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Queer Vienna: Einblicke in ein Bewegungsarchiv
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Katharina Pagitz

Zwei Smokings mit Message

Kleidung und Inszenierung spielten auf dem Life Ball eine zentrale Rolle. Zwei Anzüge aus Papier zeigen, wie diese Wiener AIDS-Benefizveranstaltung in der österreichischen Gesellschaft einen Repräsentationsraum für homosexuelle Lebensweisen öffnete.

Am Abend des 10. Mai 1997 betraten Alkis Vlassakakis und Peter Holub das Wiener Rathaus von Kopf bis Fuß in Papier gekleidet. Für den fünften Life Ball hatten sie sich Anzüge aus strahlend weißem Textilpapier genäht.1 Im Laufe der AIDS-Benefizveranstaltung füllten sich die Kleidungsstücke mit Unterschriften, Zeichnungen und Sprüchen. Österreichs erfolgreichster Popstar Falco unterschrieb ebenso wie die bekannte Modeschöpferin Vivienne Westwood und der Bundeskanzler Viktor Klima. Die Zweiteiler werden heute im Zentrum für queere Geschichte QWIEN im 4. Wiener Gemeindebezirk verwahrt. Ihre Verwandlung vom Kleidungs- zum Museumsstück begann schon an jenem Mai-Abend, als die anwesende Prominenz ihre Spuren auf Ärmel, Rücken und Revers hinterließ. Als Artefakt eines rauschenden Fests rufen die Anzüge individuelle und kollektive Erinnerungen wach. Einerseits transportieren sie die Träger als Zeitzeugen in die Endphase der Aidskrise zurück, andererseits bezeugt ihre materielle Beschaffenheit eine kollektive Erfahrung der Zeit: dass sich durch die Aidskrise und Veranstaltungen wie dem Life Ball erstmals ein Repräsentationsraum für homosexuelle Lebensweisen in Österreich öffnete.

Getragene Erinnerungen

Der erste Eindruck ist chaotisch. Hier geht ein grüner Buchstabe in einen pinken Strich über und wird mit einem roten Herz übermalt, dort ist ein blaues R von einem Kreis umgeben. Die beiden Sakkos und Hosen sind übersäht mit bunten Farbstiftlinien, lediglich die Fliegen sind weiß geblieben. Erst nach und nach lassen sich Unterschriften, Zeichnungen und Sprüche erkennen. Das Textilpapier, aus dem Peter Holub die Anzüge gefertigt hatte, war Ende der 1990er Jahre unter Kostümbildner*innen wie Holub sehr beliebt.2 Es ist wesentlich steifer als Druckerpapier, fühlt sich unter den Fingern aber weicher an. Schnitt und Gestaltung weist die Anzüge als Smokings aus – Gesellschaftsanzüge mit einem seidenbesetzten Kragen, die bei Abendveranstaltungen mit einer Schleife getragen werden. Bei diesen Exemplaren sind das Revers, die Knöpfe und die Galonstreifen aus irisierendem Papier gefertigt, das im Licht regenbogenfarben schimmert.3

Während des Interviews, bei dem ich den Trägern ein Bild der Anzüge zeigte, wurden die Erinnerungen an den Life Ball 1997 wieder wach. »Wir hatten zwei Satz Stifte mit jeder. Also in rot, blau, schwarz, grün und dann sind wir einfach los und haben unterschreiben lassen«,4 erinnert sich Vlassakakis. Die Annahme, dass die Anzüge am fünften Life Ball getragen wurden, da die Kleidungsstücke mehrfach die Zahl 97 aufweisen, wird von dem Paar bestätigt. Somit handelt es sich um jenen Life Ball, bei dem die britische Designerin Vivienne Westwood eine Modenschau veranstaltete und Falco einen der letzten Auftritte vor seinem Unfalltod hatte.5

Dass ein Foto der beiden Smokings Holubs und Vlassakakis’ Erinnerungen beflügelte, unterstreicht die kulturwissenschaftliche Argumentation, dass Kleidungstücke als Medien von Erinnerungen fungieren können. Angelehnt an das Konzept des kulturellen Gedächtnisses von Aleida Assmann gelten Kleider als ein zentraler Bestandteil von individuellen und kollektiven Erinnerungsprozessen.6

Abb. 1: Zwei Smokings mit Message, getragen von Alkis Vlassakakis und Peter Holub am Life Ball 1997.

