capitalism/ (20. Januar 2017).

  9. 9

    Elektronische Korrespondenz zwischen Nick Srnicek und Roman Haefeli, geführt zwischen dem 20. und 28. September 2019.

  10. 10

    Vgl. Karl Marx: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Köln: Anaconda (2009), S. 52f.

  11. 11

    Vgl. Amazon Web Services (AWS): Die Trusted: Cloud für Behörden, in: https://aws.amazon.com/government-education/government (15. März 2021).

  12. 12

    Karl Marx: »Kritik des Gothaer Parteiprogramms«, in: Florian Butollo, Oliver Nachtwey (Hg.): Karl Marx: Kritik des Kapitalismus. Schriften zur Philosophie, Ökonomie, Politik und Soziologie, Berlin: Suhrkamp (2018), S. 622–641, hier S. 629.