Ursprünglich wollten Holub und Vlassakakis die Smokings versteigern und die erhaltene Summe an AIDS/HIV-Betroffene spenden. Es war »einer der Grundgedanken dahinter, wenn da Promis drauf unterschreiben, dann könnte man die [Anzüge] vielleicht später für den Life Ball versteigern.«7 In den Interviews verneinen die beiden zwar, mit der Aktion ein politisches Zeichen setzen zu wollen. Dennoch lässt sich das Einsammeln von Unterschriften im weiteren Sinn als aktivistische Intervention deuten. Mit jeder Unterschrift wurde das Kleidungsstück weiter mit Bedeutung aufgeladen. Im Sinne der soziologischen Theorie des symbolischen Interaktionismus sind diese Unterschriften Symbole. »Folgt man diesem Gedanken, lassen sich Zugehörigkeiten im Sinne partizipativer Identitäten als solche mit Bedeutung versehene Zeichen verstehen.«8 Einerseits schufen die prominenten Signaturen von Vivienne Westwood, Viktor Klima, Falco, dem Visagisten Gery Keszler, der Sängerin Samantha Fox oder dem Tennisspieler Björn Borg einen materiellen Wert; wie auch ein Gemälde durch Picassos Unterschrift an Wert gewinnt, so wuchs der materielle Wert der Anzüge, als sich Prominente auf ihnen verewigten.9 Andererseits luden sie die Anzüge mit symbolischem Wert auf, denn mit der Unterschrift dokumentierten die Gäste auch ihre Unterstützung im Kampf gegen AIDS. Das Niederschreiben von Namen oder Statements auf Kleidungsstücken war ein wichtiges Phänomen in der Mode und Konzeptkunst der 1990er Jahre.

Der AIDS-Aktivist Hunter Reynolds präsentierte zum Beispiel 1993 das Kunstwerk Patina du Prey’s Memorial Dress bei einer Ausstellung im Institute of Contemporary Art Boston. Während einer Performance trug Patina du Prey – Reynolds’ Alter Ego – ein Ballkleid aus schwarzer Seide mit den Namen von 25'000 Menschen, die an AIDS verstorben waren. Sie drehte sich dabei wie eine Spieluhrfigur mehrmals im Kreis – so sollte sichergestellt werden, dass auch alle in Gold gedruckten Namen sichtbar waren.10

Abb. 2: Widmung von Hunter Reynolds an Alkis Vlassakakis und Peter Holub im Katalog zur Ausstellung in der Trinitatiskirche Köln 1994.

Der Künstler hatte im Vorfeld öffentlich zur Einreichung von Namen aufgerufen und somit auf breite Partizipation gesetzt. Wie beim NAMES Project, bei dem Hinterbliebene Textilpanele gestalteten und zu riesigen Quilts zusammennähten, sollten die Namen öffentlich an die Opfer der Immunschwächekrankheit erinnern – und indirekt den Kampf gegen AIDS weiter beflügeln.11 Der Kunstkritiker G. Roger Denson sprach in diesem Sinne von einem »existenziellen memento mori«,12 als Reynolds das Kleid anlässlich des 25. Jahrestages der Stonewall-Unruhen 1994 in New York präsentierte. Im Herbst war das Kunstwerk bereits in der Trinitatiskirche Köln in Deutschland zu sehen gewesen. Vom Katalog jener Ausstellung besaßen Alkis Vlassakakis und Peter Holub ein vom Künstler persönlich signiertes Exemplar, das sie dem QWIEN Archiv übergeben haben. So unbedarft, wie die Aktivisten vorgaben, war ihre Aktion am Life Ball deshalb drei Jahre später wohl doch nicht, schrieben sie sich doch mit ihrer Aktion in eine künstlerische und aktivistische Tradition ein.

Mode, Kunst und politischer Aktivismus

Beschriftete Kleidung, vor allem die sogenannten »statement shirts« bzw. »message shirts« waren eine aktivistische Strategie an der Schnittstelle von Politik und Mode. Visionär war hier Vivienne Westwood, die schon in den 1970er Jahren T-Shirts als Leinwand für politische Botschaften nutzte und mit ihren Entwürfen für Kontroversen sorgte. Aus Protest gegen die rigide Haltung der britischen Politik gegenüber Homosexualität designte sie z.B. ein T-Shirt mit zwei Cowboys, deren Penisse sich berührten.13 Im Kampf gegen AIDS wurden immer wieder Shirts mit Aufdrucken und Sprüchen versehen, um auf ignorante Politiken oder den Ausschluss von Betroffenen aufmerksam zu machen, wobei Motive oft durch verschiedene Medien wanderten. Die Aids Coalition To Unleash Power (ACT UP) nutze etwa in New York Plakate der Gruppe Gran Fury, die mit ihren drastischen Darstellungen die Öffentlichkeit schockierten.

Eines der bekanntesten Sujets war ein rosa Winkel, dessen Spitze nach oben zeigt. Mit der Spitze nach unten diente das rosafarbene Dreieck ursprünglich zur Kennzeichnung homosexueller Männer in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, wurde aber ab den 1970er Jahren von der Schwulenbewegung als politisches Erkennungszeichen und Symbol des neu erlangten Stolzes umgewertet.14 Im ACT UP-Sujet war unter dem Winkel der Slogan »Silence=Death«, in der deutschen Version »Schweigen=Tod«, zu lesen.15 Im Jahr 1989 entwarf Keith Haring für eine AIDS-Aufklärungskampagne von ACT UP ein Werk mit der Aufschrift »Ignorance=Fear. Silence=Death«, das ebenfalls auf Shirts gedruckt wurde.16

Abb. 3: Drei Buttons »SILENCE = DEATH« (1990er Jahre).

Der modische Aktivismus wurde durch einschlägige Ausstellungen befruchtet. Bereits 1988 zeigte die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin die Ausstellung Vollbild AIDS, bei der auch Kunstwerke aus dem Umfeld von ACT UP und von Gran Fury zu sehen waren.17 1990 folgte in Hannover die Ausstellung Bilderschock, die sich dezidiert der politischen Plakatkunst zu AIDS widmete, und 1992 eröffnete schließlich der Kunstverein Hamburg in den Deichtorhallen und das Kunstmuseum Luzern die Ausstellung Gegendarstellung.18 Im selben Jahr zeigten das Künstlerkollektiv General Idea im Rahmen der Wiener Festwochen ihre Installation PLA©EBO (Helium): In der Kuppel der U-Bahnstation Westbahnhof schwebten über 4'500 mit Helium gefüllte Ballons in Pillenform – eine Anspielung auf die Jahresdosis an AZT, dem lange Zeit einzigen, aber nur beschränkt wirksamen Medikament gegen AIDS. Bereits 1987 hatten General Idea den ikonischen, 1966 von Robert Indiana geschaffenen LOVE-Schriftzug adaptiert, indem sie die vier Buchstaben im Quadrat tauschten. In roter Schrift auf blauem und grünem Grund war nunmehr »AIDS« zu lesen.19

Die Bildsprache von Gran Fury und ACT UP wurde auch für Buttons und T-Shirts genutzt, um mit provokanten Slogans die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die weltweite AIDS-Epidemie zu lenken. Einige dieser Objekte befinden sich in der Sammlung von QWIEN, so etwa ein Shirt, das mit einem fluoreszierenden blassgrünen Winkel bedruckt ist. In diesen Winkel ist der Slogan »Fight AIDS, Not People with AIDS« eingeschrieben. In der deutschen Übersetzung wurde dieser Slogan zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember 1991 in einer nächtlichen Guerilla-Aktion in Wien plakatiert, vornehmlich im Umfeld des Naschmarkts, wo sich traditionell die meisten Homosexuellenlokale befanden. In fetter roter Schrift auf schwarzem Grund wandte sich das Plakat nicht nur an die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft, sondern auch an die schwule Community, in der Verunsicherung und Angst auch zu Ausschlusstendenzen gegenüber HIV-Positiven und AIDS-Kranken führten. Das Plakatsujet wurde zusätzlich auf der Rückseite der in der Rosa Lila Villa produzierten Zeitschrift tamtam veröffentlicht.20

Die Modeindustrie griff in den 1990er Jahren die HIV/AIDS-Thematik verstärkt auf, wie Alkis Vlassakakis erläutert, »weil einfach die Modeszene wahnsinnig betroffen war von der ganzen Geschichte. Erst mal die ganzen Leute, die dort gearbeitet haben, waren persönlich betroffen, weil viele der Kollegen und Kolleginnen schwul oder lesbisch sind, aber in erster Linie schwul sind. Die sind einfach der Reihe nach weggestorben damals.«21 Tatsächlich starben zu Beginn der 1990er Jahre mehrere Designer an der Immunschwächeerkrankung, wie beispielsweise der amerikanische Modeschöpfer Halston, der den Stil der Studio-54-Ära prägte oder Franco Moschino. Demnach liegt die Sozialwissenschaftlerin Veronika Haberler völlig richtig, wenn sie Mode als »Indikator von Zeit« beschreibt, die ausgehend von aktuellen Ereignissen und gesellschaftlichen Diskursen Themen wähle und ihnen Ausdruck verleihe.22 Da die Modebranche stark von AIDS und HIV betroffen war, wurde die Krankheit zum vieldiskutierten Problem und somit auch von unterschiedlichsten Modeschöpfer*innen aufgegriffen.

So lag es nahe, dass zwischen 1993 und 2019 Modeschauen bekannter Designer*innen und Labels zum zentralen Bestandteil der Life Balls wurden. Der Initiator der Veranstaltung Gery Keszler war unmittelbar betroffen. Keszler, der unter anderem in der Modemetropole Paris arbeitete, erzählte in unzähligen Interviews, dass er und sein Partner Torgom Petrosian, der zu diesem Zeitpunkt bereits an AIDS erkrankt war, aus der Modebranche große Unterstützung bei der Planung und Durchführung des Charity-Events bekommen haben. Jahre später, beim 23. Life Ball 2015, outete sich Keszler selbst, dass er 1993 einer der ersten HIV-Positiven in Österreich gewesen sei.23

Abb. 4: T-Shirt aus der Sammlung von QWIEN: »fight AIDS not people with AIDS« (um 1990).

Der Life Ball als mediale Inszenierung

Mit jedem Jahr wuchs das Interesse der Medien am Life Ball. Bei der fünften Ausgabe 1997 wurden über 450 Presseakkreditierungen ausgegeben und es waren sechs Radio- und zwanzig teils internationale TV-Sender anwesend. Erstmals wurden über fünf Millionen Schilling (über 600'000 Euro) an Spenden gesammelt.24 Da der Life Ball immer mehr internationales Celebrity-Publikum anzog und zahlreiche Prominente aus der Mode-, Kultur- und Musikbranche sowie heimische Politiker*innen als Models an der Modeschau mitwirkten, war das Interesse zumindest der Society-Redaktionen garantiert.

Für den Kommunikationswissenschaftler Roland Burkart ist der »news value« einer Meldung besonders hoch, wenn sie einfach ist, Identifikation erlaubt und eine Sensation darstellt.25 Nach diesem Schema hatte der Life Ball in der Tat einen hohen Nachrichtenwert. Die Identifikation mit den Medieninhalten spielte bei den Leser*innen, Hörer*innen und Zuschauer*innen zwar vermutlich eine eher untergeordnete Rolle. Die Botschaft war allerdings, zumindest in den Anfangsjahren, relativ simpel: Pass auf, AIDS ist eine potentiell tödliche Krankheit. Und der Sensationsfaktor steigerte sich mit der steigenden Promidichte von Jahr zu Jahr. So wurde es auch nahezu unmöglich, als österreichisches Medium nicht über den Life Ball zu berichten. Zwischen den Prominenten und der Anwesenheit der (internationalen) Presse bestand dabei eine Wechselwirkung. Je mehr Medienvertreter*innen anwesend waren, desto höher war das Aufkommen von Berühmtheiten und umgekehrt. So betonte Gery Keszler 2003 in einem Interview mit der Wiener Wochenzeitung Falter: »Wenn man weiß, dass CNN, BBC und Rai 1, 2 und 3 da sind, da wird das auch für die Designer interessant, sich monatelang Arbeit anzutun. Sie machen es selbstverständlich wegen Aids, das will niemand absprechen. Aber es ist sicher auch immer ein kommerzieller Hintergedanke dabei.«26

Abb. 5: Aufwändig gestaltete Einladung zum 7. Life Ball 1997 von Vivienne Westwood.

Auch 1997 berichteten alle großen österreichischen Tageszeitungen über den Life Ball und verwendeten vor allem Vivienne Westwoods Modeschau als Aufmacher. Der Standard titelte »Fünfter Life Ball im Wiener Rathaus zugunsten der Aidshilfe – Schrill, Schräg und Schottisch«,27 und der Falter widmete der Designerin ein ausführliches Portrait.28 Die Kronen Zeitung erwähnte neben Westwoods Showeinlage auch die Anwesenheit und Beteiligung von Falco, Viktor Klima, dem Schauspieler Frank Hoffmann, Samantha Fox, dem Model Marcus Schenkenberg und den Schauspielerinnen Ellen Umlauf, Brigitte Nielsen und Sonja Kirchberger.29 Die breite Berichterstattung ermöglichte, dass Informationen über HIV/AIDS an eine Öffentlichkeit herangetragen wurden, die für Präventionskampagnen nicht empfänglich waren – »weil die mediale Aufmerksamkeit […] durch diesen Promi-Auftrieb ermöglicht wurde«, wie Alkis Vlassakakis anmerkte. »Ich erinnere mich an […] ORF-Sendungen, Jugend-Sendungen, wo sie über [AIDS] jetzt geredet haben.«30

Die öffentliche Auseinandersetzung über die Übertragungswege durch gleichgeschlechtlichen Sex, auch durch medial vermittelte Veranstaltungen wie dem Life Ball, erhöhte die Sichtbarkeit homosexueller Lebensweisen. Sollten die Präventionsbotschaften ankommen, musste die Community offen angesprochen werden. Die Konzepte von »gemeindennaher (›community‹-bezogener) Prävention und Gesundheitsförderung« führten nach Darstellung der Soziologen Michael T. Wright und Rolf Rosenbrock zu einer

»Optimierung der Kommunikationsvoraussetzungen mit den Zielgruppen sowie innerhalb dieser Gruppierungen. Das schloss nicht nur eine Unvereinbarkeit zwischen öffentlicher Diskriminierung und glaubwürdig partnerschaftlicher Infektionsprävention mit den Zielgruppen ein, sondern führte logisch zu der Konsequenz, die Lebensweisen, Milieus und Strukturen der Zielgruppen als Kommunikationsmöglichkeiten zu erkennen und ggf. zu unterstützen (community building, community organizing).«31

In einem 2005 gehaltenen Vortrag präzisierte Rosenbrock die Funktion der Medien: Deren Erfolg bestand aus »einer gründlichen und ehrlichen Mobilisierung der Öffentlichkeit und insbesondere der wichtigsten Zielgruppen, in der Benutzung aller verfügbaren Kommunikationskanäle wie Massenmedien, Bildungswesen und Freizeitsektor, in der Einbeziehung der betroffenen Gruppen in den Entwurf und die Umsetzung der Präventionsstrategien«.32 Der Life Ball bot hierfür eine goldene Gelegenheit, weil Massenmedien zugegen waren, gleichgeschlechtliche Lebensweisen weitgehend positiv dargestellt wurden und die betroffenen Communities direkt involviert waren. Durch die breite Berichterstattung wurde ein Thema, das sonst nur in einer communitynahen Gegenöffentlichkeit kommuniziert worden wäre, in den sogenannten Mainstream katapultiert. Gegenöffentlichkeiten sind dabei als Teilöffentlichkeiten zu verstehen, deren Konstruktion sich aufgrund »sozialer Erfahrungen, sich überschneidender Handlungsräume oder geteilter Interessen [konstituiert], das heißt sie sind u. a. schicht-, generationen-, geschlechts- und kulturgebunden«.33 Sie versuchen durch die Artikulation alternativer Positionen die hegemoniale Öffentlichkeit zu erreichen.34 In der Gegenöffentlichkeit der Schwulen- und Lesbenbewegung trat man schon lange für die Anerkennung homosexueller Lebensweisen ein und ging gegen Diskriminierung vor, auch und besonders von AIDS-Kranken und HIV-Positiven. Der Life Ball bot diesen Positionen eine (neue) mediale Bühne, die über die eigenen Kanäle der Bewegung hinausging, national und später auch international.

Abb. 6: Rückseite der Zeitschrift tamtam mit der ersten Veröffentlichung des Slogans »Bekämpft AIDS nicht Menschen mit AIDS« (1991).

Die verstärkte mediale Auseinandersetzung mit AIDS/HIV in den 1990er Jahren beschleunigte die Normalisierung lesbischer und schwuler Lebensweisen. Beispielsweise nahmen politische Parteien wie das Liberale Forum, die Grünen und die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) Forderungen der Lesben- und Schwulenbewegung in ihre Programme auf.35 Die zunehmende Thematisierung in Fernsehtalkshows, aber auch öffentliche Großveranstaltungen wie die Regenbogenparade (ab 1996), führten zu einer höheren Akzeptanz von schwulen und lesbischen Lebensweisen in der Bevölkerung.36

Zugleich fand aber auch eine Kommerzialisierung statt, vor allem der schwulen Bewegung.37 Das war auch am Life Ball spürbar. Mit dem Wiener Rathaus als Veranstaltungsort versuchten die Initiatoren, AIDS in die politische Sphäre einzuschreiben. »Der Grundgedanke war ja, die Gastgeber, also die Politiker, müssen sich mit dem Thema auseinandersetzen, wenn das Ding in ihren Räumen und mit ihrer Unterstützung stattfindet«,38 erinnert sich Alkis Vlassakakis. Zugleich schuf man mit dem Life Ball ein Event, dessen Tickets teuer und dessen Gästeliste exklusiv war. Für Alkis Vlassakakis war das nicht an sich negativ, denn der kommerzielle Charakter der Veranstaltung half dabei, hohe Spendensummen zu erreichen. »Ganz zu Anfang, beim ersten Mal gab es diese massive Kritik von Leuten, die HIV-positiv waren, die gesagt haben: Der ist uns zu teuer, da können wir ja gar nicht hin. Und dann haben wir halt auch darüber reden müssen, dass wir sagen müssen: Liebe Leute, der ist nicht als Ball für euch, sondern das, was rauskommt ist für euch. Also das Rathaus hat nur beschränkt Plätze und wenn wir diese beschränkten Plätze gratis an euch abgeben, dann kommt weniger Geld rein, das wieder an euch fließen soll. Also ich bin […] schon sehr zufrieden, dass es kommerziell gewesen ist. […] Ja, ohne Kommerz wäre es nicht möglich gewesen.«

Abb. 7: Alljährlich zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember wird am Rathaus beim Eingang Lichtenfelsgasse der Red Ribbon gehisst.

Der Weg ins Archiv

Bleibt noch eine Frage offen: Wie schafften es die Anzüge von einer durchzechten Ballnacht in die Sammlung von QWIEN? Die ursprüngliche Idee, die Smokings zu versteigern und das Geld zu spenden, wurde rasch verworfen, denn »wer will sich denn sowas da hinstellen oder hinhängen?«39 Sie blieben mehrere Jahren in Holubs Werkstatt, bis sie das Paar bei einem Umzug vermutlich Anfang der 2010er Jahre mit anderen Objekten ins Archiv brachte: Auf die Frage, warum, antwortet Vlassakakis: »Was sollen sie denn bei uns hängen? […] Es ist ja ein Objekt und ich weiß, dass QWIEN eben auch Objekte will.« Holub pflichtet Vlassakakis bei und ergänzt: »Es ist ja auch ein Zeitdokument.«

Katharina Pagitz studiert den interdisziplinären Master Zeitgeschichte und Medien an der Universität Wien.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Zwei Smokings mit Message (1997), Wien: QWIEN Archiv, © Martin Kropfreiter.

Abb. 2: Widmung von Hunter Reynolds (1994), Wien: QWIEN Archiv, © Andreas Brunner.

Abb. 3: Drei Buttons »SILENCE = DEATH« (1990er Jahre), Wien: QWIEN Archiv, © Martin Kropfreiter.

Abb. 4: T-Shirt aus der Sammlung, Wien: QWIEN Archiv, © Foto Martin Kropfreiter.

Abb. 5: Aufwändig gestaltete Einladung zum 7. Life Ball 1997 von Vivienne Westwood, Wien: QWIEN Archiv, © Martin Kropfreiter.

Abb. 6: Rückseite der Zeitschrift tamtam Nr. 3/1991, Wien: QWIEN Archiv.

Abb. 7: Alljährlich zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember wird am Rathaus beim Eingang Lichtenfelsgasse der Red Ribbon gehisst, © PID/David Bohmann (2021).

Literatur
  1. 1

    Interview mit Alkis Vlassakakis und Peter Holub, geführt von Katharina Pagitz am 9. Dezember 2021.

  2. 2

    Peter Holub war in den 1970er und 1980er Jahren als in der schwulen Community bekannter Lederschneider tätig, beheimatete in seiner Werkstatt das NAMES Project (siehe Beitrag von Katharina Kühner und Andreas Brunner in diesem Band) und arbeitete als Kostümschneider für diverse Theater und Festspiele Österreichs (vgl. Interview mit Peter Holub für »Stonewall in Wien (1969–2009)«, https://www.youtube.com/watch?v=xG6_tEmIBaw). Alkis Vlassakakis ist freischaffender Medienkünstler und auch als Schauspieler vornehmlich für das queere Wiener Ensemble Nesterval tätig (vgl. »Alkis Vlassakakis«, http://alkis.at (2022)). Er engagiert sich politisch für die Grünen und war als Vorstand sowie im Kuratorium des Life Balls tätig.

  3. 3

    Galonstreifen sind Zierstreifen auf beiden Außennähten der Hosenbeine.

  4. 4

    Interview mit Alkis Vlassakakis und Peter Holub, geführt von Katharina Pagitz am 9. Dezember 2021.

  5. 5

    »History Life Ball«, in: LIFE, https://lifeplus.org/history/; »Von der Idee zum größten Aids-Charity der Welt«, in: Der Standard https://www.derstandard.at/story/1336696788502/20-jahre-life-ball-von-der-idee-zum-groessten-aids-charity-der-welt (14. Mai 2012).

  6. 6

    Gertrud Lehnert, Alicia Kühl, Katja Weise (Hg.): Modetheorie: Klassische Texte aus vier Jahrhunderten, Bielefeld: Transcript (2014), hier S. 37.

  7. 7

    Interview mit Alkis Vlassakakis und Peter Holub, geführt von Katharina Pagitz am 9. Dezember 2021.

  8. 8

    Yannick Loeppke: »Leder, Nieten, Kutte – Kleidung und nonkonformistischer Konformismus«, in: Nico Richter, Johannes Kopp (Hg): Entering the Battlefield: Eine ethnographische Annäherung an eine Musikszene, Wiesbaden: Springer (2020), S.135–154, hier S. 145.

  9. 9

    Otl Aicher: Die Welt als Entwurf, Berlin: Ernst & Sohn (2015), S. 126.

  10. 10

    Auf einem vom Künstler Hunter Reynolds eingerichteten Youtube-Kanal ist ein knapp 4-minütiges Video von der Erstpräsentation in Boston zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=IcI3h5oa1dw.

  11. 11

    Vgl. den Beitrag von Katharina Kührner und Andreas Brunner in diesem Band.

  12. 12

    G. Roger Denson: »Memento Mori, Memoriter: Gedenke des Todes, mit gutem Gedächtnis«, in: Hunter Reynolds: Patina du Prey’s Memorial Dress, Köln: Evangelischer Stadtkirchenverband (1994), S. 31–35, hier S. 33.

  13. 13

    Vivienne Westwood: »Two Cowboys« (1974–1975), Metropolitan Museum of Art New York, https://www.metmuseum.org/art/collection/search/789208. Vgl. »How the humble T-shirt became a fashion statement«, in: The Guardian (9. Februar 2018), https://www.theguardian.com/fashion/2018/feb/04/t-shirt-humble-fashion-statement-new-exhibition-london.

  14. 14

    Zur Bedeutung des rosa Winkels und seiner Aneignung durch die Schwulen- und AIDS-Bewegung, siehe den Beitrag von Sarah Kresser in diesem Band.

  15. 15

    Liam Hess: »A Brief History of the Political T-Shirt«, in: Dazed https://www.dazeddigital.com/fashion/article/39007/1/brief-history-of-political-t-shirt-westwood-katharine-hamnett-frank-ocean-che (13. Februar 2018).

  16. 16

    »How the Humble T-Shirt Became a Fashion Statement«, in: The Guardian (9. Februar 2018), https://www.theguardian.com/fashion/2018/feb/04/t-shirt-humble-fashion-statement-new-exhibition-london.

  17. 17

    Frank Wagner (Hg): Vollbild AIDS: Eine Kunst-Ausstellung über Leben und Sterben, Berlin: Neue Gesellschaft für bildende Kunst (1988).

  18. 18

    Bürgerinitiative Raschplatz e.V. (Hg.): Bilderschock: Öffentliche Kunst und AIDS, Hannover: Bürgerinitiative Raschplatz (1990); Kunstverein in Hamburg, Kunstmuseum Luzern (Hg.): Gegendarstellung: Ethik und Ästhetik im Zeitalter von AIDS, Hamburg: Kunstverein Hamburg (1992).

  19. 19

    General Idea (Hg.): Fin de Siècle, Stuttgart: Württembergischer Kunstverein (1992).

  20. 20

    »Bekämpft AIDS, nicht Menschen mit AIDS«, in: tamtam: Die Zeitung aus dem Lesben- und Schwulenhaus 1/3 (1991), U4. Noch immer findet sich dieser Slogan in der Öffentlichkeit, wenn die Wiener Antidiskriminierungsstelle für queere Lebensweisen ihn alljährlich zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember öffentlich anbringt – gemeinsam mit der roten Aidsschleife am Wiener Rathaus ein Symbol der Solidarität mit HIV-Infizierten und AIDS-Kranken. Vgl. »Frauenberger und Wehsely: Aids bekämpfen, nicht Menschen mit Aids«, https://www.wien.gv.at/presse/2012/11/30/frauenberger-und-wehsely-aids-bekaempfen-nicht-menschen-mit-aids (31. November 2012).

  21. 21

    Interview mit Alkis Vlassakakis und Peter Holub, geführt von Katharina Pagitz am 9. Dezember 2021.

  22. 22

    Veronika Haberler: Mode(n) als Zeitindikator: Die Kreation von textilen Modeprodukten: Wiesbaden: VS Research (2012), hier S. 80.

  23. 23

    Köksal Baltaci, Sabine Hottowy: »Keszler ist HIV-positiv: ›Ich war einer der ersten in Österreich‹«, in: Die Presse (16. Mai 2015), https://www.diepresse.com/4733016/keszler-ist-hiv-positiv-ich-war-einer-der-ersten-in-oesterreich.

  24. 24

    »Von der Idee zum größten Aids-Charity der Welt. 20 Jahre Life Ball« (o.V.), in: derStandard.at, https://www.derstandard.at/story/1336696788502/20-jahre-life-ball-von-der-idee-zum-groessten-aids-charity-der-welt (14. Mai 2012).

  25. 25

    Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft: Grundlagen und Problemfelder einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien, Köln: Böhlau (6. verbesserte und ergänzte Auflage 2021), S. 271.

  26. 26

    Christopher Wurmdobler: »Gute Nervensäge«, in: Falter (Nr. 21/03 2003), S. 72–73, hier S.72.

  27. 27

    Der Standard: »Schrill, Schräg und Schottisch«, in: Der Standard (12. Mai 1997), S. 7.

  28. 28

    Andrea Hurton: »Leben im eigenen Kopf«, in: Falter (Nr. 17/97 1997), S. 73.

  29. 29

    o.V.: »Das große Fest im Wiener Rathaus für den guten AIDS-Zweck«, in: Neue Kronen-Zeitung (12. Mai 1997), S. 23.

  30. 30

    Interview mit Alkis Vlassakakis und Peter Holub, geführt von Katharina Pagitz am 9. Dezember 2021.

  31. 31

    Michael T. Wright, Rolf Rosenbrock: »Aids – Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit«, in: Günter Albrecht, Axel Groenemeyer (Hg.): Handbuch soziale Probleme, Wiesbaden: Springer (2. überarbeitete Auflage 2012), S. 195–217, hier S. 208.

  32. 32

    Rolf Rosenbrock: »Aids-Prävention – eine Innovation in der Krise«, Vortrag August 2005, Online: http://www.forum-gesundheitspolitik.de/dossier/PDF/Rosenbrock-AIDS.pdf.

  33. 33

    Elisabeth Klaus: »Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozess und das Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit: Rückblick und Ausblick«, in: Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus (Hg.): Öffentlichkeiten und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse: Theoretische Perspektiven und empirische Befunde, Bielefeld: Transcript (2017), S. 17–38, hier S. 24.

  34. 34

    Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus: »Öffentlichkeit und Privatheit: Frauenöffentlichkeiten und feministische Öffentlichkeiten«, in: Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung:Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS (2010), S. 244–251, hier S. 244–246.

  35. 35

    Ulrike Repnik: Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich: Feministische Theorie, Wien: Milena (2006), S. 158.

  36. 36

    Andreas Brunner: »Sichtbar unter Unsichtbaren: Eine schwule Identität im Spiegel von Politik und Gesellschaft seit den 1970er-Jahren«, in: Farid Hafez (Hg.): Das andereÖsterreich: Leben in Österreich abseits männlich-weiß-heteronormativ-deutsch-katholischer Dominanz, Wien: new academic press (2021), S. 13–26, hier S. 25.

  37. 37

    Ulrike Repnik: Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich: Feministische Theorie, Wien: Milena (2006), S. 163.

  38. 38

    Interview mit Alkis Vlassakakis und Peter Holub, geführt von Katharina Pagitz am 9. Dezember 2021.

  39. 39

    Interview mit Alkis Vlassakakis und Peter Holub, geführt von Katharina Pagitz am 9. Dezember 2021.